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Chochmah 11 page
»Nein, bitte nicht«, sagte Belbo.»Fahren wir fort.« »Eh bien. Wie jeder weiß, verließ zwei Tage, bevor Philipp den Haftbefehl erteilte, also einen Monat, bevor die Verhaftung erfolgte, ein Heuwagen, von zwei Ochsen gezogen, mit unbekanntem Ziel den Tempelbezirk von Paris. Auch Nostradamus spricht davon in einer seiner Centuries...«Der Oberst suchte nach einer Seite in seinem Manuskript: Souz la pasture d'animaux ruminant par eux conduits au ventre herbipolique soldats cachés, les armes bruit menant...
(Unter dem Futter von wiederkäuenden Tieren, von ihnen gezogen zum herbipolischen Bauch, Soldaten verborgen, die Waffen schon klirrend...)
»Der Heuwagen ist eine Legende«, sagte ich,»und ich würde Nostradamus nicht als Autorität in Sachen Geschichtsschreibung nehmen.«»Bedeutend ältere Leute als Sie, junger Mann, haben vielen Prophezeiungen des Nostradamus Glauben geschenkt. Andererseits bin ich nicht so naiv, die Heuwagengeschichte wörtlich zu nehmen. Sie ist ein Symbol. Das Symbol für die evidente und gesicherte Tatsache, dass Jacques de Molay in Voraussicht der bevorstehenden Verhaftung das Kommando und die geheimen Instruktionen an seinen Neffen übertrug, den Grafen von Beaujeu, der daraufhin zum verborgenen Oberhaupt des nun verborgenen Tempelordens wurde.« »Gibt es dafür geschichtliche Dokumente?« »Die offizielle Geschichte«, lächelte bitter der Oberst,»ist die von den Siegern geschriebene. Nach der offiziellen Geschichte sind Männer wie ich nicht existent. Nein, unter der Sache mit dem Heuwagen verbirgt sich etwas anderes. Der geheime Kern des Ordens begab sich in ein ruhiges Zentrum und begann, von dort aus sein klandestines Netz zu spinnen. Von dieser Evidenz bin ich ausgegangen. Seit Jahren, schon seit der Zeit vor dem Kriege habe ich mich immer wieder gefragt wo diese Brüder im Heroismus geblieben sein mochten. Als ich mich dann ins Privatleben zurückzog, beschloss ich, endlich nach einer Spur zu suchen. In Frankreich war die Flucht mit dem Heuwagen erfolgt, in Frankreich also musste ich nach dem Ort der Gründungsversammlung des klandestinen Kerns suchen. Aber wo?« Er hatte Sinn für Theatralik. Belbo und ich wollten nun wissen, wo. Wir fanden kein besseres Mittel, als zu sagen:»Sagen Sie's!« »Ich sage es. Woher kamen die Templer? Woher stammte ihr Gründer Hugo von Payns? Aus der Champagne, aus der Nähe von Troyes. Und in der Champagne regierte Graf Hugo de Champagne, der ihn wenige Jahre nach der Gründung, 1125, in Jerusalem traf. Dann kam er nach Hause zurück und setzte sich, wie es scheint, mit dem Abt von Citeaux in Verbindung, dem er half, in seinem Kloster die Lektüre und die Übersetzung bestimmter hebräischer Texte zu initiieren. Denken Sie nur, die Rabbiner aus der Haute Bourgogne werden nach Citeaux eingeladen, zu den weißen Benediktinern, und von wem? Vom heiligen Bernhard, zum Studium wer weiß welcher Texte, die Hugo in Palästina gefunden hat. Und Hugo offeriert den Mönchen Bernhards einen Wald bei Bar‑sur‑Aube, wo dann Clairvaux entstehen wird. Und was macht Bernhard?