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Chochmah 4 page





Ich war gegen elf in die Wohnung gekommen, jetzt war es eins. Ich musste ein Computerprogramm für Anagramme mit sechs Buchstaben schreiben, wozu es genügte, das bereits vorhandene Programm für vier zu erweitern.

Erst mal brauchte ich ein bisschen frische Luft. Ich ging auf die Straße hinunter, kaufte mir etwas zu essen und eine Flasche Whisky.

Kaum wieder oben, ließ ich die Sandwiches in einer Ecke, um gleich zum Whisky überzugehen, schob die Systemdiskette für Basic ein und schrieb das Programm für sechs Buchstaben – mit den üblichen Fehlern, ich brauchte gut eine halbe Stunde, doch gegen halb drei lief es endlich, und über den Bildschirm flimmerten vor meinen Augen die siebenhundertzwanzig Namen Gottes.

 

Ich zog die Bögen aus dem Drucker, hielt sie hoch und überflog sie, ohne sie abzutrennen, als sähe ich die originale Torah‑Rolle durch.

Ich probierte den sechsunddreißigsten Namen. Totale Finsternis. Ein letzter Schluck Whisky, dann tippte ich mit zögernden Fingern den hundertzwanzigsten Namen ein. Nichts.

Mir war sterbenselend zumute. Aber ich war nun Jacopo Belbo, und Jacopo Belbo musste so gedacht haben, wie ich nun dachte. Mir musste ein Fehler unterlaufen sein, ein idiotischer Fehler, etwas ganz Dummes. Ich war einen Schritt von der Lösung entfernt – vielleicht hatte Belbo aus Gründen, die mir entgingen, von unten nach oben gezählt?

Casaubon, du Trottel, sagte ich mir. Natürlich, von unten nach oben! Oder von rechts nach links. Belbo hatte den Namen Gottes in lateinischer Schrift eingegeben, mit Vokalen, klar, aber weil das Wort ein hebräisches war, hatte er es von rechts nach links geschrieben. Sein Input war nicht IAHVEH gewesen, sondern – wie hatte ich das übersehen können? – HEVHAI. Und natürlich hatte sich dadurch die Ordnung der Permutationen verkehrt.

Also musste ich von rechts unten an zählen. Ich probierte erneut beide Namen. Wieder nichts.

Es war alles falsch gewesen. Ich hatte mich in eine elegante, aber falsche Hypothese verbissen. Passiert den größten Wissenschaftlern.

Nein, nicht nur den größten. Allen. Hatten wir nicht gerade erst vorigen Monat bemerkt, dass in letzter Zeit mindestens drei Romane erschienen waren, deren Protagonisten den Namen Gottes mit dem Computer suchten? Und schließlich, wer ein Passwort wählt, nimmt etwas, das er sich leicht merken kann, das ihm quasi spontan in die Finger kommt. Man stelle sich vor: IHVHEA! Er hätte das Notarikon mit der Temurah kombinieren müssen, er hätte, um sich das Wort zu merken, ein Akrostichon erfinden müssen, so etwas wie, was weiß ich – Imelda, Ha, Verruchte, Hast Eginhard Angezeigt!

Und dann, wieso eigentlich sollte Belbo in Diotallevis kabbalistischen Termini denken? Er war besessen vom Großen Plan, und in den Großen Plan hatten wir massenhaft andere Dinge mit reingemixt, die Rosenkreuzer, die Synarchie, die Homunculi, das Pendel, den Turm, die Druiden, die Ennoia...

Die Ennoia... Unwillkürlich fiel mir Lorenza Pellegrini ein. Ich streckte die Hand aus und drehte das Foto um, das ich aus meinem Blickfeld verbannt hatte. Ein unangenehmer Gedanke regte sich in mir, den ich zu verdrängen suchte, die Erinnerung an jenen Abend damals in Piemont... Ich zog das Foto heran und las die Widmung:»Denn ich bin die Erste und die Letzte. Ich bin die Geehrte und die Gehasste. Ich bin die Heilige und die Hure. Sophia.«

Musste nach dem Fest bei Riccardo gewesen sein. Sophia, sechs Buchstaben. Ja, und wieso eigentlich mussten sie erst anagrammatisch umgestellt werden? Ich war es, der verdreht dachte. Belbo liebte Lorenza, er liebte sie, weil sie war, wie sie war, und sie war Sophia – und zu denken, dass sie in diesem Moment, wer weiß... Nein, andersrum, Belbo dachte verdreht. Mir kamen die Worte Diotallevis in den Sinn:»In der zweiten Sefirah verwandelt sich das dunkle Aleph in das leuchtende Aleph. Aus dem Finsteren Punkt entspringen die Lettern der Torah, der Leib sind die Konsonanten, der Hauch die Vokale, und zusammen begleiten sie den Gesang des Frommen. Wenn die Melodie der Zeichen sich bewegt, bewegen sich mit ihr die Konsonanten und die Vokale. Daraus entsteht Chochmah, die Weisheit, das Wissen, die Uridee, in welcher alles enthalten ist wie in einem Schrein, bereit, sich zu entfalten in der Schöpfung. In Chochmah ist enthalten das Wesen all dessen, was folgen wird... «


Und was bitte war Abulafia mit seiner geheimen Reserve an files? Der Schrein all dessen, was Belbo wusste oder zu wissen glaubte, seine Sophia! Jawohl, er wählt sich einen geheimen Namen, um in die Tiefen Abulafias einzudringen, in das Objekt, mit dem er Liebe macht (das einzige), doch während er mit ihm Liebe macht, denkt er zugleich an Lorenza, er sucht nach einem Wort, das Abulafia überzeugt, aber das zugleich ihm selbst als Talisman dient, auch um Lorenza zu haben, er will ins Innerste von Lorenza eindringen und begreifen, so wie er ins Innerste von Abulafia eindringen kann, er will, dass Abulafia undurchdringlich für alle anderen sei, so wie Lorenza undurchdringlich für ihn ist, er macht sich vor, das Geheimnis Lorenzas zu hüten, es zu erkennen und zu erobern, so wie er das Geheimnis Abulafias besitzt...

Ich war dabei, mir eine Erklärung zurechtzulegen, und machte mir vor, dass sie wahr sei. Wie bei dem Großen Plan: ich nahm meine Wünsche für Wirklichkeit.

Aber da ich betrunken war, beugte ich mich über die Tastatur und tippte SOPHIA. Und die Maschine, ungerührt, fragte nur wieder höflich:»Hast du das Passwort?«Blöde Maschine, nicht mal der Gedanke an Lorenza bringt dich in Wallung.

 

6

 

 

Judá Léon se dio a permutaciones De letras y a complejas variaciones Y al fin pronunció el Nombre que es la Clave, La Puerta, el Eco, el Huésped y el Palacio...

(Juda Löw verlegte sich auf Permutationen / Von Lettern und auf komplexe Variationen, / Und schließlich sprach er ihn aus, den Namen, welcher der Schlüssel ist, / Das Tor, das Echo, der Wirt und der Palast...)

 

J. L. Borges, El Golem

 

Schließlich, in einem Wutanfall, als Abulafia zum x‑ten Mal seine sture Frage stellte (»Hast du das Passwort?«), hackte ich:»Nein.«

Der Bildschirm begann sich mit Zeichen zu füllen, mit Linien, Kolonnen, mit einer Flut von Worten.

Ich hatte Abulafias Geheimnis geknackt.

Meine Freude über den Sieg war so groß, dass ich mich gar nicht fragte, warum Belbo ausgerechnet dieses Wort gewählt hatte. Heute weiß ich es, und ich weiß auch, dass er in einem Moment der Klarheit begriffen hatte, was ich jetzt begreife. Aber am Donnerstag dachte ich nur an meinen Sieg.

Ich begann zu tanzen, laut in die Hände zu klatschen und einen Gassenhauer zu trällern. Dann hielt ich inne und ging ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen. Ich kam zurück und ließ Abulafia als erstes die letzte Datei ausdrucken, diejenige, die Belbo direkt vor seiner Flucht nach Paris geschrieben hatte. Während der Drucker gleichmütig ratterte, verzehrte ich heißhungrig meine Sandwiches und trank noch ein Glas.

Als der Drucker stehenblieb, las ich und war erschüttert, und mir war noch immer nicht klar, ob ich außergewöhnliche Enthüllungen oder das Zeugnis eines Wahns vor mir hatte. Was wusste ich letztlich von Jacopo Belbo? Was hatte ich von ihm verstanden in jenen zwei Jahren, als wir fast täglich zusammen gewesen waren? Wie viel Vertrauen durfte ich den privaten Aufzeichnungen eines Mannes schenken, der nach eigenem Geständnis in außergewöhnlichen Umständen schrieb, benebelt vom Alkohol, vom Tabak und von seinen Angstvorstellungen, drei volle Tage lang abgeschnitten von jedem Kontakt mit der Welt?


Es war unterdessen Nacht geworden, die Nacht des 21. Juni. Mir tränten die Augen. Seit dem Vormittag hatte ich auf den Bildschirm gestarrt und auf das punktierte Zeichengewimmel, das aus dem Drucker kam. Ob es nun wahr oder falsch war, was ich da gelesen hatte, Belbo hatte gesagt, dass er am nächsten Morgen anrufen wollte. Ich musste in der Wohnung bleiben und warten. Mir schwirrte der Kopf.

Ich wankte ins Schlafzimmer und fiel angezogen auf das noch ungemachte Bett.

Am Freitagmorgen erwachte ich gegen acht aus einem tiefen, bleiernen Schlaf und wusste zuerst gar nicht, wo ich war. Zum Glück fand ich eine Dose mit einem Restchen Kaffee und machte mir ein paar Tassen. Das Telefon schwieg, ich wagte nicht hinunterzugehen, um mir etwas zu kaufen, aus Furcht, Belbo könnte genau in dem Moment anrufen.

Ich setzte mich wieder an den Computer und ließ ihn die anderen Disketten ausdrucken, in chronologischer Reihenfolge. Ich fand Spiele, Übungstexte, Berichte über Ereignisse, die ich kannte, die mir aber jetzt, durch Belbos Brille gesehen, in einem anderen Licht erschienen. Ich fand tagebuchähnliche Aufzeichnungen, Geständnisse, Ansätze zu erzählenden Texten, geschrieben mit dem bitteren Eigensinn dessen, der weiß, dass sie von vornherein zur Erfolglosigkeit verdammt sind. Ich fand Notizen, Porträts von Personen, an die ich mich erinnerte, die aber hier eine andere Physiognomie annahmen – düsterer, würde ich sagen, oder war nur mein Blick verdüstert, meine Art und Weise, kleine Nebenbemerkungen zu einem schrecklichen Mosaik zusammenzusetzen?

Vor allem fand ich jedoch eine ganze Datei, die nur Zitate enthielt – Exzerpte aus Belbos jüngster Lektüre, ich erkannte sie auf den ersten Blick, wir hatten in den letzten Monaten so viele ähnliche Texte gelesen... Sie waren durchnummeriert: hundertzwanzig. Die Zahl war kein Zufall, und wenn doch, war die Koinzidenz beunruhigend. Aber wieso hatte Belbo gerade diese Zitate gewählt?

Heute kann ich seine Texte und die ganze Geschichte, die sie mir ins Gedächtnis rufen, nur im Licht jener einen Datei wiederlesen. Ich drehe und wende die Zitate wie Kügelchen eines häretischen Rosenkranzes, und manchmal ist mir, als hätten einige davon für Belbo ein Warnzeichen sein können, eine rettende Spur.

Oder bin ich es, der nicht mehr zwischen dem guten Rat und der Sinnesverwirrung unterscheiden kann? Ich versuche mich zu überzeugen, dass meine erneute Lektüre die richtige ist, aber erst heute Morgen sagte jemand zu mir – und nicht zu Belbo –, ich sei verrückt.


Der Mond steigt langsam am Horizont herauf, drüben hinter dem Bricco. Das große Haus ist erfüllt von seltsamem Knacken und Knistern – vielleicht Holzwürmer, Mäuse, oder das Gespenst von Adelino Canepa... Ich wage nicht, durch den Flur zu gehen, ich sitze im Arbeitszimmer von Onkel Carlo und schaue zum Fenster hinaus. Hin und wieder gehe ich auf die Terrasse, um zu sehen, ob jemand den Hügel heraufkommt. Mir ist, als wäre ich in einem Film, wie pathetisch:»Sie kommen...«

Dabei ist der Hügel so still in dieser Frühsommernacht.

Um wie viel abenteuerlicher, ungewisser, verrückter war die Rekonstruktion, die ich, um mir die Zeit zu vertreiben und wachzubleiben, vorgestern Abend zwischen fünf und zehn im Periskop versuchte, stehend, während ich, um mein Blut zirkulieren zu lassen, langsam die Beine bewegte, als folgte ich einem afrobrasilianischen Rhythmus.

Zurückdenken an die letzten Jahre und sich dabei dem betörenden Trommeln der Atabaques überlassen... Vielleicht um die Offenbarung zu erhalten, dass unsere Phantasien, die als mechanisches Ballett begonnen hatten, sich nun in jenem Tempel der Mechanik in Ritus verwandeln würden, in Possession, Erscheinung und Herrschaft des Exu?

Vorgestern Abend im Periskop hatte ich noch keinen Beweis für die Wahrheit dessen, was mir der Drucker enthüllt hatte. Ich konnte mich noch in den Zweifel retten. Um Mitternacht würde ich vielleicht herausfinden, dass ich nach Paris gekommen war und mich wie ein Dieb in einem harmlosen Technikmuseum versteckt hatte, bloß weil ich ahnungslos in eine für Touristen organisierte Macumba geraten war und mich hatte einlullen lassen vom hypnotisierenden Nebel der Perfumadores und vom Rhythmus der Pontos...

Um das Mosaik zusammenzusetzen, hatte es mein Gedächtnis abwechselnd mit der Ernüchterung, dem Mitleid und dem Argwohn probiert, und jenes geistige Klima, jenes Schwanken zwischen onirischer Illusion und Vorahnung einer Falle wünschte ich mir auch jetzt, während ich mit viel klarerem Kopf über all das nachdenke, was ich vorgestern Abend gedacht hatte, als ich mir klarzumachen versuchte, was ich da hastig am Vortag gelesen hatte, nachts in Belbos Wohnung und noch am selben Morgen am Flughafen und auf dem Flug nach Paris.

Wie unverantwortlich waren wir gewesen, Belbo, Diotallevi und ich, als wir daran gingen, die Welt neuzuschreiben oder – wie Diotallevi gesagt hätte – diejenigen Teile des Heiligen Buches aufzudecken, die mit weißem Feuer eingraviert waren zwischen den Zeilen der schwarzen Lettern, die gleich schwarzen Insekten die Torah bevölkerten und zu verdeutlichen schienen!

Nun bin ich, hier endlich – so hoffe ich – zur heiterer Ruhe und zum Amor Fati gelangt, bereit zur Reproduktion der Geschichte, die ich vor zwei Tagen voller Unruhe – und in der Hoffnung, dass sie falsch sei – im Periskop rekonstruierte, nachdem ich sie weitere zwei Tage vorher in Belbos Wohnung gelesen und sie, zum Teil unbewusst, in den letzten zwölf Jahren erlebt hatte, zwischen dem Whisky bei Pilade und dem Staub im Verlag Garamond

 

 

Binah

 

 

 

 

7

 

 

Erwartet euch nicht zu viel vom Weltuntergang.

Stanislaw Jerzy Lee, Aforyzmy. Frazki, Krakow, Wydawnictwo Literackie, 1977 (»Unfrisierte Gedanken«)

 

Zwei Jahre nach Achtundsechzig das Studium zu beginnen ist ungefähr so, wie 1793 in die Akademie von Saint‑Cyr aufgenommen zu werden. Man kommt sich vor wie im falschen Jahr geboren. Andererseits überzeugte mich später Jacopo Belbo, der mindestens fünfzehn Jahre älter als ich war, dass jede Generation diesen Eindruck hat. Man wird immer unter dem falschen Zeichen geboren, und mit Würde auf der Welt sein heißt Tag für Tag sein Horoskop korrigieren.

Ich glaube, wir werden das, was unsere Väter uns in den toten Zeiten gelehrt haben, während sie nicht daran dachten, uns zu erziehen. Man formt sich an Abfällen der Weisheit. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich, dass meine Eltern mir ein bestimmtes Wochenblatt abonnierten, das die Meisterwerke der Literatur in ComicForm präsentierte. Nicht aus Knausrigkeit, eher aus Argwohn gegenüber Comic Strips versuchte mein Vater, sich zu drücken.»Das Ziel dieser Zeitschrift ist«, erklärte ich daraufhin feierlich, den Werbespruch der Serie zitierend, denn ich war ein pfiffiger und eloquenter Knabe,»auf unterhaltsame Weise zu erziehen.«Mein Vater erwiderte, ohne die Augen von seiner Zeitung zu heben:»Das Ziel deiner Zeitung ist das Ziel aller Zeitungen, nämlich so viele Exemplare wie möglich zu verkaufen.«

An jenem Tag begann ich, ungläubig zu werden.

Will sagen, es reute mich, gläubig gewesen zu sein. Ich hatte mich von einer Passion des Geistes verführen lassen. Das ist Gläubigkeit.

Nicht dass der Ungläubige an nichts glauben dürfte. Er glaubt nur nicht an alles. Er glaubt jeweils an eine Sache und an eine zweite nur, wenn sie sich irgendwie aus der ersten ergibt. Er geht kurzsichtig vor, methodisch, ohne Horizonte zu riskieren. Von zwei Sachen, die nicht zusammenpassen, alle beide zu glauben, mit der Idee im Kopf, es gebe irgendwo noch eine dritte, die sie vereine – das ist Gläubigkeit

Ungläubigkeit schließt nicht Neugier aus, sie ermuntert sie. Misstrauisch gegenüber Ideenketten, liebte ich von den Ideen die Polyphonie. Es genügt, nicht daran zu glauben, und zwei Ideen – die beide falsch sind – können zusammen ein gutes Intervall erzeugen oder einen diabolus in musica. Ich respektierte nicht die Ideen, auf die andere ihr Leben verwetteten, aber zwei oder drei Ideen, die ich nicht respektierte, konnten eine Melodie ergeben. Oder einen Rhythmus, am besten im Jazz.

Später sollte mir Lia sagen:»Du lebst von Oberflächen. Wenn du tief scheinst, dann weil du viele davon verklammerst und so den Anschein eines Festkörpers erzeugst – eines Festkörpers, der, wenn er fest wäre, nicht stehen könnte.«

»Willst du damit sagen, ich wäre oberflächlich?«

»Nein«, hatte sie geantwortet.»Was die anderen Tiefe nennen, ist nur ein Tesserakt, ein vierdimensionaler Kubus. Du trittst auf der einen Seite hinein, auf der andern hinaus, und befindest dich in einer Welt die nicht mit deiner Welt koexistieren kann.«

(Lia, ich weiß nicht, ob ich dich je wiedersehen werde, jetzt da sie auf der falschen Seite eingetreten sind und deine Welt überfallen haben, und das durch meine Schuld: ich habe sie glauben lassen, dass da Abgründe wären, wie sie es in ihrer Schwäche wollten.)

Was dachte ich wirklich vor fünfzehn Jahren? Im Bewusstsein meiner Ungläubigkeit fühlte ich mich schuldig unter so vielen Gläubigen. Da ich fühlte, dass sie im Recht waren, beschloss ich zu glauben, so wie man ein Aspirin nimmt. Es tut nicht weh, und man fühlt sich besser.

Ich fand mich mitten in der Revolution, oder jedenfalls in der verblüffendsten Simulation der Revolution, die es je gegeben hat, und suchte nach einem ehrenhaften Glauben. Ich fand es ehrenhaft, an den Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen, ich schrie im Chor mit den andern:»Faschisten, Bürgerschweine, bald machen wir euch Beine!«, ich warf keine Steine und schleuderte keine Stahlkugeln, weil ich immer Angst hatte, dass die andern mit mir machen würden, was ich mit ihnen machte, aber ich empfand eine Art von moralischem Hochgefühl, wenn ich durch die Gassen der Innenstadt vor der Polizei davonlief. Ich kam nach Hause mit dem Gefühl, eine Pflicht getan zu haben. In den Versammlungen konnte ich mich nicht für die Ideologiedebatten erwärmen, die zwischen den verschiedenen Gruppen geführt wurden – ich hatte immer den Verdacht, dass es genügen würde, das richtige Zitat zu finden, um aus der einen in die andere Gruppe zu wechseln. Ich amüsierte mich mit der Suche nach dem richtigen Zitat. Ich modulierte.

Da es mir bei Demonstrationen hin und wieder passiert war, dass ich mich hinter dem einen oder anderen Spruchband einreihte, um einem Mädchen zu folgen, das meine Phantasie erregte, zog ich daraus den Schluss, dass für viele meiner Genossen die politische Aktivität eine sexuelle Erfahrung war – und Sex war eine Passion. Ich wollte bloß neugierig sein. Gewiss, bei meinen Studien über die Templer und die diversen Gräuel, die man ihnen zugeschrieben hat, bin ich auf die These des Karpokrates gestoßen, nach der man, um sich von der Tyrannei der Engel, der Herren des Kosmos, zu befreien, jede Schandtat begehen und die Verpflichtungen abschütteln müsse, die mit dem Universum und mit dem eigenen Körper ausgehandelt worden sind, denn nur wenn man alle Taten begehe, könne die Seele sich freimachen von ihren Leidenschaften, um zur ursprünglichen Reinheit zurückzugelangen. Während wir den Großen Plan erfanden, entdeckte ich, dass viele Mysteriensüchtige in ihrem Streben nach Erleuchtung diesen Weg gehen. Doch Aleister Crowley, der als der perverseste Mensch aller Zeiten definiert worden ist und der folglich alles, was er nur irgend konnte, mit Verehrern beider Geschlechter getan haben muss, hatte nach Auskunft seiner Biographen nur extrem hässliche Frauen (ich vermute, dass auch die Männer, nach dem, was sie schrieben, nicht besser waren), und mir bleibt der Verdacht, dass er's nie richtig getrieben hat.

Es muss wohl an einem Zusammenhang zwischen Machtdurst und impotentia coeundi liegen. Marx war mir sympathisch, weil ich sicher war, dass er's mit seiner Jenny fröhlich getrieben hat. Man spürt es am ruhigen Atem seiner Prosa und an seinem Humor. Aber einmal, in den Fluren der Universität, sagte ich, wenn man immer mit der Krupskaja ins Bett geht, schreibt man am Ende ein so scheußliches Buch wie Materialismus und Empiriokritizismus. Sie schlugen mich fast zusammen und beschimpften mich als Faschisten. Am lautesten schrie ein großer Typ mit Tatarenschnauzer. Ich erinnere mich noch genau an ihn, heute ist er glattrasiert und gehört zu einer Kommune, in der sie Körbe flechten.

Ich evoziere das Klima von damals hier nur, um zu rekonstruieren, in welcher Geistesverfassung ich zu Garamond kam und mit Jacopo Belbo sympathisierte. Es war die Stimmung dessen, der sich die großen Diskurse über die Wahrheit vornimmt, um an ihnen zu lernen, wie man Fahnen korrigiert. Ich dachte, das Grundproblem bei einem Zitat wie»Ich bin, der ich bin«sei zu entscheiden, wohin der Schlusspunkt gehört, ob vor das Abführungszeichen oder danach.

Deshalb war meine politische Wahl die Philologie. Die Universität Mailand war in jenen Jahren beispielhaft. Während man im ganzen übrigen Land die Hörsäle stürmte, die Professoren attackierte und von ihnen verlangte, nur noch über proletarische Wissenschaft zu sprechen, galt bei uns, von ein paar Zwischenfällen abgesehen, eine Art konstitutioneller Pakt oder territorialer Kompromiss. Die Revolution beherrschte die äußere Zone, das Auditorium Maximum und die großen Flure im Erdgeschoß, während die offizielle Kultur sich auf die inneren Gänge und die oberen Stockwerke zurückgezogen hatte, um dort, geschützt und garantiert, weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre.

So konnte ich die Vormittage unten mit Diskussionen über proletarische Wissenschaft und die Nachmittage oben mit dem Erwerb eines aristokratischen Wissens verbringen. Ich lebte zufrieden in diesen beiden Paralleluniversen und fühlte mich keineswegs gespalten. Auch ich glaubte damals, dass eine Gesellschaft der Gleichen vor der Tür stehe, aber ich sagte mir, dass in dieser neuen Gesellschaft bestimmte Dinge gut (und besser als vorher) funktionieren müssten, zum Beispiel die Züge, und die Sansculotten, die mich umgaben, lernten durchaus nicht, die Kohlen im Kessel zu dosieren, die Weichen zu stellen oder Fahrpläne auszutüfteln. Irgendwer musste sich schließlich auch für die Züge bereithalten.

Nicht ohne ein paar Gewissensbisse fühlte ich mich wie ein Stalin, der unter seinem Schnauzbart grinst und denkt:»Macht nur, macht nur, ihr armseligen Bolschewiken, ich studiere derweilen am Seminar in Tiflis, und dann stelle ich den Fünfjahresplan auf.«

Vielleicht gerade weil ich vormittags im Enthusiasmus lebte, identifizierte ich dann am Nachmittag das Wissen mit Skepsis. Ich wollte etwas studieren, was mir erlauben würde, nur das zu sagen, was sich anhand von Dokumenten belegen ließ, um es von dem zu unterscheiden, was Sache des Glaubens blieb.

Fast zufällig geriet ich in ein Seminar über mittelalterliche Geschichte, schrieb mich ein und wählte eine Dissertation über den Templerprozess. Die Geschichte der Tempelritter hatte mich fasziniert, seit ich einen Blick in die ersten Dokumente geworfen hatte. In jenen Jahren, als wir gegen die Staatsmacht kämpften, empörte mich die Geschichte jenes Prozesses (den als Indizienprozess zu bezeichnen eine Verharmlosung ist), in dem die Templer zum Scheiterhaufen verurteilt wurden. Aber bald entdeckte ich, dass von dem Moment an, da sie verbrannt worden waren, eine Schar von Mysterienjägern anfing, überall nach ihnen zu suchen und zu behaupten, sie existierten noch weiter, ohne je einen Beweis vorzulegen. Dieser visionäre Exzess beleidigte meine Ungläubigkeit, und so beschloss ich, keine Zeit mit diesen Mysterienjägern zu verlieren, sondern mich allein an die zeitgenössischen Quellen zu halten. Die Templer waren ein monastischer Ritterorden, der existierte, solange er von der Kirche anerkannt wurde. Wenn die Kirche den Orden aufgelöst hatte, und das hatte sie vor siebenhundert Jahren getan, dann konnten die Templer nicht mehr existieren, und wenn sie noch existierten, dann waren sie keine Templer. So kam es, dass ich zwar mindestens hundert Bücher verzettelt hatte, aber am Ende bloß etwa dreißig las.

Mit Jacopo Belbo kam ich genau wegen der Templer in Kontakt, bei Pilade, als ich meine Dissertation fast fertig hatte, so gegen Ende 1972.

 

8

 

 

Aus dem Licht und von den Göttern gekommen, bin ich nun im Exil, von ihnen getrennt.

Manichäisches Fragment aus Turfan, M7

 

Pilades Bar war in jenen Jahren der Freihafen, die galaktische Taverne, in der die Aliens von Ophiuchus, die den Planeten Erde belagerten, sich zwanglos mit den Männern des Imperiums trafen, die auf den Van‑Allen‑Gürteln patrouillierten. Es war eine Bar am Rande der Mailänder Altstadt, mit Zinktresen und Billard, wohin morgens die Straßenbahner und die Handwerker aus der Gegend kamen, um sich einen kleinen Weißen zu gönnen. Achtundsechzig und in den folgenden Jahren war Pilade dann so etwas wie Rick's Bar geworden, wo man den Aktivisten der Studentenbewegung beim Kartenspiel sehen konnte, am selben Tisch mit dem Journalisten der bourgeoisen Zeitung, der sich nach Redaktionsschluss einen genehmigte, während die ersten Lastwagen schon unterwegs waren, um die Lügen des Systems zu verbreiten. Doch bei Pilade fühlte sich auch der Journalist als ein ausgebeuteter Proletarier, ein Produzent von Mehrwert, in Ketten gelegt, um Ideologie zu fabrizieren, und die Studenten erteilten ihm Absolution.

Zwischen elf Uhr abends und zwei Uhr nachts kamen dann der Verlagslektor, der Architekt, der Skandalreporter mit Ambitionen auf die Kulturseite, die Maler der Brera‑Akademie, ein paar mittelprächtige Schriftsteller und Studenten wie ich.

Ein Mindestmaß an alkoholischem Exzess war die Regel, und der alte Pilade hatte, während er seinen Weißwein für die Straßenbahner und die eher aristokratischen Kunden beibehielt, das Sprudelwasser und den Ramazzotti‑Bitter mit DOC‑Schaumweinen für die demokratischen Intellektuellen und Johnny Walker für die Revolutionäre ersetzt. Ich könnte die politische Geschichte jener Jahre schreiben, indem ich die Tempi und Modi beschriebe, in denen man Schritt für Schritt vom Red Label zum zwölfjährigen Ballantine und schließlich zum Malt überging.

An dem alten Billardtisch forderten Maler und Straßenbahner einander noch zu Partien heraus, aber bei der Ankunft der neuen Kundschaft hatte Pilade nun auch einen Flipper aufgestellt.

Bei mir blieb eine Kugel nur immer ganz kurz im Spiel, und anfangs glaubte ich, es läge an meiner Unaufmerksamkeit oder geringen manuellen Geschicklichkeit. Woran es wirklich lag, begriff ich erst Jahre später, als ich Lorenza Pellegrini flippern sah. Sie war mir zunächst gar nicht aufgefallen, doch eines Abends fasste ich sie ins Auge, als ich Belbos Blick folgte.

Belbo hatte eine Art, in der Bar zu sein, als wäre er bloß auf Durchreise (dabei bewohnte er sie seit mindestens zehn Jahren). Er griff oft in Gespräche ein, am Tresen oder an einem der Tische, aber fast immer mit einer knappen Bemerkung, die jeden Enthusiasmus ersterben ließ, egal wovon gerade die Rede war. Dasselbe gelang ihm auch mit einer anderen Technik, nämlich durch Fragen. Jemand erzählte etwas, erzählte so lebhaft, dass alle wie gebannt zuhörten, und Belbo betrachtete ihn mit seinen blaugrünen, immer ein wenig zerstreut blickenden Augen, hielt das Glas in Hüfthöhe, als hätte er längst zu trinken vergessen, und fragte dann:»Und so ist es wirklich gewesen?«Oder:»Und das haben Sie im Ernst gesagt?«Ich weiß nicht was dabei geschah, aber an dem Punkt begann jeder an der Erzählung zu zweifeln, auch der Erzähler. Es musste der piemontesische Tonfall sein, der Belbos Affirmationen zu Fragen machte und seinen Fragen zu Spott. Piemontesisch an Belbo war auch seine Art zu sprechen, ohne dem Gegenüber zu tief in die Augen zu sehen, aber nicht wie einer, der mit dem Blick ausweicht. Belbos Blick entzog sich nicht dem Dialog. Er bewegte sich einfach, fixierte plötzlich Schnittpunkte von Parallelen, auf die man nicht geachtet hatte, irgendwo an einem unbestimmten Punkt im Raum, und gab einem so das Gefühl, als hätte man bis zu diesem Augenblick blöde den einzigen irrelevanten Punkt angestarrt.







Date: 2015-12-13; view: 371; Нарушение авторских прав



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