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Chochmah 13 page





»Okay, und jetzt die Popelicans. Wer sind die?«

»Es sind die Katharer. Einer der Schmähnamen, die man jenen Ketzern gegeben hat, war Popelicans oder Popelicant. Die Katharer in Okzitanien sind vernichtet worden, ich bin nicht so naiv, an ein Treffen in den Ruinen von Montségur zu glauben, aber die Sekte ist nicht tot, es gibt eine ganze Geografie des okkulten Katharertums, das sogar Dante hervorgebracht hat, und die Dichter des dolce stil nuovo und die Sekte der Fedeli d'Amore. Das fünfte Treffen ist irgendwo in Norditalien oder in Südfrankreich.«

»Und das letzte Treffen?«

»Nun, wo ist der älteste, heiligste und stabilste aller keltischen Steine, das Sanktuar der Sonnengottheit, das privilegierte Observatorium, in dem die Nachfahren der Templer von Provins, ans Ziel ihres Planes gelangt und nunmehr vereint, die von den sechs Siegeln verhüllten Geheimnisse miteinander vergleichen können, um endlich herauszufinden, wie sich die ungeheure Macht ausnutzen lässt, die der Besitz des Heiligen Grals verleiht? In England natürlich, es ist der magische Kreis von Stonehenge! Was sonst?«

»O basta la«, sagte Belbo. Nur ein Piemontese kann die Gemütslage verstehen, in der man diesen Ausdruck höflichen Staunens vorbringt Keines seiner Äquivalente in anderen Sprachen oder Dialekten (Was Sie nicht sagen! Dis donc! Are you kidding?) kann das souveräne Desinteresse wiedergeben, den Fatalismus, mit dem er die unerschütterliche Überzeugung bekräftigt, dass die andern allesamt, und rettungslos, Kinder einer unbeholfenen Gottheit sind.

Aber der Oberst war kein Piemontese und schien geschmeichelt von Belbos Reaktion.

»Ja, sehen Sie? Das ist der Plan, das ist die Ordonation in ihrer wunderbaren Schlichtheit und Kohärenz. Und beachten Sie Folgendes: Nehmen Sie eine Karte von Europa und Asien, ziehen Sie die Linie, der die Etappen des Planes folgen, vom Norden, wo die Burg steht, nach Jerusalem, von Jerusalem nach Agarttha, von Agarttha nach Chartres, von Chartres an die Küsten des Mittelmeers und von da nach Stonehenge. Heraus kommt eine Zeichnung, eine Rune etwa in dieser Form.«

 

The Seal of Focalor

 

aus A. E. Waite, The Book of Black Magic, London 1898

 

»Und was ist das?«, fragte Belbo.

»Das ist dieselbe Rune, die einige der wichtigsten Zentren der templerischen Esoterik idealiter miteinander verbindet: Amiens, Troyes, das Reich des heiligen Bernhard an den Rändern des Forèt d'Orient, Reims, Chartres, Rennes‑le‑Château und den Mont Saint‑Michel, eine weitere uralte druidische Kultstätte. Und dieselbe Zeichnung erinnert auch an das Sternbild der Jungfrau.«

»Ich bin zwar nur Dilettant in Astronomie«, sagte Diotallevi schüchtern,»aber soweit ich mich erinnere, sieht die Jungfrau ganz anders aus und hat elf Sterne... «

Der Oberst lächelte nachsichtig:»Meine Herren, meine Herren, Sie wissen besser als ich, dass alles davon abhängt, wie man die Linien zieht, und dass man sie dann als Wagen oder als Bär betrachten kann, ganz nach Belieben, und wie schwer es zu entscheiden ist, ob ein Stern noch zu einer Konstellation gehört oder nicht mehr. Sehen Sie sich die Jungfrau noch einmal an, betrachten Sie Spika als unteren Punkt, entsprechend der provencalischen Küste, nehmen Sie insgesamt nur fünf Sterne, und die Ähnlichkeit wird sie frappieren.«

»Man muss nur entscheiden, welche Sterne man weglässt«, sagte Belbo.

»Genau«, bestätigte der Oberst.