« »Er wird zum Cheftheoretiker der Templer«, sagte ich. »Er unterstützt sie, jawohl. Und warum? Wissen Sie, dass er die Templer mächtiger als die Benediktiner werden lässt? Dass er den Benediktinern verbietet, Ländereien und Häuser als Geschenk anzunehmen, und dann die Ländereien und Häuser den Templern geben lässt? Haben Sie je den Forêt d'Orient bei Troyes gesehen? Ein riesiges Waldgebiet mit einer Burg nach der andern. Und derweilen kämpfen die Ritter in Palästina gar nicht mehr, wissen Sie das auch? Sie installieren sich im Tempel zu Jerusalem, und statt die Muselmänner zu töten, schließen sie mit ihnen Freundschaft. Sie nehmen Kontakt zu ihren Eingeweihten auf. Kurz gesagt, Bernhard von Clairvaux, finanziell unterstützt vom Grafen der Champagne, gründet einen Orden, der sich im Heiligen Land mit den arabischen und jüdischen Geheimsekten in Verbindung setzt. Eine unbekannte Führung plant die Kreuzzüge, um den Orden gedeihen zu lassen, nicht umgekehrt, und sie stellt ein Machtgefüge dar, das sich der königlichen Jurisdiktion entzieht... Eh bien, ich bin kein Mann der Wissenschaft, ich bin ein Mann der Tat. Statt lange Vermutungen anzustellen, tat ich, was all die wortreichen Gelehrten nie getan haben. Ich bin dorthin gegangen, woher die Templer kamen und wo sie zweihundert Jahre lang ihre Basis hatten, wo sie sich bewegen konnten wie die Fische im Wasser...« »Der Große Vorsitzende Mao lehrt, dass die Revolutionäre sich im Volk bewegen müssen wie die Fische im Wasser«, sagte ich. »Bravo Ihrem Großen Vorsitzenden. Die Templer, die eine weit größere Revolution planten als Ihre bezopften Kommunisten...« »Sie tragen keine Zöpfe mehr.« »Nein? Um so schlimmer für sie. Die Templer, sagte ich, konnten nicht anders als Zuflucht in der Champagne suchen. Aber wo dort? In Payns? In Troyes? Im Wald von Orient? Nein. Payns war und ist ein kleines Nest, und damals war es bestenfalls eine Burg. Troyes war eine Stadt, da gab es zu viele Leute des Königs. Der Wald, templerisch per Definition, war der erste Ort, wo die Garden des Königs nach ihnen suchen würden, wie sie es dann ja auch taten. Nein: Provins, sagte ich mir. Wenn es einen sicheren Ort gab, dann war es Provins!«
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Könnten wir mit dem Auge ins Innere der Erde eindringen und von Pol zu Pol sehen, oder von unseren Füßen bis zu den Antipoden, wir würden mit Schrecken eine über und über von Rissen und Höhlen durchlöcherte Masse erblicken. Thomas Burnet, Telluris Theoria Sacra, Amsterdam, Wolters, 1694, p. 38
»Wieso Provins?« »Nie in Provins gewesen? Magischer Ort, man spürt es noch heute, gehen Sie mal hin. Magischer Ort, noch immer ganz von Geheimnis durchweht. Im elften Jahrhundert ist er der Sitz des Grafen der Champagne, und er bleibt noch lange ein freies Gebiet, in dem die Zentralmacht nichts zu melden hat. Die Templer sind dort zu Hause, noch heute heißt eine Straße nach ihnen. Kirchen, Paläste, eine Burg, die das ganze Umland beherrscht. Und Geld, Händler, Märkte, ein Gewimmel, in dem man leicht untertauchen kann. Aber vor allem, seit prähistorischen Zeiten, Höhlen. Ein Netz von Höhlen und Gängen, das sich unter dem ganzen Hügel hinzieht, regelrechte Katakomben, einige davon können Sie noch heute besichtigen. Orte, in denen man sich ungesehen treffen kann, und selbst wenn die Feinde eindringen, können sich die Verschwörer in wenigen Sekunden zerstreuen, Gott weiß wohin, und wenn sie die Gänge gut kennen, sind sie schon irgendwo raus und auf der anderen Seite wieder rein, auf lautlosen Katzenpfoten, und fallen von hinten über die Invasoren her, um sie im Dunkeln niederzumachen. Bei Gott, ich versichere Ihnen, meine Herren, diese Höhlen scheinen wie gemacht für Kommandounternehmen, zack zack, schnell wie der Blitz hineingeschlüpft, das Messer zwischen den Zähnen, in jeder Hand eine Bombe, und die andern hingemacht in ihrer Mausefalle, bei Gott!