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Chochmah 9 page
Hier geschieht nun noch etwas anderes – etwas Rätselhaftes, das einen der Punkte darstellte, die ich in meiner Dissertation aufklären sollte, wobei ich mich zwischen widersprüchlichen Quellen hin‑ und hergerissen sah: Kaum hat der Papst nach langen Bemühungen endlich die Aufsicht über die Templer erlangt, überstellt er sie wieder dem König. Ich habe nie begriffen, was da passiert ist. Molay widerruft sein Geständnis, Clemens bietet ihm Gelegenheit, sich zu verteidigen, und schickt drei Kardinale, ihn zu verhören. Am 26. November 1309 unternimmt Molay eine hochfahrende Verteidigung des Ordens und seiner Reinheit, wobei er sich bis zur Bedrohung der Ankläger steigert, dann wird er von einem Abgesandten des Königs aufgesucht, einem gewissen Guillaume de Plaisans, den er für seinen Freund hält, nimmt obskure Ratschläge entgegen und gibt am 28. desselben Monats eine sehr schüchterne und vage Erklärung ab: Er sei nur ein armer und ungebildeter Ritter, sagt er, und beschränkt sich darauf, die (inzwischen weit zurückliegenden) Verdienste des Tempelordens aufzuzählen, die Almosen, die er gegeben, den Blutzoll, den er im Heiligen Lande entrichtet habe, und so weiter. Obendrein kommt auch noch Nogaret und erinnert an die mehr als freundschaftlichen Kontakte, die der Orden mit Saladin gehabt habe – womit wir bei der Insinuation eines hochverräterischen Verbrechens wären. Molays Rechtfertigungen klingen peinlich, der Mann, der seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt, erscheint in dieser Aussage nur noch als Nervenbündel, aber als Nervenbündel hatte er sich auch schon gleich nach der Verhaftung gezeigt. In einer dritten Aussage, im März des folgenden Jahres, befolgt Molay eine andere Strategie: Er sage nichts und werde nichts sagen, außer vor dem Papst. Szenenwechsel, diesmal zum epischen Drama. Im April 1310 verlangen fünfhundertfünfzig Templer, zur Verteidigung ihres Ordens gehört zu werden, prangern die Foltern an, denen die Geständigen unterzogen worden sind, negieren und widerlegen alle Anklagepunkte als unhaltbare Verleumdungen. Doch der König und Nogaret verstehen ihr Handwerk. Einige Templer widerrufen? Um so besser, dann sind sie als Rückfällige und Meineidige zu betrachten – als relapsi, eine schreckliche Anklage in jenen Zeiten –, da sie hochmütig ableugnen, was sie bereits gestanden hatten. Vergeben kann man allenfalls dem, der gesteht und bereut, nicht aber dem, der keine Reue zeigt, da er sein Geständnis widerruft und meineidig sagt, er habe nichts zu bereuen. Vierundfünfzig meineidige Widerrufer werden zum Tode verurteilt. Die Reaktion der anderen Häftlinge kann man sich leicht vorstellen: Wer gesteht, bleibt am Leben, wenn auch im Gefängnis, und wer am Leben bleibt, kann noch hoffen. Wer nicht gesteht oder gar widerruft, kommt auf den Scheiterhaufen. Die fünfhundert noch lebenden Widerrufer widerrufen den Widerruf. Die Rechnung der Reumütigen geht auf, denn 1312 werden diejenigen, die nicht gestanden haben, zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, während die Geständigen freikommen. Philipp hatte kein Interesse an einem Massaker, er wollte nur den Orden zerschlagen. Die freigelassenen Ritter, nach vier bis fünf Jahren Gefängnis an Leib und Seele zermürbt, verschwinden still in anderen Orden, sie wollen nur noch vergessen werden, und dieses Verschwinden, diese Auslöschung wird noch lange auf der Legende