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Chochmah 6 page





»Das Denken als die kohärente Form der Dummheit.«

»Nein, die Dummheit eines Denkens ist die Inkohärenz eines anderen Denkens.«

»Tiefer Gedanke. Schon zwei, gleich macht Pilade zu, und wir sind noch nicht bei den Irren.«

»Bin schon da. Den Irren erkennt man sofort. Er ist ein Dummer, der sich nicht verstellen kann. Der Dumme versucht seine These zu beweisen, er hat eine schräge Logik, aber er hat eine. Der Irre dagegen kümmert sich nicht um Logik, er operiert mit Kurzschlüssen. Alles beweist für ihn alles. Der Irre hat eine fixe Idee und sieht sie durch alles, was er findet, bestätigt. Den Irren erkennt man an der Freiheit, die er sich gegenüber der Beweispflicht nimmt, an der Bereitschaft, überall Erleuchtungen zu finden. Und es mag Ihnen komisch vorkommen, aber der Irre zieht früher oder später immer die Templer aus dem Hut.«

»Immer?«

»Es gibt auch Irre ohne Templer, aber die mit Templern sind die gefährlichsten. Man erkennt sie nicht gleich, es scheint erst, als redeten sie ganz normal, dann aber, plötzlich...«Er machte Anstalten, noch einen Whisky zu bestellen, überlegte sich's aber dann anders und bat um die Rechnung.»Apropos Templer, vorgestern kam ein Typ zu mir und hat mir ein Manuskript zum Thema gebracht. Ich glaube wirklich, er ist ein Irrer, aber mit menschlichem Antlitz. Das Manuskript fängt ganz harmlos an. Wollen sie mal einen Blick reinwerfen?«

»Gern. Vielleicht finde ich da irgendwas drin, was mir nützt.«

»Glaube ich kaum. Aber wenn Sie mal eine halbe Stunde Zeit haben, kommen Sie doch auf einen Sprung rüber. Via Sincero Renata eins. Wird mir mehr nützen als Ihnen. Sagen Sie mir gleich, ob Ihnen die Arbeit seriös vorkommt.«

»Wieso vertrauen Sie mir?«

»Wer sagt, dass ich Ihnen vertraue? Aber wenn Sie kommen, vertraue ich Ihnen. Ich vertraue der Neugier.«

Ein Student kam hereingestürmt mit verzerrtem Gesicht:»Genossen! Draußen sind die Faschisten im Anmarsch. Mit Fahrradketten!«

»Ich hau sie in Klump«, schrie der Typ mit Tatarenschnauzer, der mich wegen Lenin bedroht hatte.

»Los, Genossen!«Alle rannten hinaus.

»Was ist? Gehen wir nicht mit?«fragte ich schuldbewusst.

»Nein«, sagte Belbo.»Das sind Gerüchte, die Pilade in Umlauf setzt, um das Lokal leer zu kriegen. Für den ersten Abend, seit ich nicht mehr trinke, fühl ich mich ganz schön bedudelt. Müssen die Entzugserscheinungen sein. Alles, was ich Ihnen gesagt habe, bis zu diesem Moment inklusive, ist falsch. Gute Nacht, Casaubon.«

 

11

 

 

Seine Unfruchtbarkeit war unendlich: sie hatte teil an der Ekstase.

E. M. Cioran, Le mauvais démiurge, Paris, Gallimard, 1969 Erwürgte Gedanken«)

 

Das Gespräch bei Pilade hatte mir Belbos Außenseite gezeigt. Ein guter Beobachter hätte den melancholischen Charakter seines Sarkasmus wahrnehmen können. Ich kann nicht behaupten, er sei eine Maske gewesen. Maske waren vielleicht die Vertraulichkeiten, zu denen er sich im geheimen hinreißen ließ. Sein öffentlich vorgezeigter Sarkasmus enthüllte im Grunde seine wahrste Melancholie, die er im geheimen vor sich selbst zu verbergen suchte, indem er sie mit einer manierierten Melancholie maskierte.