« Seine Augen funkelten.»Begreifen Sie, was für ein fabelhaftes Versteck Provins sein kann? Ein Untergrund wie geschaffen für heimliche Treffen, und von den Einheimischen macht keiner den Mund auf. Gewiss, die Männer des Königs kommen auch nach Provins, verhaften die Templer, die sich an der Oberfläche zeigen, und bringen sie nach Paris. Reynaud de Provins wird gefoltert, aber er schweigt. Nach dem geheimen Plan, das ist klar, musste er sich fangen lassen, damit man glaubte, Provins sei gesäubert worden, aber zugleich musste er ein Signal aussenden: Provins hält stand. Provins, der Ort der neuen unterirdischen Templer... Höhlen und Gänge, die von Haus zu Haus fuhren, man tritt wie von ungefähr in einen Kornspeicher, und heraus kommt man in einer Kirche. Höhlen, die mit Säulen und Gewölben ausgebaut sind, jedes Haus in der Stadt hat noch heute einen Keller mit Spitzbogengewölben, es werden mehr als hundert sein, jeder Keller, was sage ich, jeder unterirdische Saal war der Eingang zu einem der Höhlengänge.« »Vermutungen«, sagte ich. »Nein, junger Mann. Beweise. Sie haben die Höhlen von Provins nicht gesehen. Säle und Säle, im Innern der Erde, voller Wandzeichnungen. Die meisten finden sich in den Seitenhöhlen, den Lateralalveolen, wie die Höhlenforscher sie nennen. Es sind hieratische Darstellungen druidischen Ursprungs. Aus der Zeit vor der Ankunft der Römer. Cäsar ist dort vorbeigekommen, und dort unten planten die Gallier den Widerstand, den Zauber, den Hinterhalt. Und dann gibt's da auch die Symbole der Katharer, jawohl, meine Herren, die Katharer waren nicht nur im Süden, die im Süden wurden vernichtet, die in der Champagne haben insgeheim überlebt und sich hier versammelt, in diesen Katakomben der Ketzerei. Einhundertdreiundachtzig sind oben verbrannt worden, und die anderen haben unten überlebt. In den Chroniken werden sie bougres et manichéens genannt und wie sich's trifft, die bougres waren die Bogomilen, Katharer bulgarischer Herkunft, sagt Ihnen das Wort bougre im Französischen nichts? Anfangs bedeutete es Sodomit, weil man behauptete, die bulgarischen Katharer hätten dieses kleine Laster... «Der Oberst lachte ein bisschen gezwungen.»Und wer wurde nun desselben kleinen Lasters bezichtigt? Sie, die Templer! Kurios, nicht wahr?« »Bis zu einem gewissen Punkt«, sagte ich.»Wer damals einen Ketzer erledigen wollte, beschuldigte ihn der Sodomie...« »Gewiss, und denken Sie nicht, ich dächte, die Templer hätten... Ich bitte Sie, das waren Kriegsmänner, uns Kriegsmännern gefallen die schönen Frauen. Ob mit oder ohne Gelübde, ein Mann ist ein Mann. Ich habe das hier nur erwähnt, weil ich nicht glaube, dass es ein Zufall ist, wenn katharische Häretiker in einem Templermilieu Zuflucht fanden, und in jedem Fall hatten die Templer von ihnen gelernt, wie man sich im Untergrund bewegt.« »Aber letzten Endes«, sagte Belbo,»sind das alles doch Hypothesen...