vom heimlichen Überleben des Ordens lasten. Jacques de Molay verlangt weiter, vom Papst angehört zu werden. Clemens beruft ein Konzil ein, in Vienne anno 1311, jedoch ohne Molay einzuladen. Er sanktioniert die Auflösung des Ordens und weist dessen Güter den Johannitern zu, obwohl sie einstweilen noch vom König verwaltet werden. Drei Jahre vergehen, schließlich kommt es zu einer Verständigung zwischen König und Papst, und am 19. März Anno Domini 1314, in Paris auf dem Platz vor Notre‑Dame, wird Molay zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Als er das Urteil vernimmt, durchzuckt ihn ein jäher Anflug von Würde. Er hatte erwartet, dass der Papst ihm gestatten würde, sich zu rechtfertigen, er fühlt sich verraten. Er weiß genau, wenn er noch einmal widerruft, wird auch er ein meineidiger relapsus sein. Was geht in seinem Herzen vor, nach fast siebenjährigem Warten auf das Urteil? Findet er zum Mut seiner Vorgänger zurück? Beschließt er, dass er, zermürbt, wie er ist, und mit der Aussicht, seine Tage lebendig eingemauert und entehrt zu beenden, nun ebenso gut einen schönen Tod auf sich nehmen kann? Er beteuert seine und seiner Brüder Unschuld und sagt, die Templer hätten nur ein Delikt begangen: Sie hätten aus Feigheit den Tempel verraten. Er mache dabei nicht mit. Nogaret reibt sich die Hände: für öffentliches Vergehen öffentliche – und endgültige – Verurteilung, im Schnellverfahren. So wie Molay hatte sich auch Geoffroy de Charnay verhalten, der Präzeptor der Normandie. Der König entscheidet noch selbigen Tages: Ein Scheiterhaufen wird an der Spitze der Ile de la Cité errichtet. Bei Sonnenuntergang werden Molay und Charnay verbrannt. Nach der Überlieferung soll der Großmeister des Templerordens, ehe er starb, den Ruin seiner Verfolger prophezeit haben. Tatsächlich starben der Papst, der König und Nogaret noch im selben Jahre. Was Marigny betraf, so geriet er nach dem Tod des Königs in den Verdacht der Unterschlagung. Seine Feinde bezichtigten ihn der Hexerei und brachten ihn an den Galgen. Viele begannen, Molay als einen Märtyrer zu sehen. Dante hat den Unmut vieler Zeitgenossen über die Verfolgung der Templer zum Ausdruck gebracht. Hier endet die Historie und beginnt die Legende. In einem ihrer Kapitel heißt es, als Ludwig XVI. guillotiniert worden war, sei ein Unbekannter auf das Schafott gesprungen und habe gerufen:»Jacques de Molay, du bist gerächt!« Dies mehr oder minder war die Geschichte, die ich an jenem Abend bei Pilade erzählte, alle naselang unterbrochen von meinen Zuhörern. So fragte mich Belbo an einem bestimmten Punkt:»Also das... sind Sie sicher, dass Sie das nicht bei Orwell gelesen haben, oder bei Koestler?«Und an einem anderen:»Also das ist ja genau wie bei... na, wie heißt doch gleich der mit der Kulturrevolution?...«Diotallevi kommentierte dann jedes‑ mal sentenziös:»Historia magistra vitae«, worauf Belbo zu ihm sagte:»He, he, ein Kabbalist glaubt nicht an die Geschichte«, und er, unerschütterlich:»Eben, alles wiederholt sich im Kreise, die Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens, weil sie lehrt, dass sie nicht existiert. Jedoch die Permutationen zählen.« »Aber alles in allem«, sagte Belbo am Ende,»was waren denn nun diese Templer für Leute? Zuerst haben Sie sie uns wie Sergeanten in einem Film von John Ford vorgeführt, dann als Dreckschweine, dann wie Ritter in einer alten Miniatur, dann als Gottes eigene Bankiers, die ihren schmutzigen Geschäften nachgehen, dann wieder als eine geschlagene Armee, dann als Anhänger einer luziferischen Sekte und schließlich als Märtyrer des freien Denkens...Was waren sie?