»Hören Sie«, sagte Belbo,»wie können Sie ausschließen, dass die Treffen planmäßig stattgefunden haben und die Ritter bereits an der Arbeit sind, ohne dass wir es wissen?«»Ich sehe nirgendwo die Symptome, und erlauben Sie mir zu sagen: leider. Der Plan ist unterbrochen worden, vielleicht sind diejenigen, die ihn zu Ende fuhren sollten, nicht mehr da, vielleicht haben die Gruppen der Sechsunddreißig sich im Zuge einer weltweiten Katastrophe aufgelöst. Doch eine Handvoll Beherzter, die die richtigen Informationen hätte, könnte die Fäden wieder aufnehmen. Jenes Etwas ist noch da. Und ich suche nach den richtigen Männern. Deshalb will ich das Buch veröffentlichen: um Reaktionen hervorzurufen. Und gleichzeitig versuche ich mich in Kontakt mit Leuten zu setzen, die mir helfen können, die Antwort in den Mäandern des traditionellen Wissens zu suchen. Gerade heute wollte ich den größten Experten in diesen Dingen treffen. Doch leider, obwohl eine Leuchte, hat er mir nichts sagen können, auch wenn er sich sehr für meine Geschichte interessierte und mir ein Vorwort versprochen hat... «


»Entschuldigen Sie«, sagte Belbo,»aber war es nicht ein bisschen unklug, Ihr Geheimnis jenem Herrn anzuvertrauen? Sie selbst haben doch von Ingolfs Fehler gesprochen... «

»Ich bitte Sie«, antwortete der Oberst,»Ingolf war ein armer Tropf. Ich habe mich mit einem über jeden Verdacht erhabenen Gelehrten in Verbindung gesetzt. Einem Mann, der keine voreiligen Hypothesen wagt. Was Sie schon daran ersehen können, dass er mich gebeten hat, mit der Präsentation meines Werkes in einem Verlag lieber noch zu warten, bis er alle strittigen Punkte geklärt habe... Nun, ich wollte mir seine Sympathie nicht verscherzen und habe ihm nicht gesagt, dass ich zu Ihnen gehen würde, aber Sie werden verstehen, dass ich, in dieser Phase meiner Bemühungen angelangt, mit Recht ungeduldig bin. Jener Herr... ach, zum Teufel mit der Zurückhaltung, ich möchte nicht, dass Sie mich für einen Aufschneider halten. Es handelt sich um Rakosky... «Er machte eine Pause und wartete auf unsere Reaktion.»Um wen?«enttäuschte ihn Belbo.

»Na, um den großen Rakosky! Eine Autorität in der Traditionsforschung, Exdirektor der Cahiers du Mystère! «»Ah«, sagte Belbo.»Ja, mir scheint, Rakosky, sicher... «»Eh bien, ich behalte mir vor, meinen Text endgültig zu überarbeiten, nachdem ich noch einmal die Ratschläge jenes Herrn angehört habe, aber ich möchte die Sache beschleunigen, und wenn ich einstweilen zu einer Einigung mit Ihrem Hause käme... Ich wiederhole, die Sache ist eilig, ich muss Reaktionen wecken, Hinweise sammeln... Es gibt Leute, die Bescheid wissen und nicht reden... Bedenken Sie nur, meine Herren: genau 1944, obwohl ihm aufgeht, dass er den Krieg verloren hat, beginnt Hitler von einer Geheimwaffe zu sprechen, die ihm erlauben soll, die Lage zu wenden. Es heißt, er sei verrückt gewesen. Und wenn er nun nicht verrückt war? Können Sie mir folgen?«Auf seiner Stirn glänzten Schweiß tropfen, und sein Schnurrbart sträubte sich fast, wie bei einer Katze.»Kurzum«, schloss er,»ich werfe den Köder aus. Wir werden ja sehen, ob jemand anbeißt.«

Nach allem, was ich von Belbo damals wusste und dachte, hätte ich nun erwartet, dass er den Oberst mit ein paar höflichen Sätzen hinauskomplimentieren würde. Statt dessen sagte er:»Hören Sie, Oberst, die Sache klingt hochinteressant, ganz unabhängig von der Frage, ob es ratsam für Sie ist, mit uns oder lieber mit einem anderen Verlag abzuschließen. Sie haben doch hoffentlich noch zehn Minuten Zeit, nicht wahr?«Dann wandte er sich an mich:»Für Sie ist es spät, Casaubon, ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Vielleicht sehen wir uns morgen, ja?«

Es war eine Entlassung. Diotallevi fasste mich unter den Arm und sagte, er müsse auch gehen. Wir verabschiedeten uns. Der Oberst gab Diotallevi einen warmen Händedruck und warf mir ein knappes Kopfnicken zu, begleitet von einem kühlen Lächeln.