« »Ausgangshypothesen. Ich habe Ihnen nur dargelegt, warum ich darauf verfallen bin, Provins zu erkunden. Kommen wir nun zu der eigentlichen Geschichte. Im Zentrum von Provins gibt es ein großes gotisches Gebäude, die Grange‑aux‑Dimes, das ist der Kornspeicher, in dem man den Zehnten einlagerte, und Sie wissen, dass eines der Privilegien der Templer darin bestand, den Zehnten direkt eintreiben zu dürfen, ohne dem Staat etwas dafür zu schulden. Unter diesem Speicher, wie überall, ein Netz von Gängen, heute in sehr schlechtem Zustand. Nun also, während ich in den Archiven von Provins suche, fällt mir eine Lokalzeitung von 1894 in die Hände. Darin wird berichtet, dass zwei Dragoner, die Chevaliers Camille Laforge aus Tours und Edouard Ingolf aus Petersburg (sic, aus Petersburg), einige Tage zuvor die Grange besichtigt hätten, mit einem Wärter, und dabei auch in einen der unterirdischen Säle hinabgestiegen seien, im zweiten Stock unter der Erde, wo dann der Wärter, um ihnen zu zeigen, dass es darunter noch weitere Stockwerke gebe, mit dem Fuß aufgestampft habe, so dass man es dröhnen hörte. Der Chronist lobt die kühnen Dragoner, die sich nun mit Laternen und Seilen versahen, in wer weiß welche Höhlen eindrangen wie Kinder in ein Bergwerk und sich auf allen Vieren durch mysteriöse Gänge zwängten. Schließlich gelangten sie, sagt die Zeitung, in einen großen Saal mit einem schönen Kamin und einen Brunnen in der Mitte. Sie ließen ein Seil mit einem Stein hinab und entdeckten, dass der Brunnen elf Meter tief war... Eine Woche später kamen sie mit stärkeren Seilen wieder, und während die anderen beiden das Seil hielten, ließ sich Ingolf in den Brunnen hinab und entdeckte eine große Kammer mit gemauerten Wänden, zehn mal zehn Meter groß und fünf Meter hoch. Nacheinander stiegen auch die anderen hinab und stellten fest, dass sie sich im dritten Untergeschoss befanden, dreißig Meter unter der Erde. Was die drei dort unten taten, ist nicht bekannt. Der Chronist gesteht, dass er, als er sich an Ort und Stelle begeben hatte, um die Sache nachzuprüfen, nicht den Mut fand, sich in den Brunnen abzuseilen. Die Geschichte erregte mich, und so beschloss ich, den Ort zu besichtigen. Doch seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts sind viele unterirdische Gänge zusammengestürzt, und wenn dieser Brunnen auch existiert haben mag, weiß heute niemand mehr, wo er sich befindet. Mir schoss durch den Kopf, dass die Dragoner dort unten etwas gefunden haben könnten. Gerade in jenen Tagen hatte ich ein Buch über das Geheimnis von Rennes‑le‑Château gelesen, auch so eine Geschichte, in der die Templer eine gewisse Rolle gespielt haben. Ein kleiner Landpfarrer ohne einen Pfennig und ohne Zukunft, der sich in einem Dorf von zweihundert Seelen eine alte Kirche restaurieren will, hebt im Chorboden eine Steinplatte ab und findet darunter ein Etui mit uralten Handschriften, sagt er. Nur mit Handschriften? Man weiß nicht genau, was passiert, aber in den folgenden Jahren wird er unendlich reich, wirft mit vollen Händen um sich, lebt in Saus und Braus, kommt vor ein Kirchengericht... Und wenn nun einem jener Dragoner oder beiden etwas Ähnliches passiert wäre? Ingolf steigt als erster hinunter, findet ein kostbares Objekt in handlichen Dimensionen, versteckt es unter der Jacke, steigt wieder hinauf und sagt den zwei anderen nichts... Kurzum, ich bin ein Dickkopf, und wäre ich keiner, ich hätte ein anderes Leben geführt.