« »Es wird schon einen Grund dafür geben, dass sie zum Mythos geworden sind. Wahrscheinlich waren sie alles zugleich. Was war die katholische Kirche, könnte sich ein Historiker vom Mars im Jahre dreitausend fragen, wer waren die Christen? Die, die sich von den Löwen auffressen ließen, oder die, die die Ketzer erschlugen? Alles zugleich.« »Aber all diese schlimmen Sachen, die ihnen vorgeworfen wurden, hatten sie die nun getan oder nicht?« »Das Schöne ist, dass ihre eigenen Anhänger, ich meine die Neotempler diverser Epochen, diese Frage bejahen. Rechtfertigungen gibt es viele. Erste These: es handelte sich um Mutproben – nach dem Motto: Willst du ein Templer sein, dann zeig uns, dass du ein Kerl bist, spuck aufs Kruzifix, und wir werden ja sehen, ob Gottes Blitzschlag dich trifft; wenn du in diesen Orden eintrittst, musst du dich mit Haut und Haaren den Brüdern verschreiben, also lass dich auf den Hintern küssen. Zweite These: sie wurden aufgefordert, Christus zu verleugnen, damit man sah, wie sie sich verhalten würden, wenn sie den Sarazenen in die Hände fielen. Eine idiotische These, finde ich, denn man bringt nicht jemandem bei, der Folter zu widerstehen, indem man ihn genau das tun lässt, wenn auch nur symbolisch, was der Folterer von ihm verlangen wird. Dritte These: die Templer im Orient waren mit manichäischen Ketzern in Berührung gekommen, die das Kreuz verachteten, weil es das Werkzeug der Folter des Herrn war, und die predigten, man müsse der Welt entsagen und auf Ehe und Nachkommenschaft verzichten. Eine alte Idee, typisch für viele Häresien in den ersten Jahrhunderten, die später auch bei den Katharern wieder auftaucht – und es gibt eine ganze Richtung der Tradition, nach der die Templer zutiefst vom Katharismus durchtränkt waren. Das würde auch die Sodomie erklären, selbst wenn sie nur symbolisch war. Nehmen wir an, die Ritter sind mit diesen Häretikern in Berührung gekommen: sie waren gewiss keine Intellektuellen; ein bisschen aus Naivität, ein bisschen aus Snobismus und Korpsgeist bastelten sie sich eine private Folklore zusammen, die sie von anderen Kreuzfahrern unterschied. Sie praktizierten ihre Riten als Erkennungsgesten, ohne sich groß zu fragen, was sie bedeuteten.« »Und der Baphomet?« »Sehen Sie, in vielen Aussagen ist zwar von einer figura Baphometi die Rede, aber es könnte sich auch um einen Fehler des ersten Schreibers handeln, der sich dann in allen Dokumenten wiederholt hat, zumal wenn die Protokolle manipuliert worden sind. In anderen Fällen spricht manchmal jemand von Mohammed (istud caput vester deus est, et vester Mahumet – dieser Kopf ist euer Gott und euer Mohammed), und das würde bedeuten, dass die Templer sich eine synkretistische Liturgie zurechtgemacht hatten. In einigen Aussagen heißt es auch, sie seien aufgefordert worden, ›Yalla‹ anzurufen, was Allah gewesen sein muss. Aber die Muslime verehren keine Bildnisse von Mohammed, also wer könnte dann sonst die Templer beeinflusst haben? In den Aussagen heißt es, viele hätten diese Köpfe gesehen, und manchmal ist es anstatt eines Kopfes sogar ein ganzes Götzenbild, aus Holz, mit Kraushaar, vergoldet, und immer mit Bart. Es scheint, dass die Inquisitoren einige dieser Köpfe gefunden und den Verhörten gezeigt haben, aber am Ende ist keine Spur von ihnen geblieben, alle haben sie