Ich lese diesen Text wieder, den ich unter seinen files gefunden habe, und sehe nun, dass er darin im Grunde das, was er mir am nächsten Tag bei Garamond über seinen Beruf sagen sollte, romanhaft auszuspinnen versuchte. Alles finde ich darin wieder: seine Akribie, seine Leidenschaft, die Enttäuschung des Lektors, der durch Mittelspersonen schreibt, die Sehnsucht nach einer Kreativität, die er nie verwirklichen konnte, die moralische Strenge, die ihn zwang, sich selbst zu bestrafen, weil er etwas begehrte, worauf er kein Recht zu haben meinte, indem er von seinem Begehren ein pathetisches Kitschgemälde entwarf. Nie zuvor bin ich einem begegnet, der sich selber mit solcher Verachtung bemitleiden konnte.

Filename: Surabaya‑Jim

 

Morgen Gespräch mit dem jungen Cinti.

1. Schöne Monografie, streng geschrieben, vielleicht ein bisschen zu akademisch.

2. Am genialsten im Schlusskapitel der Vergleich zwischen Catull, den poetae novi und den modernen Avantgarden.

3. Warum nicht als Einleitung?

4. Muss ihn dazu überreden. Er wird sagen, solche haltlosen Spekulationen gehörten sich nicht für eine philologische Reihe. Er muss auf seinen Lehrer Rücksicht nehmen, sonst bekommt er von ihm kein Vorwort und riskiert seine Karriere. Eine brillante Idee auf den letzten zwei Seiten geht unbemerkt durch, am Anfang springt sie zu sehr ins Auge und kann die Päpste der Zunft irritieren.


5. Aber man braucht sie nur kursiv zu setzen, in Form einer lockeren Vorrede außerhalb der eigentlichen Untersuchung, dann bleibt die Hypothese bloß eine Hypothese, ohne die Seriosität der Arbeit zu kompromittieren. Die Leser jedoch sind sofort gefesselt, sie lesen das Buch unter einem anderen Blickwinkel.

Aber dränge ich ihn damit wirklich zu einem Akt der Befreiung, oder benutze ich ihn bloß, um mein eigenes Buch zu schreiben?

Mit zwei Worten ganze Bücher verändern. Demiurg am Werk anderer sein. Statt weichen Ton zu kneten, kleine Schläge auf den hart gewordenen Ton, aus dem ein anderer schon seine Statue geformt hat. Moses den richtigen Schlag mit dem Hammer versetzen, und er wird sprechen.

Gespräch mit William S.

– Ich habe Ihre Arbeit gelesen, nicht schlecht. Das Stück hat Spannung, Fantasie, Dramatik. Ist es Ihr erster Schreibversuch?

– Nein, ich habe schon eine andre Tragödie geschrieben, die Geschichte zweier Liebender in Verona, die...

– Gut, aber sprechen wir jetzt von dieser Arbeit, Herr S. Ich frage mich, warum Sie die Geschichte in Frankreich spielen lassen. Wieso nicht in Dänemark? Ich meine ja nur, das würde doch nicht viel Arbeit machen, es genügt, ein paar Namen zu ändern, aus dem Château de Chalons‑sur‑Marne wird, sagen wir, das Schloss Helsingør... Ich finde, in einem nordischen, protestantischen Klima, wo der Geist Kierkegaards umgeht, würden all diese existenziellen Fragen...

– Nun ja, vielleicht haben Sie recht.

– Ja, ich glaube wirklich. Und dann brauchte Ihr Stück noch ein paar dramatische Straffungen, nur da und dort noch eine Retusche, wie wenn der Friseur die letzten Härchen im Nacken stutzt, bevor er Ihnen den Spiegel hinhält...

– Zum Beispiel der Geist des Vaters. Wieso erst am Ende? Ich würde ihn gleich am Anfang auftreten lassen. Sodass die Mahnung des Vaters sofort das ganze Verhalten des jungen Prinzen bestimmt und ihn in Konflikt mit der Mutter bringt.

– Keine schlechte Idee, ich brauchte bloß eine Szene zu verschieben.

– Genau. Und schließlich der Stil. Greifen wir eine beliebige Stelle heraus, hier, diese zum Beispiel, wo der junge Prinz an die Rampe tritt und mit seiner Meditation über Aktivität und Passivität beginnt. Die Stelle ist wirklich schön, aber mir fehlt noch die rechte Spannung, das geht noch zu wenig unter die Haut:»Handeln oder nicht handeln? Das ist hier meine angstvolle Frage! Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder...«Wieso meine angstvolle Frage? Ich würde ihn sagen lassen, das ist hier die Frage, dies ist das Problem, verstehen Sie, nicht sein individuelles Problem, sondern die Grundfrage des Daseins überhaupt. Die Alternative ist eher, um es mal so zu sagen, die zwischen Sein und Nichtsein...