«Der Oberst fuhr sich mit einem Finger über die Narbe. Dann hob er die Hände an die Schläfen und ließ sie rechts und links bis in den Nacken gleiten, um sich des ordnungsgemäßen Zustandes seiner Frisur zu versichern. »Nun, ich fahre also nach Paris, gehe zur Post und suche alle Telefonbücher Frankreichs nach einer Familie Ingolf durch. Ich finde nur eine, in Auxerre, und schreibe, ich sei ein Privatgelehrter, der sich für archäologische Dinge interessiere. Zwei Wochen später erhalte ich Antwort von einer alten Wäscherin: sie sei die Tochter jenes Ingolf und würde gern wissen, warum ich mich für ihn interessierte, ja ob ich um Gottes willen womöglich etwas von ihm wüsste... Ich sagte ja, dass da ein Geheimnis lag. Ich eilte sofort nach Auxerre, das Fräulein Ingolf lebt in einem ganz mit Efeu zugewachsenen Häuschen mit einem hölzernen Gartentürchen, das nur mit einem Bindfaden und einem Nagel verschlossen ist. Ein bejahrtes Fräulein, reinlich und nett, nicht sehr gebildet. Fragt mich gleich, was ich von ihrem Vater wisse, und ich sage ihr, ich wisse nur, dass er eines Tages in einen unterirdischen Raum in Provins hinabgestiegen sei und dass ich eine historische Studie über jene Gegend schriebe. Sie fällt aus allen Wolken, nie gehört, dass ihr Vater je in Provins gewesen war. Gewiss, er sei bei den Dragonern gewesen, aber er habe den Dienst schon anno 95 quittiert, noch vor ihrer Geburt. Er habe dann jenes Häuschen in Auxerre gekauft und drei Jahre später ein Mädchen aus dem Ort geheiratet, das ein paar Ersparnisse hatte. Die Mutter sei dann 1915 gestorben, als sie, die Kleine, erst fünf Jahre alt war. Was den Vater betreffe, der sei 1935 verschwunden. Ja, buchstäblich verschwunden. Er sei nach Paris gefahren, wie er es mindestens zweimal im Jahr gemacht habe, und seither habe sie nichts mehr von ihm gehört. Die lokale Gendarmerie habe nach Paris telegrafiert: nichts, in Luft aufgelöst. Vermutlich tot. Und so war unser Fräulein allein geblieben und hatte angefangen zu arbeiten, weil mit dem väterlichen Erbe nicht viel los war. Offenbar hatte sie keinen Mann gefunden, und aus den Seufzern zu schließen, die sie an dieser Stelle ausstieß, muss es da eine Geschichte gegeben haben, die einzige in ihrem Leben, und die endete offenbar schlecht. ›Und dann immer mit dieser Angst, Monsieur Ardenti, mit diesen andauernden Gewissensbissen, nichts über den armen Papa zu wissen, nicht mal wo sein Grab ist, wenn er überhaupt irgendwo eins hat!‹ Sie hatte Lust, über ihn zu sprechen: er sei so zärtlich gewesen, so ruhig, methodisch und so gebildet. Er habe die Tage oben in seinem kleinen Mansardenzimmer verbracht, mit Lesen und Schreiben. Sonst nur ein bisschen Gartenarbeit und ein paar Schwätzchen mit dem Apotheker – auch der längst gestorben. Ab und zu, wie gesagt, eine Reise nach Paris, in Geschäften, wie er sich ausgedrückt habe. Aber er sei jedes Mal mit einem Päckchen Bücher zurückgekommen. Das Zimmer sei noch ganz voll davon, ob ich's mal sehen wollte? Wir stiegen hinauf. Eine aufgeräumte und saubere Kammer, in der die gute Mademoiselle Ingolf immer noch einmal wöchentlich Staub wischte, sagte sie, der Mama könne sie ja wenigstens noch Blumen ans Grab bringen, aber für den Papa könne sie nur das tun. Alles sei noch so, wie er es verlassen habe, sie hätte ja gerne studiert, um all diese Bücher lesen zu können, aber es seien lauter Sachen in altfranzösisch, lateinisch, deutsch und sogar russisch, weil doch der Papa in Russland geboren war und dort die Kindheit verbracht hatte, er war der Sohn eines Beamten der französischen Botschaft gewesen. Die Bibliothek enthielt etwa hundert Bände, die meisten davon (und ich frohlockte) über den Templerprozess, zum Beispiel die Monumens historiques relatifs à la condamnation des Chevaliers du Temple von Raynouard, 1813, eine antiquarische Kostbarkeit. Viele Bände über Geheimschriften, eine richtige Kryptologensammlung, einige über Paläografie und Diplomatik. Es gab auch ein Kontobuch mit alten Haushaltsrechnungen, und als ich es durchblätterte, fand ich eine Notiz, die mich hochzucken ließ: sie betraf den Verkauf eines Etuis, ohne weitere Angaben und ohne den Namen des Käufers. Es waren keine Zahlen genannt, aber das Datum war 1895, und sofort danach folgten präzise Summen, das Hauptbuch eines klugen Mannes, der seine Ersparnisse mit Umsicht verwaltet. Einige Einträge über den Kauf von Büchern bei Pariser Antiquaren. Mit einmal wurde mir klar, wie die Sache gelaufen sein musste: Ingolf fand in der Höhle ein goldenes Etui, besetzt mit Edelsteinen, steckte es sich ohne lange zu überlegen in die Tasche, stieg wieder hinauf und sagte kein Wort zu seinen Kameraden. Zu Hause öffnete er das Etui und fand darin ein Pergament. Er fuhr nach Paris, kontaktierte einen Antiquar, einen Halsabschneider, einen Sammler, und verschaffte sich durch den Verkauf des Etuis, wenn auch unter Preis, ein kleines Vermögen. Aber er tat noch mehr, er quittierte den Dienst, zog sich aufs Land zurück und fing an, sich Bücher zu kaufen und das Pergament zu studieren. Vielleicht hatte er schon den Schatzsucher in sich, sonst wäre er nicht in den Untergrund von Provins gestiegen, vielleicht hatte er genügend Bildung, um zu beschließen, dass er seinen Fund allein entziffern könnte. Er arbeitete in aller Ruhe, ohne sich zu hetzen, als guter Monomane, mehr als dreißig Jahre lang. Erzählte er jemandem von seinem Fund? Wer weiß. Tatsache ist, dass er 1935 glaubte, am richtigen Punkt angelangt zu sein, oder auch an einem toten Punkt, denn nun beschloss er, sich an jemanden zu wenden, entweder um ihm zu sagen, was er wusste, oder um sich von ihm sagen zu lassen, was er nicht wusste. Aber das, was er wusste, muss etwas so Geheimes und Schreckliches gewesen sein, dass der, dem er davon erzählte, ihn verschwinden ließ... Doch zurück zu der Mansarde. Erst einmal musste ich sehen, ob Ingolf nicht irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. So sagte ich zu der guten Mamsell, vielleicht würde ich, wenn ich die Bücher ihres Herrn Vaters durchsähe, eine Spur von seiner Entdeckung in Provins finden und könnte ihn dann in meiner Studie ausführlich würdigen. Sie war begeistert, der arme Papa, sagte sie, natürlich, ich könne den ganzen Nachmittag bleiben und wenn nötig auch am nächsten Tag wiederkommen, sie brachte mir Kaffee, machte mir Licht an und ließ mich allein. Das Zimmer hatte glatte weiße Wände, nirgends waren Kommoden, Kästen, Truhen oder dergleichen, in denen man suchen konnte, aber ich vernachlässigte nichts, schaute unter, auf und in die wenigen Möbel, in einen fast leeren Kleiderschrank, in dem es nach Mottenpulver roch, schaute hinter die drei, vier Bilder mit Landschaftsdrucken. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, ich sage nur, dass ich gut gearbeitet habe, das Sofapolster muss nicht nur abgetastet werden, man muss auch Nadeln hineinstechen, um zu horchen, ob sie nicht auf Fremdkörper stoßen...« Ich begriff, dass der Oberst nicht nur auf Schlachtfeldern Dienst getan hatte. »Blieben die Bücher, auf jeden Fall war es gut, mir die Titel zu notieren und nachzusehen, ob nicht irgendwo Randnotizen waren, Unterstreichungen, irgendein Hinweis... Schließlich zog ich einen schweren alten Band etwas ungeschickt aus dem Regal, er fiel zu Boden, und heraus flatterte ein handgeschriebenes Blatt. Das Papier und die Tinte sahen nicht sehr alt aus, es konnte gut in Ingolfs letzten Lebensjahren geschrieben sein. Rasch überflog ich es, gerade lange genug, um am oberen Rand zu lesen: ›Provins 1894.‹ Sie können sich meine Erregung vorstellen, die Flut von Gefühlen, die mich bestürmten... Mir wurde klar, dass Ingolf mit dem originalen Pergament nach Paris gefahren war und dies die Kopie sein musste. Ich zögerte nicht. Das Fräulein Ingolf hatte die Bücher ihres Vaters jahrelang abgestaubt, ohne je dieses Blatt zu bemerken, andernfalls hätte sie mir davon erzählt. Eh bien, sie würde auch weiterhin nichts davon wissen. Die Welt teilt sich in Sieger und Besiegte. Ich hatte meinen Anteil an Niederlagen reichlich gehabt, jetzt musste ich den Sieg beim Schopfe ergreifen. Ich steckte das Papier in die Tasche. Der Alten sagte ich zum Abschied, ich hätte leider nichts Interessantes gefunden, hätte aber ihren Herrn Vater gerne zitiert, wenn er etwas geschrieben hätte, und sie segnete mich. Meine Herren, ein Mann der Tat, durchglüht von einer Passion wie der meinen, darf sich nicht allzu viel Skrupel machen angesichts der Misere eines ohnehin vom Schicksal geschlagenen Wesens.« »Rechtfertigen Sie sich nicht«, sagte Belbo.»Sie haben es getan. Jetzt reden Sie.« »Jetzt zeige ich Ihnen den Text. Sie werden mir gestatten, Ihnen eine Fotokopie vorzulegen. Nicht aus Misstrauen. Nur um das Original nicht der Abnutzung auszusetzen.« »Aber es war doch nicht das Original«, sagte ich.»Es war doch Ingolfs Kopie eines angeblichen Originals.« »Junger Mann, wenn das Original nicht mehr existiert, ist die letzte Kopie das Original.« »Aber Ingolf könnte doch falsch abgeschrieben haben.« »Sie wissen nicht, ob es so ist. Ich aber weiß, dass Ingolfs Abschrift die Wahrheit sagt, denn ich sehe nicht, wie die Wahrheit anders sein könnte. Ergo ist Ingolfs Kopie das Original. Sind wir uns darüber einig, oder wollen wir hier intellektuelle Spielchen anfangen?« »Die hasse ich«, sagte Belbo.»Also zeigen Sie uns Ihre originale Kopie.«
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Seit Beaujeu hat der Orden nie einen Augenblick aufgehört zu bestehen, und seit Aumont kennen wir eine ununterbrochene Folge der Großmeister des Ordens bis auf unsere Tage, und wenn der Name und die Residenz ebenso wie der Rang des wahren Großmeisters und der wahren Oberen, die den Orden regieren und die erhabenen Werke leiten, heute ein Geheimnis ist, welches, nur den wahrhaft Erleuchteten bekannt, in undurchdringlichem Dunkel bewahrt wird, so weil die Stunde des Ordens noch nicht gekommen und die Zeit noch nicht erfüllt ist... Handschrift um 1760, in G. A. Schiffmann, Die Entstehung der Rittergrade in der Freimaurerei um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Leipzig, Zechel, 1882, p. 178‑190
Es war unser erster Kontakt mit dem Plan. An jenem Tag vor über zwölf Jahren hätte ich auch woanders sein können. Wäre ich an jenem Tag damals nicht in Belbos Büro gewesen, dann wäre ich jetzt... Ja was? Sesamsamenverkäufer in Samarkand? Herausgeber einer Taschenbuchreihe in Blindenschrift? Direktor der First National Bank in Franz‑Joseph‑Land? Die sogenannten»kontrafaktischen«Konditionalsätze sind immer wahr, weil die Prämisse falsch ist. Doch an jenem Tag war ich in Belbos Büro, und deswegen bin ich nun da, wo ich bin. Mit theatralischer Geste hatte der Oberst uns das Blatt präsentiert. Ich habe es noch hier zwischen meinen Papieren, in einer Klarsichtfolie, noch grauer und verblasster, als es schon damals war, bei dem schlechten Xeroxpapier jener Jahre. In Wirklichkeit waren es zwei Texte, ein dicht gedrängter, der die obere Hälfte der Seite bedeckte, und ein lückenhafter in verstümmelten Zeilen. Der erste Text war eine Art dämonischer Litanei, wie eine Parodie auf altsemitische Sprachen: Kuabris Defrabax Rexulon Ukkazaal Ukzaab Urpaefel Taculbain Habrak Hacoruin Maquafel Tebrain Hmcatuin Rokasor Himesor Argaabil,Kaquaan Docrabax Reisaz Reisabrax Decaiquan Oiquaquil Zaitabor Quaxaop Dugraq Xaelobran Disaeda Magisuan Raitak Huidal Uscolda Arabaom Zipreus Mecrim Cosmae Duquifas Rocarbis »Nicht sehr klar«, bemerkte Belbo. »Nein, nicht wahr?«, sagte der Oberst maliziös.»Und ich hätte mein Leben lang vergeblich darüber gebrütet, wenn ich nicht eines Tages zufällig an einem Bouquinistenstand ein Buch über Trithemius gefunden hätte und wenn mein Blick, als ich zerstreut darin blätterte, nicht zufällig auf eine chiffrierte Botschaft gefallen wäre: ›Pamersiel Oshurmy Delmuson Thafloyn...‹ Ich hatte eine Spur gefunden, und die wollte ich nun bis ans Ende verfolgen. Trithemius war für mich ein Unbekannter, aber in Paris fand ich eine Ausgabe seiner Steganografie, boc est ars per occultam scripturam animi sui voluntatem absentibus aperiendi certa, Frankfurt 1606. Die Kunst, durch okkulte Schriften die eigene Seele den Abwesenden zu öffnen. Faszinierender Kerl, dieser Trithemius. Benediktinerabt in Spannheim, auf der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert, ein Gelehrter, der Hebräisch und Chaldäisch konnte, dazu orientalische Sprachen wie das Tatarische; stand in Verbindung mit Theologen, Kabbalisten, Alchimisten, sicher mit dem großen Cornelius Agrippa von Nettesheim und vielleicht auch mit Paracelsus... Er tarnt seine Enthüllungen über Geheimschriften mit nekromantischen Possen, sagt zum Beispiel, man müsse chiffrierte Botschaften absenden von der Sorte, die Sie vor Augen haben, und der Empfänger müsse dann Engel anrufen wie Pamersiel, Padiel, Dorothiel und so weiter, die ihm dann helfen würden, den wahren Sinn der Botschaft zu verstehen. Aber die Beispiele, die Trithemius bringt, sind oft militärische Botschaften, und das Buch ist dem Pfalzgrafen Herzog Philipp von Bayern gewidmet und stellt eines der ersten Beispiele ernsthafter kryptografischer Arbeit dar, wie sie heute von den Geheimdiensten betrieben wird.« »Entschuldigen Sie«, sagte ich,»aber wenn ich recht verstehe, hat dieser Trithemius mindestens hundert Jahre nach der Abfassung dieses Textes gelebt...« »Trithemius war Mitglied einer Sodalitas Celtica, in der man sich mit Philosophie, Astrologie und pythagoreischer Mathematik befasste. Sehen Sie den Zusammenhang? Die Templer sind ein initiatischer Orden, der sich unter anderem auf die Weisheit der alten Kelten beruft, das ist inzwischen erwiesene Tatsache. Auf die eine oder andere Weise erlernt Trithemius dieselben kryptografischen Systeme, die auch schon von den Templern benutzt worden sind.« »Beeindruckend«, sagte Belbo.»Und was sagt nun diese geheime Botschaft?« »Gemach, meine Herren. Trithemius präsentiert vierzig größere und zehn kleinere Kryptosysteme. Ich hatte Glück, beziehungsweise die Templer von Provins hatten sich nicht allzu viel Mühe gegeben, wohl in der Gewissheit, dass ohnehin niemand ihren Schlüssel erraten würde. Ich probierte sofort das erste der vierzig größeren Kryptosysteme, das heißt, ich ging von der Hypothese aus, dass in diesem Text nur die Anfangsbuchstaben zählen.« Date: 2015-12-13; view: 436; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ |