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Tifereth 10 page





Barruels Denkschrift hatte eine gewisse Wirkung gehabt, fanden sich doch in den französischen Staatsarchiven mindestens zwei von Napoleon angeforderte Polizeiberichte über die klandestinen Sekten. Verfasser dieser Berichte war ein gewisser Charles de Berkheim, der nichts Besseres zu tun wusste – wie alle Geheimdienstler, die sich ihre Informationen immer nur dort holen, wo sie schon veröffentlicht sind –, als zuerst das Buch des Marquis de Luchet und dann das von Barruel abzuschreiben.

Angesichts dieser das Blut gefrierenmachenden Beschreibung der Illuminaten und dieser hellsichtigen Anprangerung eines Direktoriums Unbekannter Oberer mit der Fähigkeit, die Welt zu beherrschen, zögerte Napoleon nicht und beschloss, einer der ihren zu werden. Er ließ seinen Bruder Joseph zum Großmeister des Grand Orient ernennen und nahm selbst, wie von vielen Quellen bezeugt wird, Kontakte zu den Freimaurern auf, ja, nach Auskunft anderer Quellen gelangte er in ihren Reihen sogar zu höchsten Würden. Unklar ist nur, nach welchem Ritus. Vielleicht sicherheitshalber nach allen.

Wie viel Napoleon gewusst haben mochte, wussten wir nicht, aber wir vergaßen auch nicht, daß er eine Zeit lang in Ägypten gewesen war, und wer weiß, mit welchen Weisen er dort im Schatten der Pyramiden gesprochen hatte (und hier begreift auch ein Kind, daß die berühmten vierzig Jahrhunderte, die auf ihn herabsehen, eine deutliche Anspielung auf die Hermetische Tradition waren).

Doch er muß vieles gewusst haben, denn 1806 berief er eine Versammlung führender französischer Juden ein. Die offiziellen Gründe waren banal: Versuch, den Zinswucher einzudämmen, sich die Treue der israelitischen Minderheit zu sichern, neue Geldgeber zu finden... Aber das erklärt nicht, wieso er beschlossen hatte, die Versammlung»Großes Synedrium«zu nennen, was die Vorstellung eines Direktoriums mehr oder minder Unbekannter Oberer nahelegte. In Wahrheit hatte der schlaue Korse die Repräsentanten des Jerusalemer Flügels identifiziert und versuchte nun, die verstreuten Gruppen zusammenzubringen.

»Nicht zufällig stehen die Truppen von Marschall Ney 1808 in Tomar. Begreifen Sie den Zusammenhang?«

»Wir sind nur hier, um Zusammenhänge zu begreifen.«

»Napoleon, der im Begriff ist, England zu schlagen, hat nun so gut wie alle europäischen Zentren in der Hand, und durch die französischen Juden auch die Jerusalemer. Wer fehlt ihm noch?«

»Die Paulizianer.«

»Richtig. Und wir haben immer noch nicht entschieden, wo sie geblieben sind. Aber das legt uns Napoleon nahe, der sie dort suchen geht, wo sie sind, nämlich in Russland.«

Seit Jahrhunderten im slawischen Raum blockiert, hatten die Paulizianer sich naturgemäß unter den diversen Etiketten des russischen Mystizismus reorganisiert. Einer der einflussreichsten Berater Alexanders I. war Fürst Galitzin, der in Verbindung mit einigen Sekten martinistischer Prägung stand. Und wen fanden wir in Russland, gut zwölf Jahre vor Napoleon dort als Bevollmächtigter des Hauses Savoyen eingetroffen, um Verbindungen zu den mystischen Zirkeln in St. Petersburg herzustellen? De Maistre.

Inzwischen misstraute er jeder Organisation von llluminaten, die für ihn identisch mit den Illuministen waren, also den Aufklärern, und mithin den Verantwortlichen für das Blutbad der Revolution. Tatsächlich sprach er in jener Zeit, fast wörtlich Barruel wiederholend, von einer satanischen Sekte, die sich anschicke, die Welt zu erobern, und vermutlich dachte er dabei an Napoleon. Wenn also unser großer Reaktionär sich vornahm, die martinistischen Gruppen zu verführen, so weil er luzide erkannt hatte, daß sie, wenn auch inspiriert von denselben Quellen wie der französische und der deutsche Neutemplerismus, gleichwohl die aktuelle Ausdrucksform der einzigen noch nicht vom westlichen Denken verseuchten Gruppe waren: der Paulizianer.

Aber de Maistres Plan hatte offenbar nicht geklappt, denn 1816 wurden die Jesuiten aus St. Petersburg vertrieben, und de Maistre kehrte zurück nach Turin.

»Na gut«, meinte Diotallevi.»Die Paulizianer hätten wir also wiedergefunden. Lassen wir jetzt Napoleon von der Bühne abtreten, offensichtlich ist es ihm nicht gelungen, sein Ziel zu erreichen, andernfalls hätte er in Sankt Helena nur mit den Fingern zu schnipsen brauchen, um seine Gegner erzittern zu lassen... Wie geht es nun weiter mit all diesen Leuten? Ich verliere allmählich den Überblick.«


»Die Hälfte von ihnen hatte ihn längst verloren«, sagte Belbo.

 

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Oh, wie gut haben Sie diese infernalischen Sekten entlarvt, die dem Antichrist den Weg bereiten... Gleichwohl gibt es da noch eine weitere Sekte, die Sie nur gestreift haben.

Brief von Hauptmann Simonini an Barruel, zitiert nach dem offiziellen Organ der Societas Jesu, La civiltà cattolica, Rom, 21. 10. 1882

 

Napoleons Schachzug mit den Juden hatte zu einer Kurskorrektur bei den Jesuiten geführt. Die Memoires von Barruel enthielten noch keinerlei Anspielung auf die Juden. Aber 1806 bekam Abbé Barruel einen Brief von einem gewissen Hauptmann Simonini, der ihn mit Nachdruck an die jüdische Omnipräsenz erinnerte: Auch Mani und der Alte vom Berge seien Juden gewesen, die Freimaurer seien von den Juden gegründet worden, und sämtliche existierenden Geheimgesellschaften seien von Juden infiltriert.

Der Brief, dessen Inhalt geschickt in Paris bekannt gemacht wurde, brachte Napoleon in Schwierigkeiten, der eben erst mit den Juden in Kontakt getreten war. Dieser Kontakt hatte offenbar auch die Paulizianer beunruhigt, denn kurz danach erklärte der Heilige Synod der Orthodoxen Kirche zu Moskau:»Napoleon beabsichtigt, alle Juden, die Gottes Zorn über das Antlitz der Erde verstreut hat, jetzt wieder zu vereinigen, um sie anzustacheln, die Kirche Christi umzustürzen und Ihn als den wahren Messias auszurufen.«

Der gute Abbé Barruel akzeptierte die Idee, daß die Große Verschwörung nicht nur freimaurerisch, sondern jüdisch‑freimaurerisch sei. Im übrigen war die Idee einer solchen satanischen Weltverschwörung auch sehr geeignet, einen neuen Feind anzugreifen, nämlich die Carbonari und mit ihnen die antiklerikalen Väter des italienischen Risorgimento, von Mazzini bis Garibaldi.

»Aber das alles geschieht in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts«, sagte Diotallevi,»während die große antisemitische Offensive erst gegen Ende des Jahrhunderts einsetzt, mit den sogenannten Protokollen der Weisen von Zion. Und die erscheinen im russischen Raum. Also sind sie eine Initiative der Paulizianer.«

»Natürlich«, sagte Belbo.»Es ist klar, daß die Jerusalemer Gruppe sich mittlerweile in drei Zweige aufgeteilt hat. Der erste Zweig hatte, auf dem Umweg über die spanischen und provenzalischen Kabbalisten, den neutemplerischen Flügel inspiriert, der zweite ist vom Baconschen Flügel absorbiert worden, seine Mitglieder sind jetzt Wissenschaftler und Bankiers. Und über sie fallen die Jesuiten her. Aber es gibt noch einen dritten Zweig, und der hat sich in Russland etabliert. Die russischen Juden sind zum guten Teil kleine Händler und Geldverleiher, und folglich sind sie bei den armen Bauern nicht gerade beliebt, und da die jüdische Kultur seit jeher eine Kultur des Buches war und alle Juden lesen und schreiben können, gehen viele von ihnen hin und vermehren die Reihen der liberalen und revolutionären Intelligenz. Die Paulizianer dagegen sind Mystiker und Reaktionäre, sie haben sich eng mit dem feudalen Adel verbunden und bei Hof eingeschlichen – klar, daß es zwischen ihnen und den Jerusalemern nicht zu Fusionen kommen kann. Daher sind die Paulizianer jetzt daran interessiert, die Juden zu diskreditieren, auch um dann durch die Juden – das haben sie von den Jesuiten gelernt – ihre auswärtigen Gegner in Schwierigkeiten zu bringen, die Neutempler ebenso wie die Baconianer.«


 

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Es kann keinen Zweifel mehr geben. Mit der ganzen Macht und Schrecklichkeit Satans nähert sich das Reich des triumphierenden Königs von Israel unserer nicht erneuerten Welt; der aus dem Blute Zions geborene König, der Antichrist, nähert sich dem Throne der universalen Macht.

Sergej Nilus, Epilog zu den Protokollen

 

Die Idee war akzeptabel. Man brauchte nur zu bedenken, wer die Protokolle in Russland eingeführt hatte.

Einer der einflussreichsten französischen Martinisten um die Jahrhundertwende, der Arzt Gérard Encausse, der sich Papus nannte, hatte Zar Nikolaus II. bei einem seiner Besuche in Paris bezirzt, war dann nach Moskau gefahren und hatte dort als seinen Assistenten einen gewissen Philippe eingeführt, genauer: Philippe Nizier Anselme Vachod. Als Sechsjähriger vom Teufel besessen, mit dreizehn Wunderheiler, dann Hypno‑ und Magnetiseur in Lyon, hatte dieser Philippe sowohl den Zaren wie dessen hysterische Gattin fasziniert. Er wurde an den Hof eingeladen, zum Arzt der Petersburger Militärakademie ernannt, zum General und Staatsrat erhoben. Daraufhin beschlossen seine Gegner, ihm eine ebenso charismatische Figur entgegenzustellen, die sein Prestige unterminieren sollte. Und so kamen sie auf Nilus.

Nilus war ein wandernder Mönch, der in talarähnlichen Gewändern durch die Wälder zog, ausgerüstet mit einem langen Prophetenbart, zwei Frauen, einer kleinen Tochter und einer Assistentin oder Geliebten oder was auch immer, die alle an seinen Lippen hingen. Halb Guru, einer von denen, die dann mit der Kasse durchbrennen, halb Eremit, einer von denen, die andauernd schreien, das Ende sei nah. Und tatsächlich war seine fixe Idee die Verschwörung des Antichrist.

Der Plan seiner Förderer war, ihn zum Popen ordinieren zu lassen, auf daß er dann durch Heirat (eine Frau mehr, eine weniger) mit Elena Alexandrowna Oserowa, einer Hofdame der Zarin, zum Beichtiger des Herrscherpaars würde.

»Ich bin ja ein sanfter Mensch«, sagte Belbo,»aber langsam kommt mir der Verdacht, das Massaker von Zarskoje Selo war eine Rattenvertilgungsaktion.«


Kurz und gut, an einem bestimmten Punkt wurde Nilus dann von den Anhängern Philippes eines ausschweifenden Lebenswandels bezichtigt, und Gott weiß, ob nicht auch sie im Recht waren. Er musste den Hof verlassen, aber an diesem Punkt war ihm jemand zu Hilfe gekommen und hatte ihm den Text der Protokolle zugespielt. Da niemand klar unterschied zwischen Martinisten (die sich an Saint Martin inspirierten) und Martinesisten (Anhängern jenes Martines de Pasqually, den Agliè so wenig mochte) und da Pasqually einem verbreiteten Gerücht zufolge Jude war, konnte man, indem man die Juden diskreditierte, die Martinisten diskreditieren, und indem man die Martinisten diskreditierte, Philippe erledigen.

Tatsächlich war eine erste, unvollständige Version der Protokolle bereits 1903 in der Zeitung Snamja erschienen, einem Petersburger Blatt unter Leitung des militanten Antisemiten Chruschtschewan. 1905 war diese erste Version dann von neuem, ergänzt und mit dem Placet der Zensurbehörde versehen, in einem anonymen Buch mit dem Titel Die Quelle unserer Übel erschienen, das vermutlich von einem gewissen Butmy stammte, der zusammen mit Chruschtschewan an der Gründung jener»Union des Russischen Volkes«beteiligt gewesen war, die später als»Schwarze Hundertschaften«bekannt wurde und gewöhnliche Kriminelle anheuerte, um Pogrome und rechtsextreme Attentate zu begehen. Butmy soll danach, diesmal unter seinem Namen, noch weitere Ausgaben des Werkes herausgebracht haben, nun unter dem Titel Die Feinde der menschlichen Rasse – Protokolle aus den geheimen Archiven der zentralen Kanzlei von Zion.

Aber das waren billige Heftchen. Die erweiterte Version der Protokolle, jene, die dann in alle Weltsprachen übersetzt werden sollte, erschien 1905 im Anhang zur zweiten Auflage des Buches von Sergej Nilus, Das Große im Kleinen: Nahe ist der herandrängende Antichrist und das Reich des Teufels auf Erden, Zarskoje Selo, gefördert von der lokalen Sektion des Roten Kreuzes. Der Rahmen war eine weitergespannte mystische Reflexion, und das Buch gelangte in die Hände des Zaren. Der Metropolit von Moskau ordnete seine Verlesung in allen Moskauer Kirchen an.

»Aber was haben denn diese Protokolle mit unserem Großen Plan zu tun?«fragte ich.»Dauernd ist hier von diesen Protokollen die Rede. Müssen wir die etwa lesen?«

»Nichts ist leichter als das«, antwortete Diotallevi.»Es gibt immer wieder einen Verlag, der sie neu herausbringt. Und wenn sie's früher noch mit dem Gestus der Abscheu taten, angeblich bloß zu Dokumentationszwecken, tun sie's jetzt wieder mehr und mehr mit Befriedigung.«

 

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Die einzige uns bekannte Gesellschaft, die fähig wäre, uns in diesen Künsten Konkurrenz zu machen, könnte die der Jesuiten sein. Aber es ist uns gelungen, die Jesuiten in den Augen des dummen Plebs zu diskreditieren, einfach weil diese Gesellschaft eine offen auftretende Organisation ist, während wir uns hinter den Kulissen halten und das Geheimnis wahren.

Protokolle, V

 

Die Protokolle sind eine Serie von vierundzwanzig programmatischen Erklärungen einer angeblichen Geheimkonferenz angeblicher Weiser von Zion. Die Aussagen dieser Weisen kamen uns ziemlich widersprüchlich vor: Mal wollen sie die Pressefreiheit abschaffen, mal das Freidenkertum ermuntern. Sie kritisieren den Liberalismus, aber ihr Programm ähnelt dem, das die radikale Linke den multinationalen Konzernen zuschreibt, inklusive der Rolle des Sports und der visuellen Erziehung als Mittel zur Volksverdummung. Sie analysieren diverse Methoden zur Erlangung der Weltherrschaft, und sie preisen die Macht des Goldes. Sie beschließen, in allen Ländern die Revolutionen zu unterstützen, durch Ausnutzung der Unzufriedenheit im Volke und durch Verwirrung des Volkes mit liberalen Ideen, aber sie wollen die Ungleichheit fördern. Sie planen, überall Präsidentialregime einzusetzen, die von ihren Strohmännern kontrolliert werden. Sie wollen Kriege schüren, sich für die Aufrüstung stark machen und (das hatte mir schon Salon gesagt) den Bau von Untergrundbahnen propagieren, um die großen Städte in die Luft zu sprengen.

Generell erklären sie, daß der Zweck die Mittel rechtfertige, und nehmen sich vor, den Antisemitismus zu ermuntern, sowohl um die mittellosen Juden unter ihre Kontrolle zu bringen wie um bei den Nichtjuden ein Schuldgefühl angesichts ihrer Not zu erzeugen (teuer erkauft, meinte Diotallevi, aber wirksam). Sie versichern treuherzig:»Wir haben einen grenzenlosen Ehrgeiz, eine verzehrende Habgier, einen erbarmungslosen Rachedurst und einen glühenden Hass«(und offenbar auch einen erlesenen Masochismus, denn sie reproduzieren lustvoll genau das Klischee des bösen Juden, das bereits in der antisemitischen Presse umgeht und die Umschläge aller Ausgaben ihres Buches zieren wird), und sie beschließen, das Studium der Klassiker und der antiken Geschichte abzuschaffen.

»Mit einem Wort«, bemerkte Belbo,»diese Weisen von Zion waren ein Haufen von Deppen.«

»Machen wir keine Witze«, sagte Diotallevi.»Dieses Buch ist bitterernst genommen worden. Mich überrascht eher etwas anderes. Obwohl das Ganze als ein uralter jüdischer Plan erscheinen soll, wird immer nur auf kleine französische Vorfälle und Polemiken aus der Zeit des Fin de siècle verwiesen. Der Hinweis auf die visuelle Erziehung, die zur Verdummung der Massen diene, sieht aus wie eine Anspielung auf das Erziehungsprogramm von Leon Bourgeois, der neun Freimaurer in seine Regierung aufnahm. An einer anderen Stelle wird die Wahl von Leuten empfohlen, die sich im Skandal um den Panamakanal kompromittiert haben, und genau das war der Fall bei Emile Loubet, der 1899 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Der Hinweis auf die Metro verdankt sich dem Umstand, daß die rechte Presse in jenen Jahren eine Protestkampagne gegen die Compagnie du Métropolitain führte, weil diese angeblich zu viele jüdische Aktionäre hatte. Aus all diesen Gründen wird angenommen, daß der Text in Frankreich um die Jahrhundertwende kompiliert worden ist, zur Zeit der Affäre Dreyfus, um die liberale Front zu schwächen.«

»Mich beeindruckt noch etwas ganz anderes«, sagte Belbo.»Nämlich das déjà vu. Kern der Sache ist doch, daß diese sogenannten Weisen einen Plan zur Eroberung der Welt erörtern, und so etwas haben wir schon mal gehört. Probiert mal, einige Bezugnahmen auf Fakten und Fragen des letzten Jahrhunderts rauszunehmen, ersetzt die Untergründe der Pariser Metro durch die Untergründe von Provins, schreibt jedes Mal, wo Juden dasteht, Templer, und jedes Mal, wo die Weisen von Zion genannt werden, die Sechsunddreißig Unsichtbaren, geteilt in sechs Gruppen, und... Voilà, mes amis, dies ist die Ordonation von Provins!«

 

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Voltaire lui‑même est mort jésuite: en avoit‑il le moindre soupçon?

(Voltaire selbst ist als Jesuit gestorben: hatte ihm das wohl geschwant?)

 

F. N. de Bonneville, Les Jésuites chassés de la Maçonnerie et leur poignard brisé par les maçons, Orient de Londres, 1788, 2, p. 74

 

Wir hatten alles seit langem vor Augen und hatten es nie ganz begriffen: Sechs Jahrhunderte lang bekämpften einander sechs Gruppen, um den Plan von Provins zu realisieren, und jede von ihnen nahm den idealen Text dieses Planes, änderte das Subjekt und schrieb ihn dem Gegner zu.

Als die Rosenkreuzer in Frankreich auftauchten, verkehrten die Jesuiten den Plan ins Negative: indem sie die Rosenkreuzer diskreditierten, diskreditierten sie die Baconianer und die entstehende englische Freimaurerei.

Als die Jesuiten den Neutemplerismus der»schottischen«Freimaurerei erfanden, schrieb der Baconianer Marquis de Luchet die Verschwörung den Neutemplern zu. Die Jesuiten, die daraufhin auch die Neutempler loswerden wollten, kopierten Luchet durch Barruel, unterschoben jedoch den Plan nun der Freimaurerei insgesamt.

Gegenoffensive der Baconianer. Bei Durchsicht aller Texte der liberalen und antiklerikalen Polemik hatten wir entdeckt, daß sämtliche einschlägigen Autoren, von Michelet und Quinet bis Garibaldi und Gioberti, die Verschwörung den Jesuiten zuschrieben (vielleicht stammte die Idee von dem Templer Pascal und seinen Freunden). Populär wurde das Thema dann mit dem Juif errant von Eugène Sue und dessen Bösewicht Pater Rodin, dem Inbegriff der jesuitischen Weltverschwörung. Doch als wir bei Sue suchten, fanden wir noch weit mehr: einen Text, der aussah, als wäre er Wort für Wort – aber ein halbes Jahrhundert vorher – von den Protokollen abgeschrieben, nur eben mit den Jesuiten anstelle der Juden. Es handelte sich um das Schlusskapitel der Mystères du Peuple. Hier wurde der teuflische Plan der Jesuiten bis ins letzte verbrecherische Detail dargelegt in einem Schreiben des Jesuitengenerals Roothaan (eine historische Figur) an Pater Rodin (die genannte Romanfigur aus dem Juif errant). Rudolf von Gerolstein (der Held aus den Mystères de Paris) gelangt in den Besitz dieses Schreibens und enthüllt es den Demokraten:»Sehen Sie, lieber Lebrenn, wie gut dieser höllische Plan erdacht worden ist, welch furchtbare Leiden, welch grauenhafte Beherrschung, welch schrecklichen Despotismus er für Europa und die Welt bereithält, falls er gelingt... «

Es klang wie das Vorwort von Nilus zu den Protokollen. Und Sue schrieb den Jesuiten das Motto zu (das sich in den Protokollen wiederfindet, wo es den Juden zugeschrieben wird):»Der Zweck rechtfertigt die Mittel.«

 

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Niemand wird von uns verlangen, daß wir die Belege noch weiter vermehren, um zu beweisen, daß dieser Rosenkreuzer‑Grad auf geschickte Weise von den geheimen Oberen der Freimaurerei eingeführt worden ist... Die Identität ihrer Lehre, ihres Hasses und ihrer sakrilegischen Praktiken mit denen der Kabbala, der Gnostiker und der Manichäer enthüllt uns die Identität der Urheber, nämlich der kabbalistischen Juden.

Mons. Léon Meurin, S.J., La Franc‑Maçonnerie, Synagogue de Satan, > Paris, Retaux, 1893, p. 182

 

Als die Mystères du Peuple erschienen, sahen die Jesuiten, daß die Ordonation jetzt ihnen zugeschrieben wurde, und verlegten sich auf die einzige offensive Taktik, die noch niemand eingeschlagen hatte: Sie griffen auf den Brief von Simonini zurück und schrieben die Verschwörung den Juden zu.

1869 veröffentlicht Gougenot de Mousseaux, bekannt als Autor zweier Bücher über die Magie des achtzehnten Jahrhunderts, das Pamphlet Les Juifs, le judaïsme et la judaïsation des peuples chrétiens, in dem er behauptet, die Juden benutzten die Kabbala und seien Teufelsanbeter, denn eine geheime Abstammungslinie verbinde Kain direkt mit den Gnostikern, mit den Templern und den Freimaurern. De Mousseaux erhält einen speziellen Segen von Pius IX.

Aber der von Sue zum Roman verarbeitete Große Plan wird auch noch von anderen umgeschrieben, die keine Jesuiten sind. So gibt es eine schöne Geschichte, fast eine Kriminalstory, die sehr viel später passierte: 1921, lange nach dem Erscheinen der Protokolle, entdeckte die Londoner Times (die sie zunächst sehr ernst genommen hatte), daß ein in die Türkei geflohener russischer Ex‑Grundbesitzer von einem nach Konstantinopel geflohenen Ex‑Offizier der zaristischen Geheimpolizei eine Handvoll alter Bücher gekauft hatte, darunter eines ohne Deckblatt, auf dessen Rücken nur»Joli«stand, aber das ein auf 1864 datiertes Vorwort hatte und die wörtliche Quelle der Protokolle zu sein schien. Die Times stellte Recherchen im Britischen Museum an und fand das Original: ein Buch von Maurice Joly mit dem Titel Dialog aux enfers entre Machiavel et Montesquieu, erschienen in Brüssel (aber mit der Ortsangabe Genève) 1864. Maurice Joly hatte nichts mit Crétineau‑Joly zu tun, aber die Analogie war immerhin bemerkenswert, irgendwas würde sie schon bedeuten.

Jolys Buch war eine liberale Satire auf Napoleon III., in der Machiavelli, der den Zynismus des Diktators repräsentierte, in der Hölle mit Montesquieu debattierte. Joly war für diese revolutionäre Initiative eingesperrt worden, hatte fünfzehn Monate im Gefängnis gesessen und 1878 Selbstmord begangen. Das Programm der Juden in den Protokollen erwies sich als beinahe wörtlich abgeschrieben von dem, was Joly seinem Machiavelli in den Mund gelegt hatte (der Zweck rechtfertigt die Mittel) und durch diesen dem dritten Napoleon. Die Times hatte allerdings nicht bemerkt (wir schon), daß Joly seinerseits von Sue abgeschrieben hatte, dessen Roman mindestens sieben Jahre älter als seine Satire war.

Eine antisemitische Autorin namens Nesta Webster, begeisterte Anhängerin der Verschwörungstheorie und der Unbekannten Oberen, lieferte uns zu diesem Fund, der die Protokolle als billige Fälschung entlarvte, eine hellsichtige Intuition, wie sie nur die wahren Initiierten – oder die Jäger der Initiierten – gelegentlich haben: Joly war ein Initiierter gewesen, er kannte den Plan der Unbekannten Oberen, und da er Napoleon III. hasste, hatte er ihn ihm zugeschrieben, aber das bedeutete nicht, daß der Plan nicht unabhängig von Napoleon existierte. Da der in den Protokollen beschriebene Plan genau dem entsprach, was die Juden, so Madame Webster, gewöhnlich tun, war er logischerweise der Plan der Juden. Uns blieb nur noch übrig, die Dame Webster nach derselben Logik zu korrigieren: Da der Plan genau dem entsprach, was die Templer hätten denken müssen, war er der Plan der Templer.

Im übrigen war unsere Logik die Logik der Fakten. Sehr gefallen hatte uns die Geschichte mit dem Prager Friedhof. Es war die Geschichte eines gewissen Hermann Goedsche, der als kleiner preußischer Postbeamter falsche Dokumente veröffentlicht hatte, um den Demokraten Waldeck zu diskreditieren durch die Anschuldigung, er wolle den König von Preußen ermorden. Als der Schwindel aufkam, wurde Goedsche Redakteur bei der Preußischen Kreuzzeitung, dem Organ des konservativen Junkertums. Dann hatte er angefangen, unter dem Namen Sir John Retcliffe Sensationsromane zu schreiben, darunter einen mit dem Titel Biarritz, erschienen 1868, in dem er eine okkultistische Szene schilderte, die sich auf dem Prager Friedhof abspielt, sehr ähnlich der Versammlung von Erleuchteten, die Alexandre Dumas am Anfang von Joseph Balsamo geschildert hatte, wo Cagliostro als Chef der Unbekannten Oberen, darunter Swedenborg, das Komplott mit dem Halsband der Königin plant. Auf dem Prager Friedhof versammeln sich die Vertreter der zwölf Stämme Israels, um ihre Pläne für die Eroberung der Welt zu besprechen.

1876 übernimmt eine russische Hetzschrift die Szene aus dem Roman Biarritz, aber so, als wäre sie wirklich geschehen. Und dasselbe tut 1881 in Frankreich die Zeitung Le Contemporain. Wobei sie behauptet, die Information aus sicherer Quelle zu haben, nämlich von dem englischen Diplomaten Sir John Readcliff. 1896 veröffentlicht dann ein gewisser Bournand ein Buch mit dem Titel Les Juifs, nos contemporains, in dem er die Szene vom Prager Friedhof wiedergibt und behauptet, die umstürzlerische Rede sei von dem großen Rabbi John Readclif gehalten worden. Eine spätere Version wird jedoch behaupten, der wahre Readclif sei von dem gefährlichen Revoluzzer Ferdinand Lassalle auf den verhängnisvollen Friedhof geführt worden.

Und die angeblich auf jenem Friedhof erörterten Umsturzpläne sind mehr oder weniger dieselben, die 1880, wenige Jahre zuvor, von der Revue des Études juives beschrieben worden waren. Diese trotz ihres Namens antisemitische Zeitschrift hatte zwei Briefe veröffentlicht, die angeblich von Juden des fünfzehnten Jahrhunderts stammten. Die Juden von Arles bitten die Juden von Konstantinopel um Hilfe, weil sie verfolgt werden, und jene antworten:»Vielgeliebte Brüder in Moses, wenn der König von Frankreich euch zwingt, Christen zu werden, so tut es, denn ihr könnt nicht anders, doch bewahrt euch das mosaische Gesetz im Herzen. Wenn sie euch eurer Güter entblößen, so lasst eure Söhne Kaufleute werden, auf daß sie die Christen allmählich der ihren entblößen. Wenn sie euch nach dem Leben trachten, so lasst eure Söhne Ärzte und Apotheker werden, auf daß sie den Christen das Leben nehmen. Wenn sie eure Synagogen zerstören, so lasst eure Söhne Kanoniker und Kleriker werden, auf daß sie ihre Kirchen zerstören. Wenn sie euch andere Übel antun, so lasst eure Söhne Advokaten und Notare werden und sich in die Angelegenheiten aller Staaten einmischen, auf daß ihr, indem ihr die Christen unter euer Joch zwingt, die Welt beherrschen und euch an ihnen rächen könnt.«

Es handelte sich noch immer um den Plan der Jesuiten und, ihm vorausgehend, um die Ordonation der Templer. Kaum Variationen, nur winzige Permutationen, die Protokolle entstanden gleichsam von selbst. Ein abstraktes Verschwörungsprojekt pflanzte sich von Komplott zu Komplott weiter fort.

Und auf der Suche nach dem fehlenden Kettenglied, das diese ganze schöne Geschichte mit Nilus verband, waren wir dann auf Ratschkowski gestoßen, den Chef der schrecklichen Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren.

 

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Wenn nur die Zwecke erreicht werden, so ist es gleichgültig, unter welcher Hülle es geschieht, und eine Hülle ist immer nöthig. Denn in der Verborgenheit beruht ein großer Theil unserer Stärke. Deswegen soll man sich immer mit dem Namen einer andern Gesellschaft decken.







Date: 2015-12-13; view: 440; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ



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