Während wir die Treppe hinuntergingen, sagte Diotallevi:»Sicher fragen Sie sich, warum Belbo Sie hinausgeschickt hat. Nehmen Sie's nicht als Unhöflichkeit. Er muss dem Oberst ein sehr diskretes Angebot machen. Die Diskretion ist eine Anordnung von Signor Garamond. Ich verziehe mich auch, um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen.«

Wie ich später begriff, versuchte Belbo, den Oberst der Hydra Manuzio in den Rachen zu werfen.

Ich schleppte Diotallevi zu Pilade, wo ich einen Campari trank und er einen Rabarbaro. Das schien ihm, sagte er, mönchisch, archaisch und quasi templerisch.

Ich fragte ihn, was er von dem Oberst hielt.

»In Verlagen«, sagte er,»fließt aller Schwachsinn der Welt zusammen. Aber da im Schwachsinn der Welt die Weisheit des Höchsten aufblitzt, betrachtet der Weise den Schwachsinnigen mit Demut.«Dann entschuldigte er sich, er müsse gehen.»Heute Abend habe ich ein Festmahl.«

»Eine Party?«, fragte ich.

Er schien verstört ob meiner Seichtheit. »Sohar«, präzisierte er. »Lech Lechah. Noch ganz unverstandene Seiten.«

 

21

 

 

... des grâles, der sô swaere wigt daz in diu valschlîch menscheit nimmer von der stat getreit.

([der] Gral [] wiegt so schwer, daß ihn die ganze sündige Menschheit nicht von der Stelle rücken könnte)

 

Wolfram von Eschenbach, Parzival, IX, 477

 

Der Oberst hatte mir nicht gefallen, aber er hatte mich interessiert. Man kann auch lange und fasziniert einen Gecko betrachten. Ich war dabei, die ersten Tropfen des Giftes zu kosten, das uns alle ins Verderben führen sollte.

Am folgenden Nachmittag ging ich wieder zu Belbo, und wir sprachen ein wenig über unseren Besucher. Belbo meinte, er sei ihm wie ein Mythomane vorgekommen.»Haben Sie gesehen, wie er diesen Rokoschki oder Raskolski erwähnte, als wäre es Kant?«

»Na, und dann sind das doch alte Geschichten«, sagte ich.»Ingolf war ein Irrer, der daran glaubte, und der Oberst ist ein Irrer, der an Ingolf glaubt.«

»Vielleicht hatte er gestern daran geglaubt, und heute glaubt er an was anderes. Ich will Ihnen was sagen: Bevor ich ihn gestern wegschickte, habe ich ihm eine Verabredung für heute Vormittag mit... mit einem anderen Verlag arrangiert, einem gefräßigen Verlag, der jedes Buch druckt, wenn es der Autor selbst finanziert. Er schien begeistert. Na, und vorhin erfahre ich, dass er gar nicht hingegangen ist. Dabei hatte er mir die Fotokopie der chiffrierten Botschaft hiergelassen, hier, sehen Sie. Er lässt das Geheimnis der Templer einfach so rumliegen, als wär's nichts! Diese Leute sind so.«


In dem Augenblick klingelte das Telefon. Belbo nahm ab.»Ja? Am Apparat, ja, Verlag Garamond. Guten Tag. Bitte... Ja, er ist gestern Nachmittag hergekommen, um mir ein Buch anzubieten... Entschuldigen Sie, über Verlagsangelegenheiten kann ich prinzipiell nicht sprechen, wenn Sie mir bitte sagen würden...«

Er hörte ein paar Sekunden zu, dann sah er mich plötzlich kreideweiß an und sagte:»Der Oberst ist umgebracht worden oder so was in der Art.«Dann wieder in den Apparat:»Entschuldigen Sie, ich sprach gerade mit Casaubon, einem Mitarbeiter, der gestern bei dem Gespräch mit dabei war... Ja, Oberst Ardenti ist hergekommen, um uns von einem Projekt zu erzählen, das er im Auge hat, eine Geschichte, die ich für reine Fantasterei halte, über einen angeblichen Schatz der Templer. Das waren Ordensritter im Mittelalter...«