gesehen, keiner hat sie gesehen. Wie die Geschichte mit der Katze: die einen haben eine graue gesehen, die anderen eine rote, die dritten eine schwarze. Aber stellen Sie sich ein Verhör mit glühenden Eisen vor: Hast du während deiner Initiation eine Katze gesehen? Sicher, wieso auch nicht, auf einem Templergut mit all den Vorräten, die es vor Mäusen zu schützen galt, muss es von Katzen gewimmelt haben. Damals war die Katze in Europa noch nicht sehr verbreitet als Haustier, aber in Ägypten schon. Wer weiß, vielleicht haben sich die Templer zu Hause Katzen gehalten, entgegen den Gebräuchen der braven Leute, die Katzen als verdächtige Tiere ansahen. Und so kann es auch mit den Baphomet‑Köpfen gewesen sein, vielleicht waren es Reliquiare in Form eines Kopfes, das gab es damals. Natürlich gibt es auch Leute, die behaupten, der Baphomet sei eine alchimistische Figur gewesen.« »Die Alchimie ist immer im Spiel«, sagte Diotallevi mit Überzeugung.»Wahrscheinlich kannten die Templer das Geheimnis, wie man Gold macht.« »Sicher kannten sie es«, sagte Belbo.»Man stürmt eine sarazenische Stadt, schlachtet Frauen und Kinder ab und rafft alles zusammen, was man kriegen kann... In Wahrheit ist das Ganze eine ziemlich krause Geschichte.« »Vielleicht hatten sie auch ein krauses Durcheinander in ihren Köpfen, verstehen Sie? Was kümmerten sie die doktrinären Debatten? Die Geschichte ist voll von Geschichten solcher Eliten, die sich ihren eigenen Stil zurechtbosselten, ein bisschen großmäulig, ein bisschen mystisch, sie wussten selber nicht recht, was sie taten... Natürlich gibt es dann auch die esoterische Deutung: Sie wussten sehr genau, was sie taten, sie wussten alles, sie waren Jünger der orientalischen Mysterien, und sogar der Arschkuss hatte einen initiatischen Hintersinn.« »Erklären Sie mir mal ein bisschen, was der Arschkuss für einen initiatischen Hintersinn hatte«, sagte Diotallevi. »Gewisse moderne Esoteriker behaupten, die Templer hätten sich auf indische Lehren berufen. Der Kuss auf den Hintern habe dazu gedient, die Schlange Kundalini zu wecken, eine kosmische Kraft, die an der Wurzel des Rückgrats sitze, in den Geschlechtsdrüsen, und die, wenn sie einmal geweckt worden sei, die Zirbeldrüse erreiche... « »Die von Descartes?« »Ja, ich glaube, und da sollte sie dann in der Stirn ein drittes Auge öffnen, das Auge der direkten Sicht in Zeit und Raum. Deswegen sucht man noch heute nach dem Geheimnis der Templer.« »Philipp der Schöne hätte lieber die modernen Esoteriker verbrennen sollen, anstatt diese armen Teufel.« »Ja, aber die modernen Esoteriker haben keinen Pfennig.« »Da sehen Sie mal, was für Geschichten man noch zu hören bekommt«, schloss Belbo.»Jetzt verstehe ich endlich, warum diese Templer so vielen von meinen Irren im Kopf herumspuken.« »Ich glaube, das Ganze ist ein bisschen wie Ihre Geschichte von gestern Abend. Ein krauser, verdrehter Syllogismus. Benimm dich wie ein Dummer, und du wirst undurchschaubar für alle Ewigkeit. Abrakadabra, Mene Tekel Upharsin, Pape Satan Pape Satan Aleppe, le vierge le vivace et le bel aujourd'hui – jedes Mal wenn ein Dichter, ein Prediger, ein Potentat oder Magier irgendein bedeutungsloses Gekrächze von sich gegeben hat, verbringt die Menschheit Jahrhunderte damit, seine Botschaft zu ergründen. Die Templer bleiben unergründlich wegen der Konfusion, die in ihren Köpfen herrschte. Deswegen werden sie von so vielen verehrt.