Die Welt bevölkern mit Kindern, die unter anderen Namen leben, und niemand weiß, dass sie deine sind. Als wäre man Gott in Zivil. Du bist Gott, du gehst durch die Stadt, hörst die Leute von dir reden, Gott hier und Gott da, und was für ein wunderbares Universum, und wie elegant die universale Schwerkraft, und du lächelst in deinen Bart (du musst dir einen Bart ankleben, um unter die Leute zu gehen, oder nein, keinen Bart, am Bart erkennen sie dich sofort), und du sagst zu dir selbst (der Solipsismus Gottes ist dramatisch):»Ha, all das habe ich geschaffen, und sie wissen es nicht.«Und jemand rempelt dich auf der Straße an, beschimpft dich womöglich, und du sagst demütig Entschuldigung und gehst weiter, dabei bist du Gott, und wenn du wolltest, brauchtest du bloß mit dem Finger zu schnipsen, und die Welt wäre Asche. Aber du bist so unendlich allmächtig, dass du dir erlauben kannst, gütig zu sein.

Einen Roman zu schreiben über Gott, der inkognito durch seine Schöpfung spaziert... Vergiss es, Belbo, wenn dir die Idee gekommen ist, ist sie bestimmt auch schon einem andern gekommen.

Variante. Du bist ein Autor, du weißt noch nicht, ein wie großer, die Frau, die du liebtest, hat dich verraten, das Leben hat für dich keinen Sinn mehr. Um zu vergessen, machst du eine Reise auf der Titanic und erleidest Schiffbruch in der Südsee, du rettest dich (als einziger Überlebender) auf einem Eingeborenenboot und verbringst lange Jahre auf einer einsamen, nur von Papuas bewohnten Insel, umhegt von Mädchen, die dir schmachtende Lieder singen, wobei sie ihre nur mit Blütenkränzen bedeckten Brüste wippen lassen. Du gewöhnst dich daran, sie nennen dich Jim, wie sie's mit allen Weißen tun, eines Abends kommt ein Mädchen mit bernsteinfarbener Haut in deine Hütte und sagt:»Ich deine, ich mit dir.«Ja, es ist schön, am Abend auf der Veranda zu liegen und das Kreuz des Südens zu betrachten, während sie dir die Stirne streichelt.

Du lebst im Rhythmus der auf‑ und untergehenden Sonne und kennst nichts anderes mehr. Eines Tages kommt ein Motorboot mit Holländern, du erfährst, dass zehn Jahre vergangen sind, du könntest mit ihnen davonfahren, aber zu zögerst, du tauschst lieber Kokosnüsse gegen Waren und versprichst, dich um die Hanfernte zu kümmern, die Eingeborenen schuften für dich, du fängst an, von Insel zu Insel zu fahren, bald nennt man dich überall Surabaya‑Jim. Ein vom Suff ruinierter portugiesischer Abenteurer kommt, um mit dir zu arbeiten, und du erlöst ihn vom Alkohol, alle Welt spricht inzwischen von dir in jenen Südseegewässern, du berätst den Maharadscha von Brunei bei einer Kampagne gegen die Flusspiraten, bringst eine verrostete alte Kanone aus den Zeiten von Tippo Sahib wieder in Schuss, stellst eine Truppe treu ergebener Malaien auf und trainierst sie, brave Kerle mit betelgeschwärzten Zähnen... In einem Gefecht am Korallenplateau (oder war's am Susquehanna?) deckt dich der alte Sampan, die Zähne betelgeschwärzt (oder war's der alte Lederstrumpf?), mit seinem eigenen Leib.»Oh, Surabaya‑Jim, ich bin glücklich, für dich zu sterben.«–»Oh, mein guter alter Freund Sampanstrumpf!«


Dein Ruhm verbreitet sich durch den ganzen Archipel, von Surabaya bis Port‑au‑Prince, du verhandelst mit den Engländern, in der Hafenkommandantur von Darwin bist du als Kurtz registriert, du bist nun für alle Welt Kurtz, Surabaya‑Jim für die Eingeborenen. Doch eines Abends, während das Mädchen dich auf der Veranda streichelt und das Kreuz des Südens am Himmel erglänzt wie noch nie, aber ach, so ganz anders als der Große Bär, da begreifst du: es zieht dich zurück in die Heimat. Du würdest sie gerne wiedersehen, nur kurz, nur um zu sehen, was dort von dir geblieben ist.