Instinktiv legte er eine Hand über den Hörer, als wollte er das Gespräch abschirmen, dann sah er, dass ich ihn beobachtete, nahm die Hand weg und sagte zögernd:»Nein, Doktor De Angelis, dieser Herr hat von einem Buch gesprochen, das er schreiben wollte, aber nur ganz vage... Wie? Alle beide? Jetzt gleich? Geben Sie mir die Adresse.«

Er legte auf. Blieb ein paar Sekunden lang schweigend sitzen, nervös mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelnd.»Tja, Casaubon, entschuldigen Sie bitte, ich hab Sie ganz unbedacht in die Sache mit reingezogen. Die Nachricht hat mich so überrascht. Es war ein Kommissar, ein gewisser De Angelis. Scheint, dass der Oberst in einer Pension gewohnt hat, und jemand sagt, er hätte ihn heute Nacht dort tot aufgefunden...«

»Sagt? Und dieser Kommissar weiß nicht, ob es stimmt?«

»Ja, klingt komisch, aber der Kommissar weiß es nicht. Scheint, dass sie meinen Namen und die Verabredung gestern mit mir in einem Notizbuch gefunden haben. Ich glaube, wir sind ihre einzige Spur. Was soll ich Ihnen sagen? Kommen Sie, fahren wir hin.«

Wir riefen ein Taxi. Unterwegs nahm mich Belbo am Arm.»Casaubon, vielleicht ist es ja nur ein Zufall. Jedenfalls mein Gott, vielleicht denke ich ja verquer, aber bei uns zu Hause sagte man immer ›besser keine Namen nennen‹... Es gab da so ein Krippenspiel, im Dialekt, das ich als Kind gesehen habe, so eine fromme Farce mit Hirten, bei denen man nicht recht wusste, ob sie aus Bethlehem waren oder aus den Hügeln von Asti... Die drei Könige aus dem Morgenland kamen und fragten den Hirtenjungen, wie sein Padrone heißt, und er sagte: Gelindo. Als Gelindo das hörte, nahm er seinen Stock und gab dem Jungen eine Tracht Prügel, weil man, wie er sagte, keine Namen vor irgendwelchen Dahergelaufenen nennt.. Also jedenfalls, wenn Sie einverstanden sind: der Oberst hat uns nichts von Ingolf und von der Botschaft aus Provins erzählt.«

»Wir wollen ja nicht wie Ingolf enden«, sagte ich und versuchte zu lächeln.

»Ich wiederhole, es ist sicher bloß eine Dummheit. Aber aus gewissen Sachen hält man sich lieber raus.«

Ich erklärte mich einverstanden, blieb aber beunruhigt. Schließlich war ich ein Student, der an Demonstrationen teilnahm, und eine Begegnung mit der Polizei machte mir Unbehagen. Wir gelangten zu der Pension. Keine der besseren, ziemlich weit draußen. Vor dem Haus Polizisten. Sie dirigierten uns sofort zu dem Appartement – wie sie es nannten – des Oberst Ardenti. Auf der Treppe weitere Polizisten. Sie führten uns in Nummer 27 (sieben und zwei macht neun, dachte ich). Zimmer mit Bett, Vorraum mit Tischchen, Küchenecke, Bad mit Dusche, ohne Vorhang, durch die halb offene Tür war nicht zu sehen, ob es auch ein Bidet gab, aber in einer Pension wie dieser war das wahrscheinlich der erste und einzige Komfort, den die Gäste verlangten. Fade Möblierung, nicht viel persönliches Zeug, aber alles wüst durcheinander, jemand musste in großer Eile Schränke und Koffer durchwühlt haben. Vielleicht die Polizei, mit den Beamten in Zivil und denen in Uniform zählte ich insgesamt zehn Personen.

Ein noch ziemlich junger Typ mit ziemlich langen Haaren kam uns entgegen.»Ich bin De Angelis. Doktor Belbo? Doktor Casaubon?«

»Ich bin nicht Doktor, ich studiere noch.«

»Studieren Sie, studieren Sie. Wenn Sie nicht Ihren Doktor machen, werden Sie nie zur Polizei gehen können, und Sie ahnen ja gar nicht, was Ihnen da entgeht.«Er wirkte genervt.»Entschuldigen Sie, aber fangen wir gleich mit den nötigen Präliminarien an. Hier, dies ist der Pass, der dem Bewohner dieses Zimmers gehörte, ausgestellt auf einen Oberst Ardenti. Erkennen Sie ihn?«

»Er ist es«, sagte Belbo.»Aber helfen Sie mir, mich zurechtzufinden. Am Telefon habe ich nicht verstanden, ob er tot ist oder...«

»Ich wäre froh, wenn Sie mir das sagen könnten«, knurrte De Angelis mit einer Grimasse.»Aber ich denke, Sie haben das Recht, etwas mehr zu erfahren. Also, dieser Signor Ardenti, oder Oberst oder was er war, ist vor vier Tagen hier abgestiegen. Sie werden gemerkt haben, es ist nicht gerade das Grand Hotel. Es gibt einen Portier, der um elf schlafen geht, weil die Gäste Hausschlüssel haben, dann zwei bis drei Zimmermädchen, die morgens kommen, um die Betten zu machen, und einen versoffenen Alten, der als Hausdiener fungiert und den Gästen Getränke bringt, wenn sie klingeln. Versoffen, ich wiederhole es, und verkalkt: ihn zu verhören war eine Qual. Der Portier behauptet, dass er gern nachts als Gespenst durch die Flure schleicht und schon manchen Gast erschreckt hat. Gestern Abend so gegen zehn sieht der Portier den Ardenti nach Hause kommen, zusammen mit zwei Herren, die er mit raufnimmt. Hier kümmert man sich nicht mal drum, wenn einer 'ne ganze Bande von Transvestiten mit aufs Zimmer nimmt, also wieso dann um zwei normale Typen, auch wenn sie, wie der Portier meint, einen ausländischen Akzent hatten. Um halb elf klingelt Ardenti nach dem Alten und lässt sich 'ne Flasche Whisky, ein Mineralwasser und drei Gläser bringen. Gegen eins oder halb zwei hört es der Alte dann erneut aus Nummer 27 klingeln, schrill und stoßweise, sagt er. Aber so, wie wir ihn heute Morgen vorfanden, muss er um die Zeit schon 'ne ganze Menge intus gehabt haben, und nicht vom Besten. Er steigt rauf, klopft, hört keine Antwort, schließt mit seinem Passepartout auf, findet alles durcheinander, so wie's jetzt ist, und auf dem Bett den Oberst, mit aufgerissenen Augen und einer Drahtschlinge um den Hals. Der Alte rennt runter, weckt den Portier, keiner der beiden hat Lust, noch mal raufzugehen, sie greifen zum Telefon, aber die Leitung ist tot Heute Morgen funktionierte sie bestens, aber wollen wir's ihnen mal glauben. Darauf läuft der Portier zu der Telefonzelle auf dem kleinen Platz an der Ecke, um die Polizei zu verständigen, während der Alte sich zu dem Haus gegenüber schleppt, wo ein Arzt wohnt. Alles in allem brauchen sie etwa zwanzig Minuten, kommen zurück, warten unten ganz verstört, der Doktor hat sich inzwischen angezogen und kommt fast gleichzeitig mit der Polizeistreife. Sie gehen zu Nummer 27 rauf, und im Bett ist niemand.«

»Wie niemand?«, fragte Belbo.

»Nichts, keine Leiche, das Bett ist leer. Daraufhin geht der Arzt wieder nach Hause, und meine Kollegen finden bloß das, was Sie hier sehen. Sie befragen den Alten und den Portier, mit dem Ergebnis, das Sie kennen. Wo sind die zwei Herren geblieben, die um zehn mit dem Ardenti raufgegangen waren? Keine Ahnung, sie konnten auch zwischen elf und eins gegangen sein, und niemand hätte es gemerkt. Waren sie noch im Zimmer, als der Alte reinkam? Keine Ahnung, er war nur eine Minute drin und hat weder in die Küchenecke noch ins Bad gesehen. Hätten sie sich mit der Leiche verdrücken können, als die beiden Unglücksraben draußen waren, um Hilfe zu holen? Schon möglich, es gibt eine Außentreppe, die zum Hof führt, und von da kommt man durch eine Hintertür in eine Seitenstraße. Aber vor allem, war überhaupt eine Leiche da gewesen, oder war der Oberst womöglich um Mitternacht mit den beiden Typen weggegangen, und der Alte hat alles bloß geträumt? Der Portier wiederholt, es wäre nicht das erste Mal, dass der Alte weiße Mäuse gesehen hätte, einmal hätte er eine Dame nackt am Fenster erhängt gesehen, und dann sei sie 'ne halbe Stunde später frisch wie 'ne Rose nach Hause gekommen. Auf dem Klappbett des Alten hätte man so ein Pornoheftchen gefunden, vielleicht sei ihm die schöne Idee gekommen, mal raufzuschleichen und durchs Schlüsselloch in das Zimmer der Dame zu spähen, und dann hätte er einen Vorhang gesehen, der sich im Zwielicht bewegte... Das einzig Sichere ist: das Zimmer befindet sich nicht in normalem Zustand, und der Ardenti ist verschwunden. Aber jetzt habe ich schon zu lange geredet Jetzt sind Sie an der Reihe, Doktor Belbo. Die einzige Spur, die wir haben, ist ein Zettel, der hier neben dem Tischchen am Boden lag: 14 Uhr, Hotel Principe e Savoia, Mr. Rakosky; 16 Uhr, Garamond, Doktor Belbo. Sie haben mir bestätigt, dass er bei Ihnen war. Nun sagen Sie mir, was passiert ist.«

 

22

 

 

al des grâles pflihtgesellen von in vrâgens niht enwellen.

(Die Gralsritter wollten nicht mehr befragt werden)

 

Wolfram von Eschenbach, Parzival, XVI, 819

 

Belbo fasste sich kurz: er wiederholte, was er dem Kommissar schon am Telefon gesagt hatte, ohne weitere Einzelheiten von Belang. Der Oberst habe uns eine obskure Geschichte erzählt, etwas von einem Schatz, dessen Spuren er in gewissen Dokumenten in Frankreich gefunden hätte, aber Genaueres habe er nicht verraten. Anscheinend glaube er, ein gefährliches Geheimnis entdeckt zu haben, und wolle es publik machen, um nicht der Einzige zu sein, der davon weiß. Er habe angedeutet, dass andere vor ihm, die das Geheimnis entdeckt hätten, auf mysteriöse Weise verschwunden seien. Die Dokumente habe er nur zeigen wollen, wenn ihm ein Vertrag zugesichert würde, aber er, Belbo, könne niemandem einen Vertrag zusichern, bevor er nicht etwas gesehen habe, und so seien sie mit einer vagen Verabredung auseinandergegangen. Der Oberst habe noch ein Treffen mit einem gewissen Rakosky erwähnt und gesagt, es handle sich um den ehemaligen Direktor der Cahiers du Mystère. Er wolle ihn um ein Vorwort bitten. Anscheinend habe Rakosky ihm geraten, mit der Publikation noch abzuwarten. Der Oberst habe ihm nicht gesagt, dass er zu Garamond gehen wollte. Das sei alles.

»Gut, gut«, sagte De Angelis.»Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht? «

»Er ist uns ziemlich exaltiert vorgekommen, und er hat auf eine Vergangenheit, sagen wir: etwas nostalgischer Art angespielt, auch auf eine Zeit in der Fremdenlegion.«

»Dann hat er Ihnen die Wahrheit gesagt, wenn auch nicht die ganze. In gewisser Hinsicht hatten wir schon ein Auge auf ihn, ohne uns allzu viel Mühe zu machen. Von solchen Fällen haben wir viele... Also, Ardenti war nicht sein richtiger Name, aber er hatte einen regulären französischen Pass. Seit ein paar Jahren kam er ab und zu kurz nach Italien, und wir hatten ihn, ohne sicher zu sein, als einen gewissen Capitano Arcoveggi identifiziert, der 1945 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Kollaboration mit der SS, um ein paar Leute nach Dachau zu schicken. Auch in Frankreich hatte man ein Auge auf ihn, er war einmal wegen Betrugs angeklagt und hatte sich gerade noch rausreden können. Wir nehmen an, nehmen an, wohlgemerkt, dass er derselbe ist, der unter dem Namen Fassotti letztes Jahr von einem Kleinindustriellen aus Peschiera Borromeo angezeigt worden war. Er hatte ihm eingeredet, im Corner See liege noch Mussolinis legendärer Dongo‑Schatz, er habe die Stelle identifiziert und brauchte bloß ein paar Zigmillionen Lire, für zwei Taucher und ein Motorboot.. Kaum hatte er die Moneten eingesackt verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Nun bestätigen Sie mir, dass er die Schatzsuchermanie hatte.«

»Und dieser Rakosky?«, fragte Belbo.

»Schon überprüft. Im Principe e Savoia ist ein Rakosky, Wladimir abgestiegen, mit einem französischen Pass. Vage Beschreibung, distinguierter Herr. Dieselbe Beschreibung wie von dem Portier hier in der Pension. Bei der Alitalia heißt es, er hätte heut morgen den ersten Flug nach Paris genommen. Ich habe Interpol verständigt. He, Annunziata, ist schon was aus Paris gekommen?«

»Noch nichts, Dottore.«

»Na fein. Also dieser Oberst Ardenti, oder wie er heißt, kommt vor vier Tagen nach Mailand, wir wissen nicht, wie er die ersten drei Tage verbringt, gestern Nachmittag um zwei trifft er vermutlich den Rakosky im Hotel, aber er sagt ihm nicht, dass er zu Ihnen gehen will, und das finde ich interessant. Abends kommt er hierher, wahrscheinlich mit Rakosky und einem anderen Typ, und von da an wird alles ganz unklar. Auch wenn die beiden ihn nicht umgebracht haben, durchsuchen sie sicher das Appartement. Was suchen sie? In der Jacke... ach ja, wenn er ausgegangen ist, muss er in Hemdsärmeln ausgegangen sein, denn die Jacke mit dem Pass ist noch da, aber glauben Sie nicht, dass die Sache damit einfacher wird, denn der Alte sagt, er hätte ihn mit der Jacke auf dem Bett liegen sehen, aber vielleicht war's ja auch nur eine Hausjacke, Herrgott, mir scheint, ich bin hier in einem Käfig voller Narren... also in der Jacke, sagte ich, hatte er Geld genug, fast zu viel... Demnach haben sie etwas anderes gesucht Und die einzige gute Idee haben Sie mir gegeben: Der Oberst hatte Dokumente. Wie sahen sie aus?«

»Er hatte einen braunen Ordner«, sagte Belbo.

»Mir kam er rot vor«, sagte ich.

»Braun«, beharrte Belbo.»Aber vielleicht täusche ich mich.«

»Ob braun oder rot«, sagte De Angelis,»hier ist er jedenfalls nicht mehr. Die beiden Herren von gestern Abend müssen ihn mitgenommen haben. Also muss es um diesen Ordner gehen. Meines Erachtens wollte Ardenti gar kein Buch veröffentlichen. Er hatte irgendwelches Material zusammengetragen, um Rakosky zu erpressen, und wollte ihn mit Verlagskontakten unter Druck setzen. Das würde zu ihm passen. Aber man könnte auch noch andere Hypothesen aufstellen. Die zwei gehen weg, nachdem sie ihn bedroht haben, Ardenti kriegt Angst, schnappt sich den Ordner, lässt alles andere liegen und macht sich Hals über Kopf aus dem Staub. Und vorher macht er womöglich, wer weiß aus welchen Gründen, den Alten glauben, er wäre ermordet worden... Aber das ist alles viel zu romanhaft und würde das Durcheinander nicht erklären. Andererseits, wenn die zwei ihn umbringen und den Ordner entwenden, warum entwenden sie dann auch die Leiche? Naja, wir werden ja sehen. Entschuldigen Sie, ich bin leider gezwungen, Ihre Personalien aufzunehmen.«

Er drehte meinen Studentenausweis zweimal in der Hand.»Sie studieren Philosophie, eh?«

»Wir sind viele«, sagte ich.

»Sogar zu viele. Und Sie beschäftigen sich mit diesen Templern... Sagen Sie, wenn ich mich über diese Leute informieren wollte, was müsste ich dann lesen?«

Ich nannte ihm zwei allgemein verständliche, aber einigermaßen seriöse Bücher. Sagte ihm, dass er darin zuverlässige Informationen bis zum Prozess finden würde, aber danach sei alles Gefasel.

»Aha, verstehe«, sagte er.»Nun also auch die Templer. Eine Gruppe, die ich noch nicht kannte.«

Der vorhin angesprochene Annunziata erschien mit einem Telegramm:»Hier ist die Antwort aus Paris, Dottore.«

Er las.»Na bestens. In Paris ist dieser Rakosky unbekannt, aber seine Passnummer entspricht derjenigen eines vor zwei Jahren gestohlenen Dokuments. Damit hätten wir glücklich alles beisammen. Monsieur Rakosky existiert nicht. Sie sagen, er war Direktor einer Zeitschrift... wie hieß sie noch gleich?«Er notierte sich den Namen.»Wir werden das überprüfen, aber ich wette, dass auch die Zeitschrift nicht existiert, oder sie hat ihr Erscheinen seit wer weiß wie lange schon eingestellt. Gut, meine Herren. Danke für Ihre Mitarbeit, vielleicht muss ich Sie noch mal belästigen. Ach ja, noch eine letzte Frage. Hat dieser Ardenti irgendwie durchblicken lassen, dass er Verbindungen zu politischen Gruppen hat?«

»Nein«, sagte Belbo.»Er machte eher den Eindruck, als hätte er die Politik aufgegeben, um sich der Schatzsuche zu widmen.«

»Und der Überlistung von Unbedarften«, ergänzte der Kommissar. Dann wandte er sich an mich:»Ihnen hat er nicht gefallen, denke ich mir.«

»Mir gefallen Typen wie er nicht«, sagte ich.»Aber es kommt mir nicht in den Sinn, sie mit Drahtschlingen zu erwürgen. Höchstens idealiter.«

»Natürlich. Ist realiter auch zu anstrengend. Aber keine Angst, Signor Casaubon, ich gehöre nicht zu denen, die alle Studenten für Kriminelle halten. Gehen Sie beruhigt Ihrer Wege. Viel Glück bei der Promotion.«

Belbo hatte noch eine Frage:»Entschuldigen Sie, Kommissar, nur um zu kapieren – sind Sie von der Mordkommission oder von der Politischen?«

»Gute Frage. Mein Kollege von der Mordkommission ist gestern Nacht hergekommen. Dann haben sie in den Archiven etwas über die Vergangenheit des Ardenti gefunden und die Sache mir übertragen. Ich bin von der Politischen. Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob ich hier der richtige bin. Das Leben ist nicht so einfach wie in den Kriminalromanen.«

»Dachte ich mir«, sagte Belbo und gab ihm die Hand.

Wir gingen, und ich war nicht beruhigt. Nicht wegen des Kommissars, der mir in Ordnung schien, sondern weil ich zum ersten Mal in meinem Leben mitten in einer obskuren Affäre steckte. Und gelogen hatte. Und Belbo mit mir.

Wir verabschiedeten uns auf der Straße vor seinem Büro und waren beide verlegen.

»Wir haben nichts Schlimmes getan«, sagte Belbo schuldbewusst.»Ob der Kommissar nun von Ingolf und den Katharern weiß oder nicht, macht kaum viel Unterschied. Das waren doch alles bloß Spinnereien. Vielleicht musste Ardenti aus ganz anderen Gründen verschwinden, da gäbe es Tausende. Vielleicht ist Rakosky vom israelischen Geheimdienst und hat eine alte Rechnung beglichen. Vielleicht ist er von irgendeinem großen Boss geschickt worden, den der Oberst reingelegt hatte. Vielleicht war er ein alter Kamerad aus der Fremdenlegion mit einem Hass auf ihn. Vielleicht war er ein algerischer Killer. Vielleicht war die Sache mit dem Templerschatz bloß eine Nebenaffäre im Leben unseres Obristen. Jaja, ich weiß schon, der Ordner ist weg, ob rot oder braun. Das haben Sie übrigens gut gemacht, dass Sie mir da widersprochen haben, so war's klar, dass wir ihn nur flüchtig gesehen hatten...«







Date: 2015-12-13; view: 408; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ



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