« »Eine positivistische Erklärung«, sagte Diotallevi. »Ja, vielleicht bin ich ein Positivist«, sagte ich.»Mit einer kleinen chirurgischen Operation an der Zirbeldrüse hätten die Templer leicht Johanniter werden können, also normale Menschen. Der Krieg zerstört die Gehirnkreisläufe, muss der Kanonendonner sein, oder das griechische Feuer. Sehen Sie sich die Generäle an.« Es war ein Uhr nachts. Diotallevi schwankte, betrunken vom Tonicwater. Wir verabschiedeten uns. Ich hatte mich gut unterhalten. Und sie auch. Wir wussten noch nicht, dass wir begonnen hatten, mit dem griechischen Feuer zu spielen, das brennt und verzehrt.
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Erars de Syverey me dist:»Sire, se vous cuidiés que je ne mi hoir n’eussiens reprouvier, je vous iroie querre secours au conte d’Anjou, que je voi là en mi les chans.«Et je li dis:»Mes sires Erars, il me semble que vous feriés vostre grant honour, se vous nous aliés querre aide pour nos vies sauver; car la vostre est bien en avanture.« (Erard de Siverey sprach zu mir:»Sire, so Ihr dafür Sorge traget, dass weder ich noch mein Erbe dadurch Unehre haben, werde ich hingehen, um Euch Hilfe zu holen vom Grafen Anjou, den ich dort inmitten der Felder sehe.«Und ich sprach zu ihm:»Messire Erard, mir scheint, Ihr werdet Euch große Ehre machen, so Ihr hingehet, um Hilfe zu holen für unser Leben, denn das Eure ist gar sehr gefährdet.)
Joinville, Histoire de Saint Louis, 46, 226
Nach dem Abend der Templer hatte ich mit Belbo nur flüchtige Gespräche in der Bar, in die ich immer seltener ging, da ich an meiner Dissertation arbeitete. Eines Tages war eine große Demonstration gegen die neofaschistischen Putschkomplotte angesetzt, die an der Universität beginnen sollte und zu der, wie damals üblich, alle antifaschistischen Intellektuellen aufgerufen waren. Großes Polizeiaufgebot, aber wie es schien, war man übereingekommen, die Sache laufen zu lassen. Typisch für jene Zeiten: eine nicht genehmigte Demonstration, aber solange nichts Schlimmes passierte, würde die Ordnungsmacht sich damit begnügen, zuzuschauen und aufzupassen, dass die Linke (damals gab es viele territoriale Kompromisse) gewisse Grenzen nicht überschritt, die ideell durch das Zentrum von Mailand gezogen waren. Im südlichen Teil der Altstadt dominierte die Protestbewegung, jenseits des Largo Augusto und in der ganzen Zone um Piazza San Babila hielten sich die Faschisten auf. Wenn jemand die Grenze übertrat, gab es Zwischenfälle, aber sonst passierte nichts, wie zwischen Dompteur und Löwe. Wir glauben gewöhnlich, dass der Dompteur vom wütenden Löwen angegriffen wird, den er dann bändigt, indem er die Peitsche schwingt oder einen Pistolenschuss abgibt. Irrtum: der Löwe ist schon satt und mit Drogen besänftigt, wenn er in die Arena kommt, und will niemanden angreifen. Wie jedes Tier hat er rings um sich eine bestimmte Sicherheitszone, außerhalb welcher passieren kann, was will, ohne dass er sich rührt. Wenn der Dompteur einen Fuß in die Zone des Löwen setzt, faucht der Löwe, dann hebt der Dompteur die Peitsche, aber in Wirklichkeit macht er einen Schritt rückwärts (als nähme er Anlauf zu einem Sprung), und der Löwe beruhigt sich wieder. Eine simulierte Revolution muss ihre eigenen Regeln haben. Ich war zu der Demonstration gegangen, aber ohne mich einer bestimmten politischen Gruppe anzuschließen. Ich blieb am Rande, auf der Piazza Santo Stefano, wo sich die Unorganisierten trafen, Zeitungs‑ und Verlagsleute, Intellektuelle und Künstler, die gekommen waren, ihre Solidarität zu beweisen. Die ganze Blase aus Pilades Bar. Unversehens fand ich mich neben Belbo. Er war in Begleitung einer Frau, mit der ich ihn öfter in der Bar gesehen hatte, sodass ich annahm, sie wäre seine Freundin (sie verschwand später – heute weiß ich warum, nachdem ich die Geschichte in dem file über Doktor Wagner gelesen habe). »Sie auch hier?