Du nimmst das Motorboot und fährst nach Manila, von dort bringt dich ein Propellerflugzeug nach Bali. Dann weiter über Samoa, die Admiralsinseln, Singapur, Tananarivo, Timbuktu, Aleppo, Samarkand, Basra, Malta, und schon bist du zu Hause.

Achtzehn Jahre sind vergangen, das Leben hat dich gezeichnet, dein Gesicht ist braungegerbt von den Passatwinden, du bist älter geworden, schöner vielleicht. Und kaum bist du angekommen, entdeckst du, dass die Buchläden deine Bücher anpreisen, dein ganzes Werk, in kritischen Neuausgaben, dein Name prangt über dem Tor der alten Schule, in der du lesen und schreiben gelernt hast. Du bist der Große Verschollene Dichter, das Gewissen der Generation. Romantische Mädchen begehen Selbstmord an deinem leeren Grab.

Und dann begegne ich dir, Geliebte, was hast du so viele Runzeln um deine Augen, wie tief zerfurcht vom Schmerz der Erinnerung und von Gewissensbissen ist dein immer noch schönes Gesicht. Fast hätte ich dich gestreift auf dem Trottoir, ich stehe zwei Schritte vor dir, und du hast mich angesehen wie irgendeinen, als suchtest du hinter mir nach einem andern. Ich könnte dich ansprechen, könnte die Zeit auslöschen. Aber wozu? Habe ich nicht schon gehabt, was ich wollte? Ich bin Gott, ich habe dieselbe Einsamkeit, dieselbe Ruhmsucht, dieselbe Verzweiflung, nicht eines meiner Geschöpfe zu sein wie all die andern. Alle leben sie in meinem Licht, nur ich muss im unerträglichen Glanz meiner Finsternis leben.

Geh nur, geh hinaus in die Welt, William S. Du bist berühmt, und wenn du an mir vorbeikommst, erkennst du mich nicht. Ich murmele vor mich hin»Sein oder Nichtsein«und sage mir:»Bravo, gut gemacht, Belbo!«Geh, alter William S. hol dir deinen Anteil am Ruhm: du hast nur geschaffen, ich aber habe dich perfektioniert!

Wir, die den Geburten anderer ans Licht verhelfen, wir dürften eigentlich, ganz wie die Schauspieler, nicht in geweihter Erde begraben werden. Aber die Schauspieler täuschen nur vor, dass die Welt anders sei, als sie ist, wir dagegen fingieren die Vielzahl der möglichen Welten...

Wie kann das Leben so großzügig sein, eine derart sublime Kompensation für das Mittelmaß zu gewähren?

 

 

12

 

 

Sub umbra alarum tuarum, Jehova.

(Unter dem Schatten deiner Flügel, Jehova ‑ Psalm 57,2)

 

Fama Fraternitatis, in Allgemeine und General Reformation, Kassel, Wessel, 1614, Ende

 

Am nächsten Tag ging ich zu Garamond. Die Nummer l der Via Sincero Renata führte in einen staubigen Durchgang, an dessen Ende ein Hof mit einer Seilerwerkstatt zu sehen war. Im Treppenhaus rechts befand sich ein Fahrstuhl, der in einer Ausstellung für Industrie‑Archäologie hätte stehen können, und als ich ihn zu nehmen versuchte, gab er nur ein verdächtiges Knarren von sich, ohne sich in Bewegung zu setzen. Ich beschloss, lieber zu Fuß zu gehen, und stieg zwei Absätze einer steilen, hölzernen, ziemlich staubigen Treppe hinauf. Wie ich später erfuhr, liebte Signor Garamond diesen Ort, weil er ihn an ein altes Pariser Verlagshaus erinnerte. Im ersten Stock verkündete ein Schild»Garamond Editori, s.p.a. «, und eine offene Tür führte in einen Empfangsraum ohne Telefonzentrale, Pförtnerloge oder dergleichen. Aber man konnte nicht eintreten, ohne von einem kleinen Nebenraum aus gesehen zu werden, aus welchem denn auch sofort eine Person vermutlich weiblichen Geschlechts, unbestimmten Alters und von einer Statur, die man euphemistisch als unter dem Durchschnitt bezeichnet hätte, auf mich zugeschossen kam.

Die Person überfiel mich in einer Sprache, die ich schon irgendwo einmal gehört zu haben meinte, bis ich begriff, dass es ein fast ganz der Vokale beraubtes Italienisch war. Ich sagte, ich wolle zu Belbo. Sie hieß mich ein paar Sekunden warten, dann führte sie mich durch den Flur in ein Büro am hinteren Ende.

Belbo empfing mich sehr freundlich:»Na, dann sind Sie ja doch ein ernsthafter Mensch! Treten Sie ein.«Er placierte mich in einen Sessel vor seinem Schreibtisch, der alt wie alles Übrige war, überladen mit Manuskripten wie die Regale ringsum an den Wänden.

»Ich hoffe, Gudrun hat Sie nicht erschreckt«, sagte er.

»Gudrun? Diese... Signora?«

»Signorina. Sie heißt nicht Gudrun. Wir nennen sie bloß so wegen ihres nibelungischen Äußeren und weil sie irgendwie so teutonisch spricht. Sie will immer alles auf einmal sagen und spart sich die Vokale. Aber sie hat Sinn für ausgleichende Gerechtigkeit: beim Tippen spart sie sich die Konsonanten.«

»Was macht sie hier?«

»Alles, leider. Sehen Sie, in jedem Verlag gibt es eine Person, die unersetzlich ist, weil sie als einzige wiederzufinden vermag, was in dem Chaos verloren geht, das sie anrichtet. Beziehungsweise weil man, wenn ein Manuskript verloren geht, dann wenigstens weiß, wer schuld ist.«

»Verliert sie auch Manuskripte?«

»Nicht mehr als andere. In einem Verlag verlieren alle andauernd Manuskripte. Ich glaube, der Name Verlag kommt genau in diesem Sinn von ›verlegen›, das Manuskripte‑Verlegen ist die Hauptbeschäftigung. Aber man braucht schließlich einen Sündenbock, finden Sie nicht? Ich werfe Gudrun nur vor, dass sie nicht die Manuskripte verliert, die ich gerne los wäre. Unangenehme Zwischenfälle bei dem, was der gute Bacon The advancement of learning nannte.«

»Aber wohin gehen sie denn verloren?«

Er breitete die Arme aus.»Entschuldigen Sie, aber merken Sie nicht, wie dumm die Frage ist? Wenn man wüsste wohin, wären sie nicht verloren.«

»Logisch«, sagte ich.»Aber hören Sie. Wenn ich mir die Bücher von Garamond ansehe, scheint mir, dass sie sehr gut gemacht sind, sorgfältig ediert, und Sie haben einen ziemlich reichhaltigen Katalog. Machen Sie alles hier drin? Wie viele sind Sie?«

»Gegenüber ist ein großer Raum mit den Herstellern, hier nebenan sitzt mein Kollege Diotallevi. Aber er betreut die Lehrbücher, die langlebigen Werke, an denen man lange sitzt und die über lange Zeit verkauft werden, sogenannte Longseller. Die kurzlebigen Studienausgaben mache ich. Aber Sie dürfen nicht denken, das wäre allzu viel Arbeit. Gott ja, über manchen Büchern brüte ich lange, die Manuskripte muss ich natürlich lesen, aber im Allgemeinen ist alles schon abgesichertes Zeug, ökonomisch und wissenschaftlich. Veröffentlichungen des Instituts Soundso, Kongressakten, herausgegeben und finanziert von der und der Uni. Wenn der Autor ein Debütant ist, schreibt sein Lehrer ein Vorwort, und die Verantwortung liegt bei ihm. Der Autor korrigiert mindestens zweimal die Fahnen, überprüft die Zitate und Anmerkungen, und die Rechte haben wir. Dann kommt das Buch heraus, nach ein paar Jahren sind ein‑ bis zweitausend Exemplare verkauft, die Kosten sind gedeckt... Keine Überraschungen, jedes Buch ein Gewinn.«

»Und was machen dann Sie?«

»Och, eine Menge. Vor allem muss ich die Auswahl treffen. Dann gibt es auch ein paar Bücher, die wir auf unsere Kosten rausbringen, meistens Übersetzungen renommierter Autoren, um unser Programm auf Niveau zu halten. Und schließlich gibt es noch Manuskripte, die einfach so reinkommen, die uns von Einzelgängern gebracht werden. Da ist zwar bloß selten was Interessantes dabei, aber man muss sie durchsehen, man weiß ja nie.«

»Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«

»Spaß? Ich amüsiere mich prächtig. Das ist das Einzige, was ich wirklich gut kann.«

In der Tür erschien ein hagerer Mann um die Vierzig, der ein mehrere Nummern zu großes Jackett trug.

Er hatte spärliches gelbblondes Haar, das ihm über dichte, ebenfalls gelbblonde Brauen fiel. Seine Stimme war sanft, als redete er mit einem Kind.

»Ich bin schon ganz krank von diesem Vademecum des Beiträgers. Müsste alles neu schreiben und hab keine Lust dazu. Störe ich?«

»Das ist Diotallevi«, sagte Belbo und stellte uns vor.

»Ach, Sie sind wegen der Templer gekommen. Sie Ärmster. Hör mal, Jacopo, mir ist noch was Gutes eingefallen: Zigeunerische Urbanistik.«

»Schön«, sagte Belbo bewundernd.»Ich dachte gerade an Aztekische Reitkunst.«

»Wunderbar. Aber tust du die jetzt in die Potiosektion oder zu den Adynata?«

»Mal sehen«, sagte Belbo, kramte in einer Schublade und zog ein paar Blätter heraus.»Die Potiosektion...«Er blickte auf und sah meine Neugier.»Die Potiosektion ist, wie der Name sagt, die Kunst des Suppeschneidens. Aber nicht doch, wo denkst du hin«, wandte er sich an Diotallevi,»die Potiosektion ist doch keine Abteilung, sondern ein Fach, wie die Mechanische Avunculogratulation und die Pilokatabase, beide in der Abteilung Tetrapilotomie.«

»Was ist Tetralo...«, fragte ich zögernd.»Die Kunst, ein Haar in vier Teile zu spalten. Diese Abteilung enthält die Lehre unnützer Techniken, zum Beispiel die Mechanische Avunculogratulation, die lehrt die Konstruktion von Maschinen zur Tanten‑ und Onkelbeglückwünschung. Wir schwanken noch, ob wir auch die Pilokatabase in diese Abteilung einordnen sollen, das ist die Kunst, um ein Haar zu entwischen, was ja nicht ganz unnütz ist, oder?«

»Ich bitte Sie, sagen Sie mir doch endlich, wovon Sie da eigentlich reden!«, flehte ich.

»Ganz einfach, Diotallevi und ich projektieren eine Reform des Wissens. Wir planen eine Fakultät der Vergleichenden Irrelevanz, in der man unnütze oder unmögliche Fächer studieren kann. Die Fakultät zielt auf die Reproduktion von Gelehrten mit der Fähigkeit, die Anzahl der irrelevanten Disziplinen ad infinitum zu steigern.«

»Und wie viele Abteilungen haben Sie schon?«

»Vorläufig vier, aber die könnten bereits alles denkbare Wissen enthalten. Die Abteilung Tetrapilotomie hat propädeutische Funktion, sie schärft den Sinn für die Irrelevanz. Eine wichtige Abteilung ist die der Adynata oder Impossibilia. Zum Beispiel Zigeunerische Urbanistik oder Aztekische Reitkunst... Das Wesen der Disziplin ist das Verständnis der tieferen Gründe ihrer Irrelevanz und, in der Abteilung Adynata, auch ihrer Unmöglichkeit Hier haben wir einstweilen Morphematik des Morsens, Geschichte der Antarktischen Agrikultur, Geschichte der Malerei auf den Osterinseln, Zeitgenössische Sumerische Literatur, Institutionen der Montessorischen Dokimasie, Assyrisch‑Babylonische Philatelie, Technologie des Rades in den Präkolumbianischen Reichen, Ikonologie der Blindenschrift, Phonetik des Stummfilms...«

»Was halten Sie von einer Psychologie der Massen in der Sahara?«

»Gut«, sagte Belbo.

»Gut«, bekräftigte Diotallevi mit Überzeugung.»Sie müssten mitarbeiten. Der Junge hat Talent, was, Jacopo?«

»Ja, hab ich gleich gemerkt. Gestern Abend hat er mit großem Scharfsinn dumme Gedankengänge ersonnen. Aber machen wir weiter, wo das Projekt ihn ja scheint's interessiert. Was hatten wir noch gleich in die Abteilung Oxymoristik getan? Ich finde den Zettel nicht mehr.«

Diotallevi zog ein Papier aus der Tasche und fixierte mich mit sentenziöser Sympathie.»In der Oxymoristik geht es, wie der Name sagt, um die Selbstwidersprüchlichkeit der Disziplin. Deswegen gehört meines Erachtens die Zigeunerische Urbanistik hierhin... «

»Nein«, widersprach Belbo,»nur wenn es Nomadische Urbanistik wäre. Die Adynata betreffen empirische Unmöglichkeiten, die Oxymoristik befasst sich mit begrifflichen Widersprüchen.«

»Na schauen wir mal. Was hatten wir denn in die Oxymoristik getan? Hier: Institutionen der Revolution, Parmenideische Dynamik, Heraklitische Statik, Spartanische Sybaritik, Institutionen der Volksoligarchie, Geschichte der Innovativen Traditionen, Tautologische Dialektik, Boolesche Eristik... «

Jetzt fühlte ich mich herausgefordert:»Darf ich eine Grammatik der Devianz anregen?«

»Schön, schön!«, riefen beide und machten sich eifrig ans Schreiben.

»Es gäbe da ein Problem«, sagte ich.

»Welches?«

»Wenn Sie das Projekt bekannt machen, wird ein Haufen Leute ernsthafte Publikationen vorlegen.«

»Ich hab's dir doch gleich gesagt, Jacopo, das ist ein helles Bürschchen«, sagte Diotallevi.»Wissen Sie, genau das ist nämlich unser Problem. Ohne es zu wollen, haben wir das ideale Profil eines wirklichen Wissens gezeichnet. Wir haben die Notwendigkeit des Möglichen demonstriert. Infolgedessen müssen wir schweigen. Aber jetzt muss ich gehen.«

»Wohin?«, fragte Belbo.

»Es ist Freitagnachmittag.«

»O heiliger Jesus!«, rief Belbo. Dann erklärte er mir:»Hier gegenüber gibt es zwei, drei Häuser, in denen orthodoxe Juden wohnen, Sie wissen schon, solche mit schwarzem Hut und Bart und Löckchen. Es gibt nicht viele davon in Mailand. Heute ist Freitag, und bei Sonnenuntergang beginnt der Sabbat. Also fangen sie jetzt drüben an, alles vorzubereiten, die Leuchter zu putzen, die Speisen zu kochen, die Dinge so einzurichten, dass morgen kein Feuer angemacht werden muss. Auch der Fernseher bleibt die ganze Nacht an, nur sind sie gezwungen, vorher den Kanal zu wählen. Unser Freund Diotallevi hat ein kleines Opernglas, mit dem späht er indiskret rüber und träumt davon, er wäre auf der anderen Seite der Straße.«

»Und wieso?«, fragte ich.

»Weil unser guter Diotallevi sich in den Kopf gesetzt hat, er sei Jude.«

»Was heißt in den Kopf gesetzt?«protestierte Diotallevi.» Ich bin Jude. Haben Sie was dagegen, Casaubon?«

»Aber nein, ich bitte Sie!«

»Mein lieber Freund«, sagte Belbo entschieden,»du bist kein Jude.«

»Ach nein? Und mein Name? ›Gott möge dich aufziehen‹ – ein Name wie Diotisalvi, Graziadio, Diosiacontè, alles Übersetzungen aus dem Hebräischen, Gettonamen wie Scholem Alejchem.«

»Diotallevi ist ein Glückwunschname, wie ihn die Standesbeamten den Findelkindern oft gaben. Und dein Großvater war ein Findelkind.«

»Ein jüdisches Findelkind.«

»Diotallevi, du hast hellrosa Haut, eine kehlige Stimme und bist praktisch ein Albino.«

»Es gibt Albino‑Kaninchen, und ich bin eben ein Albino‑Jude.«

»Diotallevi, man kann nicht einfach beschließen, Jude zu sein, so wie man beschließt, Briefmarkensammler oder Zeuge Jehovas zu werden. Als Jude wird man geboren. Finde dich damit ab, du bist ein Goj wie alle andern.«

»Ich bin beschnitten.«

»Also hör mal! Jeder kann sich beschneiden lassen, zum Beispiel aus hygienischen Gründen. Man braucht bloß einen Arzt mit Thermokauter. In welchem Alter hast du dich denn beschneiden lassen?«

»Seien wir nicht spitzfindig.«

»Doch, seien wir spitzfindig. Juden sind spitzfindig.«

»Niemand kann beweisen, dass mein Großvater kein Jude war.«

»Sicher nicht, er war ja ein Findelkind. Aber er hätte auch der Thronerbe von Byzanz sein können, oder ein Bastard der Habsburger.«

»Niemand kann beweisen, dass er kein Jude war, und er ist nahe am Portico d'Ottavia gefunden worden, beim alten römischen Ghetto.«

»Aber deine Großmutter war keine Jüdin, und das Judentum vererbt sich über die Mütter... «

»... und jenseits aller bürokratischen Argumente – denn auch die Gemeinderegister können jenseits der Buchstabenform gelesen werden – gibt es die Argumente des Blutes, und das Blut sagt mir, dass meine Gedanken zutiefst talmudisch sind, und es wäre rassistisch von dir, zu behaupten, dass auch ein Goj so zuinnerst talmudisch sein kann, wie ich mich zu sein empfinde.«

Sprach's und verließ den Raum. Als er draußen war, sagte Belbo zu mir:»Machen Sie sich nichts daraus. Diese Diskussion führen wir nahezu täglich, nur dass ich jeden Tag ein neues Argument anzubringen versuche. Tatsache ist, dass Diotallevi ein treuer Jünger der Kabbala ist Aber es hat auch christliche Kabbalisten gegeben. Und schließlich, sagen Sie selbst, Casaubon, wenn Diotallevi unbedingt Jude sein will, kann ich mich kaum widersetzen.«

»Kaum. Seien wir demokratisch.«

»Seien wir demokratisch.«

Er zündete sich eine Zigarette an. Ich erinnerte ihn an den Grund meines Besuches:»Sie haben gesagt, Sie hätten ein Manuskript über die Templer.«

»Ja, stimmt... Warten Sie mal, es war in so einer Kunstledermappe... «Er wühlte in einem Stapel von Manuskripten und versuchte, eins aus der Mitte herauszuziehen, ohne die anderen abzuheben. Riskante Operation. Tatsächlich brach der Stapel zusammen und ergoss sich zum Teil auf den Boden. Aber Belbo hielt nun die Kunstledermappe in Händen.

Ich warf einen Blick aufs Inhaltsverzeichnis und überflog die Einleitung.»Betrifft die Verhaftung der Templer. Im Jahre 1307 ließ Philipp der Schöne alle Templer in Frankreich verhaften. Aber es gibt da eine Legende, nach der zwei Tage, bevor Philipp den Haftbefehl erteilte, in Paris ein Heuwagen, von zwei Ochsen gezogen, mit unbekanntem Ziel die Umfriedung des Tempels verließ. Es heißt, es sei eine Gruppe von Rittern unter der Führung eines gewissen Aumont gewesen und sie seien nach Schottland geflohen, um sich dort einer Maurerloge in Kilwinning anzuschließen. Der Legende zufolge haben die Ritter sich mit den freien Maurerzünften identifiziert, in denen die Geheimnisse des Salomonischen Tempels tradiert wurden... Hier, bitte, hab ich mir gleich gedacht. Auch der hier behauptet, den Ursprung des Freimaurertums in jener Flucht der Templer nach Schottland gefunden zu haben. Eine Mär, die seit zweihundert Jahren ständig wiedergekäut wird, reinste Fantasie. Kein Beweis weit und breit, ich könnte Ihnen ein halbes Hundert Bücher anschleppen, die alle denselben Stuss erzählen, eins vom anderen abgeschrieben. Sehen Sie hier, das hab ich aufs Geratewohl aufgeschlagen: ›Der Beweis für die schottische Expedition liegt in der Tatsache, dass sogar heute, nach sechshundertfünfzig Jahren, noch immer Geheimbünde in der Welt existieren, die sich auf die Tempelritter berufen. Wie lässt sich die Fortdauer dieser Erbschaft anders erklären?‹ Verstehen Sie? Wie sollte es möglich sein, dass der Marquis von Carabas nicht existiert, wo doch auch der Gestiefelte Kater beteuert, in seinen Diensten zu stehen?«







Date: 2015-12-13; view: 392; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ



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