«, fragte ich. »Was wollen Sie?«Er lächelte verlegen.»Man muss doch was für sein Seelenheil tun. Crede firmiter et pecca fortiter... (Glaube fest und sündige kräftig …) Erinnert Sie diese Szene hier nicht an etwas?« Ich sah mich um. Es war ein sonniger Nachmittag, einer von jenen Tagen, an denen Mailand schön ist, mit seinen gelben Fassaden unter einem zart metallblauen Himmel. Die Polizei vor uns war eingepanzert in ihren Helmen und Schilden aus Plastik, die stählern zu schimmern schienen, während ein Kommissar in Zivil, aber mit einer grellen Trikolorenschärpe um den Leib, die Front der Seinen abschnitt. Ich blickte hinter mich auf die Spitze des Zuges: die Demonstranten hatten sich in Bewegung gesetzt, aber gemessenen Schrittes, die Reihen waren dicht, aber unregelmäßig, fast Serpentinen, die Masse erschien wie stachelborstig mit ihren Fahnen, Standarten, Stangen und Transparenten. Ungeduldige Grüppchen stimmten rhythmische Sprechchöre an. Längs der Flanken des Zuges patrouillierten die sogenannten Katangas, vermummte Kämpfer mit roten Tüchern vor dem Gesicht, knallbunten Hemden und breiten nägelbeschlagenen Gürteln über Jeans, die durch alle Winde und Wetter gegangen waren; auch die langen Schlagstöcke, die sie in der Hand trugen, getarnt als zusammengerollte Fahnen, erschienen wie Elemente einer Palette, ich dachte unwillkürlich an Dufy und seine heiteren Farben. Von Dufy kam ich per Assoziation auf Guillaume Dufay. Ich hatte den Eindruck, in einer alten Miniatur zu leben, unter den Neugierigen am Straßenrand glaubte ich ein paar Damen zu sehen, androgyne Gestalten, die auf das große Fest der Kühnheit warteten, das ihnen verheißen war... All dies schoss mir blitzartig durch den Sinn, ich hatte irgendwie ein Gefühl von deja vu, als erblickte ich etwas Altbekanntes, nur wusste ich nicht, was es war. »Ist das nicht die Einnahme von Askalon?«, fragte Belbo. »Bei Gott und Messire Saint‑Jacques!«, rief ich aus.»Sie haben recht, es ist wirklich das Kreuzfahrerheer! Ich bin sicher, dass einige von diesen heute Abend im Paradies sein werden!« »Ja«, sagte Belbo,»die Frage ist nur, auf welcher Seite die Sarazenen sind.« »Die Polizei ist teutonisch«, stellte ich fest,»so teutonisch, dass wir die Horden von Alexander Newski sein könnten, aber vielleicht bringe ich meine Texte durcheinander. Sehen Sie dort die Gruppe, das müssen die Mannen des Grafen Artois sein, sie beben vor Kampfeslust, denn unerträglich ist ihnen die Schmach, schon gehen sie mit Drohgebrüll auf die Feinde los.« In diesem Moment passierte der Zwischenfall. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, der Zug hatte sich voranbewegt, eine Gruppe von Aktivisten mit Fahrradketten und Gesichtsmützen hatte angefangen, die Front der Polizei einzudrücken, um zur Piazza San Babila durchzubrechen, aggressive Sprechchöre brüllend. Der Löwe regte sich, und diesmal mit einer gewissen Entschiedenheit. Die vordere Reihe der Front tat sich auf, und es erschienen die Wasserwerfer. Aus den Vorposten des Zuges flogen die ersten Steine, die ersten Stahlkugeln schwirrten, ein Trupp Polizisten stürmte brutal prügelnd in die Menge, und der Zug begann zu wanken. In diesem Moment ertönte von Weitem, hinten aus der Via Laghetto, ein Schuss. Vielleicht war's nur ein geplatzter Reifen, vielleicht ein Knallfrosch, vielleicht war's ein echter Pistolenschuss, abgefeuert von einem jener»Autonomen«, die ein paar Jahre später regelmäßig die P38 benutzen sollten. Panik brach aus. Die Polizei blies zum Angriff, die Demonstranten teilen sich in die Kämpfer, die den Waffengang annahmen, und die anderen, die ihre Aufgabe für beendet ansahen. Ich fand mich unter Letzteren, rannte Hals über Kopf die Via Larga hinunter in der panischen Angst, von irgendeinem Schlägertrupp gefasst zu werden, in wessen Auftrag auch immer. Plötzlich sah ich neben mir Belbo mit seiner Gefährtin. Sie liefen schnell, aber ohne Panik. An der Ecke der Via Rastrelli packte mich Belbo am Arm und rief.»Hier lang, junger Mann!«Ich wollte ihn fragen, warum, die Via Larga schien mir bequemer und belebter, und als wir in das Labyrinth der Gässchen zwischen der Via Pecorari und dem erzbischöflichen Ordinariat eindrangen, packte mich die Klaustrophobie. Mir schien, dass es dort, wo Belbo mich hinführte, viel schwieriger sein würde, mich zu tarnen, falls irgendwo Polizisten auftauchen sollten. Doch er bedeutete mir zu schweigen, bog um zwei, drei Ecken, immer langsamer laufend, und so gelangten wir schließlich in ruhiger Gangart, ohne zu rennen, an die Rückseite des Doms, wo der Verkehr normal war und keine Echos der Schlacht hindrangen, die kaum zweihundert Meter entfernt von uns tobte. Wir gingen schweigend um den Dom und erreichten die Vorderfront auf der Seite der Galleria. Belbo kaufte ein Säckchen Körner und begann in seraphischer Ruhe die Tauben zu füttern. Wir waren vollständig untergetaucht in der samstäglichen Menge, Belbo und ich in Jackett und Krawatte, seine Begleiterin in der Uniform der gepflegten Mailänderin, grauer Rollkragenpullover mit Perlenkette, ob echt oder nicht. Belbo stellte sie mir vor:»Das ist Sandra, kennt ihr euch?« »Vom Sehen. Hallo.« »Schauen Sie, Casaubon«, erklärte er mir dann,»wenn man fliehen muss, läuft man nie in gerader Linie davon. Nach dem Beispiel der Savoyer in Turin hat Napoleon III. das alte Paris ›entkernt‹ und mit einem Netz von Boulevards überzogen, das alle seither als ein Meisterwerk an urbanistischer Weitsicht bewundern. Aber die geraden Straßen dienen zur besseren Kontrolle der aufständischen Massen. Wenn möglich, siehe die Champs‑Élysées, müssen auch die Seitenstraßen breit und gerade sein. Wo das nicht möglich war, wie in den engen Gassen des Quartier Latin, hat der Mai 68 sein Bestes gegeben. Wenn man wegläuft, versteckt man sich in die schmalen Gassen. Keine Ordnungsmacht der Welt kann sie alle kontrollieren, und auch die Bullen haben Angst, in kleinen Gruppen da reinzugehen. Wenn man zweien alleine begegnet, haben sie meistens mehr Angst als man selber, und in stiller Übereinkunft machen sich beide Seiten in der Gegenrichtung aus dem Staub. Wenn man an einer Massenkundgebung teilnehmen will und die Gegend nicht gut kennt, macht man am Tag davor eine kleine Ortsbesichtigung, und dann stellt man sich an die Ecke, wo die engen Gassen beginnen.« »Haben Sie einen Kurs in Bolivien gemacht?« »Die Überlebenstechniken lernt man nur als Kind, es sei denn, man meldet sich zu den Green Berets. Ich habe die schlimmen Jahre, die des Partisanenkriegs, in *** verbracht«– er nannte mir ein piemontesisches Städtchen zwischen dem Monferrat und in Nordhängen des ligurischen Apennins.»Ein wahrer Glücksfall für einen, der im Herbst 43 aus der Stadt evakuiert worden war, der richtige Ort und die richtige Zeit, um alles zu genießen: die Razzien, die SS, die Schießereien auf den Straßen... Ich erinnere mich, wie ich eines Abends auf den Hügel stieg, um frische Milch vom Bauern zu holen, da höre ich plötzlich über mir so ein Sirren zwischen den Baumwipfeln: frr, frrr. Ich begreife, dass sie von einer Anhöhe weiter oben auf die Eisenbahnlinie schießen, die hinter mir unten durchs Tal läuft. Der instinktive Reflex ist, wegzulaufen oder sich auf den Boden zu werfen. Ich mache einen Fehler, laufe talwärts, und plötzlich höre ich aus den Feldern um mich herum ein tschak tschak tschak. Es waren die Einschläge der zu kurz geratenen Schüsse, die nicht bis zur Bahnlinie gelangten. Mir wird klar, dass ich, wenn sie von hoch oben ins Tal runterschießen, nach oben weglaufen muss: je höher ich gelangen desto höher fliegen mir die Geschosse über den Kopf. Meine Großmutter hatte einmal, als sie mitten in eine Schießerei zwischen Faschisten und Partisanen geraten war, die sich aus den Waldrändern rechts und links von ihr über ein Maisfeld hinweg beschossen, eine großartige Idee: da sie auf jeder der beiden Seiten riskierte, von einer verirrten Kugel getroffen zu werden, warf sie sich mitten auf dem Feld zu Boden, genau zwischen den beiden Linien. So blieb sie zehn Minuten lang liegen, mit dem Gesicht nach unten, in der Hoffnung, dass die beiden Linien nicht zu weit vorrückten. Es ging gut... Sehen Sie, wenn man diese Dinge als Kind gelernt hat, behält man sie in den Reflexen.« »Dann waren Sie also bei der Resistenza?« »Als Zuschauer«, sagte er, und ich spürte eine leichte Verlegenheit in seinem Ton.»1943 war ich elf Jahre alt, am Ende des Krieges gerade dreizehn. Zu jung, um aktiv teilzunehmen, alt genug, um alles genau zu verfolgen, mit der Aufmerksamkeit eines Fotografen, würde ich sagen. Aber was konnte ich tun? Nur hingehen und gucken. Und weglaufen, so wie heute.« »Jetzt könnten Sie's erzählen, statt die Bücher anderer zu redigieren.« »Ist schon alles erzählt worden, Casaubon. Wenn ich damals zwanzig gewesen wäre, hätte ich in den fünfziger Jahren Erinnerungspoesie geschrieben. Zum Glück bin ich zu spät geboren, als ich hätte schreiben können, blieb mir nichts anderes übrig, als die schon geschriebenen Bücher zu lesen. Auf der anderen Seite hätte ich auch mit einer Kugel im Kopf in den Hügeln enden können.« »Auf welcher Seite?«, fragte ich, schämte mich aber dann.»Entschuldigen Sie, das war ein dummer Witz.« »Nein, das war kein dummer Witz. Sicher, heute weiß ich es, aber eben erst heute. Wusste ich's damals? Wissen Sie, dass man sein Leben lang von Gewissensbissen geplagt sein kann, nicht weil man die falsche Seite gewählt hat – das könnte man ja wenigstens noch bereuen –, sondern weil man außerstande war, sich selbst zu beweisen, dass man nicht die falsche Seite gewählt hätte... Ich war potenziell ein Verräter. Welches Recht hätte ich heute, irgendeine Wahrheit zu schreiben und sie anderen beizubringen?« »Also hören Sie«, sagte ich,»potenziell hätten Sie auch ein Ungeheuer wie Jack the Ripper werden können, aber Sie sind es nicht geworden. Das sind doch Neurosen! Oder haben Sie irgendwelche konkreten Anhaltspunkte für Ihre Gewissensbisse?« Date: 2015-12-13; view: 392; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ |