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Beydelus, Demeymes, Adulex, Metucgayn, Atine, Ffex, Uquizuz, Gadix, Sol, Veni cito cum tuis spiritibus.

Picatrix, Ms. Sloane 1305, 152, verso

 

Der Bruch der Gefäße. Diotallevi sprach oft von der späten Kabbalistik Isaak Lurias, in der die geordnete Artikulation der Sefiroth sich verlor. Die Schöpfung, sagte er, sei ein heftiges Ein‑ und Ausatmen Gottes, heftig wie ein Keuchen oder das Fauchen eines Blasebalgs.

»Das Große Asthma Gottes«, glossierte Belbo.

»Versuch du mal aus dem Nichts zu schaffen. So was macht man nur einmal im Leben. Um die Welt zu blasen, wie man eine Glaskugel bläst, muß Gott sich zuerst in sich selbst zurückziehen, um Atem zu schöpfen, und dann bläst er den langen Lichterhauch der zehn Sefiroth heraus.«

»Licht oder Hauch?«

»Gott haucht, und es ward Licht.«

»Multimedia.«

»Aber die Lichter der Sefiroth müssen in Gefäße eingefasst werden, die ihrem Strahlen standzuhalten vermögen. Die Gefäße der drei ersten, Kether, Chochmah und Binah, hielten ihrem Leuchten stand, während bei den unteren Sefiroth, von Chessed bis Jessod, das Licht und der Hauch in einem Zuge mit solcher Heftigkeit ausströmten, dass die Gefäße zerbrachen. Die Fragmente des Lichts zerstreuten sich durchs Universum, und so entstand die rohe Materie.«

Der Bruch der Gefäße sei eine ernste Katastrophe, sagte Diotallevi bedrückt, nichts sei unbewohnbarer als eine fehlgeschlagene Schöpfung. Es müsse von Anfang an einen Fehler im Kosmos gegeben haben, und auch die klügsten Rabbiner hätten ihn nicht vollständig zu erklären vermocht. Vielleicht seien in dem Moment, als Gott ausatmete und sich entleerte, im Urgefäß ein paar Tröpfchen Öl geblieben, ein materieller Rückstand, der Reschimu, und Gott habe sich zusammen mit diesem Rückstand verströmt. Oder irgendwo hätten bereits die Qelippoth auf der Lauer gelegen, die»Schalen«oder Kräfte des Bösen.

»Fiese Leute, diese Qelippoth «, meinte Belbo,»Agenten des teuflischen Doktor Fu Man‑Chu... Und dann?«

Und dann, erklärte Diotallevi geduldig, im Licht von Geburah, dem Strengen Gericht, auch Din, die Strafgewalt, oder Pachad, die Furcht genannt, der Sefirah, in der nach Isaak dem Blinden das Böse sich zeigt, gelangten die Schalen zu realer Existenz.

»Sie sind unter uns«, sagte Belbo.

»Schau dich um«, sagte Diotallevi.

»Und wie kommt man da raus?«

»Es geht eher darum, wieder reinzukommen«, sagte Diotallevi.»Alles fließt aus Gott in der Kontraktion des Zimzum. Unser Problem ist, den Tiqqun zu realisieren, die Rückkehr, die Reintegration des Adam Kadmon. Also müssen wir das Ganze in der ausgewogenen Form der Parzufim rekonstruieren, der Gesichter oder Gestalten, die den Platz der Sefiroth einnehmen werden. Der Aufstieg der Seele ist wie eine seidene Schnur, die dem Frommen erlaubt, sich im Dunkel den Weg zum Licht zu ertasten. So bemüht sich die Welt jeden Augenblick, indem sie die Lettern der Torah kombiniert, die natürliche Form wiederzufinden, die sie aus ihrer grauenhaften Verwirrung erlöst.«

Und so tue auch ich es jetzt in dieser tiefen Nacht, in der unnatürlichen Ruhe dieser Hügel. Doch vorgestern Abend im Periskop fand ich mich noch umgeben vom klebrigen Schleim der Schalen, die ich rings um mich spürte – winzige Schnecken, verkrustet in den Glasphiolen des Conservatoire, vermengt mit den Barometern und den rostigen Rädern von Uhren in stummem Winterschlaf. Wenn es einen Bruch der Gefäße gab, dachte ich, hatte der erste Riss sich vielleicht an jenem Abend in Rio während des Ritus gebildet, aber zur Explosion kam es erst bei meiner Rückkehr nach Hause. Zu einer langsamen Explosion, ohne Getöse, so dass wir uns alle unversehens im Schlamm der rohen Materie fanden, wo Gewürm aufkeimt durch spontane Zeugung.

Ich kam aus Brasilien zurück und wusste nicht mehr, wer ich war. Inzwischen ging ich auf die Dreißig zu. In diesem Alter war mein Vater Vater geworden, er hatte gewusst, wer er war und wo er lebte.

Ich war zu lange fern von meinem Lande gewesen, während große Dinge geschahen, und hatte in einer Welt prall voller Unglaublichkeiten gelebt, in die auch die Nachrichten aus Italien nur wie ferne Legenden drangen. Kurz bevor ich die andere Hemisphäre verließ, während ich meinen Aufenthalt dort mit einer Flugreise über die Urwälder Amazoniens beschloss, war mir eine Lokalzeitung in die Hände gefallen, die bei einer Zwischenlandung in Fortaleza an Bord gekommen war. Auf der ersten Seite prangte das Foto von einem, den ich wiedererkannte, denn ich hatte ihn jahrelang kleine Weiße bei Pilade trinken sehen. Die Bildunterschrift lautete: »O homem que matou Moro.«


Natürlich war er, wie ich bei meiner Rückkehr erfuhr, nicht der Mann, der Aldo Moro getötet hatte. Er hätte sich, wenn ihm eine geladene Pistole in die Hand gedrückt worden wäre, ins Ohr geschossen, um zu prüfen, ob sie funktionierte. Er war bloß zufällig da gewesen, als die Polizei in eine Wohnung eindrang, wo jemand drei Pistolen und zwei Päckchen Sprengstoff unter einem Bett versteckt hatte. Er lag auf dem Bett, verzückt, denn es war das einzige Möbelstück in jenem Einzimmerappartement, das eine Gruppe von Altachtundsechzigern gemietet hatte, um die fleischlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wäre der Raum nicht lediglich mit einem Poster der Inti Illimani ausstaffiert gewesen, man hätte ihn eine Junggesellenabsteige nennen können. Einer der Mieter war mit einer bewaffneten Untergrundgruppe liiert, und die anderen wussten nicht, dass sie deren Unterschlupf finanzierten. So landeten allesamt für ein Jahr im Knast.

Vom Italien der letzten Jahre hatte ich nur sehr wenig begriffen. Ich hatte das Land auf der Schwelle großer Veränderungen verlassen, fast mit einem Schuldgefühl, weil ich im Moment der Abrechnung floh. Als ich wegging, konnte ich die Ideologie eines jeden an seinem Tonfall erkennen, an seinen Redewendungen, seinen kanonischen Zitaten. Als ich wiederkam, kapierte ich nicht mehr, wer wohin gehörte. Man sprach nicht mehr von Revolution, man redete von den Wünschen und vom Begehren, wer sich links nannte, zitierte Nietzsche und Céline, die Publikationen der Rechten feierten die Revolution der Dritten Welt.

Ich ging zu Pilade und fand mich auf fremdem Boden. Das Billard war noch da, auch mehr oder minder dieselben Maler, aber die jugendliche Fauna hatte gewechselt. Einige der alten Stammkunden hatten, erfuhr ich, jetzt Schulen für transzendentale Meditation und makrobiotische Restaurants eröffnet. Ich fragte, ob jemand auch schon einen Umbanda‑ Tempel aufgemacht habe. Nein, vielleicht war ich der Zeit voraus, ich hatte ungeahnte Kenntnisse erworben.

Um den historischen Kern zu befriedigen, hatte Pilade einen alten Flipper behalten, so einen von der Sorte, die inzwischen alle aussahen wie kopiert von Roy Lichtenstein und die massenhaft von den Antiquitätenhändlern aufgekauft wurden. Aber daneben, umdrängt von den Jüngeren, reihten sich andere Apparate mit blinkenden Bildschirmen, auf denen Geschwader vernieteter Bussarde flogen, Kamikaze des Outer Space, oder Frösche umherhüpften und japanisch quakten. Pilade Bar war inzwischen ein einziges Flimmern sinistrer Lichter geworden, und vielleicht hatten sich vor der Mattscheibe von Galactica auch die Rekrutenanwerber der Roten Brigaden umgesehen. Aber gewiss hatten sie den Flip‑ per auslassen müssen, denn an dem kann man nicht mit einer Pistole im Gürtel spielen.


Das wurde mir klar, als ich Belbos Blick folgte, der sich auf Lorenza Pellegrini heftete. Bei ihrem Anblick begriff ich undeutlich, was er klarer gesehen hatte und was ich dann später in seinen files lesen sollte. Lorenza wird nicht namentlich genannt aber es ist evident, dass sie gemeint war. Nur sie flipperte so.

Filename: Flipper

 

Flipper spielt man nicht nur mit den Händen, sondern auch mit dem Schambein. Beim Flippern ist das Problem nicht, die Kugel rechtzeitig aufzuhalten, bevor sie im Orkus verschwindet, auch nicht, sie mit dem Ungestüm eines Mittelverteidigers wieder ins Feld zu schießen, sondern sie möglichst lange im oberen Teil zu halten, wo die blinkenden Ziele am dichtesten sind, so dass sie von einem zum andern springt und wie verrückt hin und her zuckt, aber aus eigenem Willen. Und das erreicht man nicht, indem man der Kugel Stöße versetzt, sondern indem man Vibrationen auf das Gehäuse überträgt, aber sanft, so dass es der Flipper nicht merkt und nicht ins Kippen gerät. Das schafft man nur mit dem Schambein, beziehungsweise mit einem genau kalkulierten Einsatz der Hüften, so dass das Schambein mehr gleitet als stößt und man immer diesseits des Orgasmus bleibt. Und mehr als das Schambein, wenn man die Hüften natürlich bewegt, sind es die Pobacken, die den Stoß nach vorn weitergeben, aber mit Anmut, so dass der Stoß, wenn er beim Schambein ankommt, bereits gedämpft ist, wie in der Homöopathie, wo bekanntlich die Wirkung des Medikaments um so stärker wird, je länger man eine Lösung schüttelt und je mehr die Substanz sich im Wasser auflöst, das man langsam hinzufügt, bis sie fast ganz verschwunden ist. Genauso überträgt sich vom Schambein ein infinitesimaler Strom auf das Gehäuse, und der Flipper gehorcht, ohne neurotisch zu werden, und die Kugel rollt wider die Natur, wider die Trägheit, wider die Schwerkraft, wider die Gesetze der Dynamik, wider die Schläue des Konstrukteurs, der sie ungehorsam wollte, und durchtränkt sich mit vis movendi und bleibt im Spiel für memorable und immemorable Zeiten. Aber dazu bedarf es einer weiblichen Scham, die keine Schwellkörper zwischen Hüftbein und Gehäuse einschiebt, und es darf keine erigierbare Materie dazwischenkommen, sondern nur Haut und Nerven und Knochen, eingezwängt in ein Paar Jeans, und man braucht einen sublimierten Furor eroticus, eine maliziöse Frigidität, eine uneigennützige Anpassungsfähigkeit an die Sensibilität des Partners, eine Lust, sein Verlangen zu schüren, ohne am Übermaß des eigenen zu leiden: die Amazone muß den Flipper zur Raserei bringen und im voraus genießen, dass sie ihn dann verlassen wird.


 

Ich glaube, Belbo hatte sich in dem Moment in Lorenza Pellegrini verliebt, als er spürte, dass sie imstande war, ihm ein unerreichbares Glück zu versprechen. Aber ich glaube auch, dass er durch sie anfing, den erotischen Charakter der Automatenwelten zu entdecken, die Maschine als Metapher des kosmischen Leibes und das mechanische Spiel als talismanhafte Beschwörung. Er war schon dabei, sich an Abulafia zu berauschen, und vielleicht war er schon in den Geisteszustand des Hermes‑Projekts eingetreten. Bestimmt hatte er schon das Pendel gesehen. Lorenza Pellegrini, ich weiß nicht, durch welche Kurzschlussverbindung, versprach ihm das Pendel.

In der ersten Zeit hatte ich Schwierigkeiten, mich wieder an Pilade zu gewöhnen, Allmählich, nicht jeden Abend, entdeckte ich dann im Dschungel der fremden Gesichter die vertrauten der Überlebenden wieder, wenn auch benebelt von der Anstrengung des Wiedererkennens: einer war jetzt Texter in einer Werbeagentur, ein anderer Steuerberater, ein dritter verkaufte zwar immer noch Bücher auf Raten, aber wenn es früher die Werke von Che waren, bot er jetzt Kräuterkunde, Buddhismus und Astrologie feil. Ich sah sie wieder, die alten Genossen, ein bisschen lispelnd, ein paar graue Strähnen im Haar, in der Hand ein Glas Whisky, und mir schien, als wär's noch immer derselbe Drink wie vor zehn Jahren, an dem sie ganz langsam genippt hatten, ein Tröpfchen pro Semester.

»Was treibst du denn so, warum lässt du dich nie mehr bei uns blicken?«fragte mich einer von ihnen.

»Wer seid denn jetzt ihr? «

Er sah mich an, als wäre ich hundert Jahre weg gewesen.»Na, ich meine doch das Kulturreferat, hier in der Stadtverwaltung.«

Ich hatte zu viele Takte ausgesetzt.

Ich beschloss, mir einen Beruf zu erfinden. Mir war aufgefallen, dass ich viele Dinge wusste, die alle zusammenhanglos nebeneinanderstanden, aber die ich in wenigen Stunden durch ein paar Bibliotheksbesuche ganz gut miteinander verbinden konnte. Als ich Europa verließ, musste man eine Theorie haben, und ich litt darunter, dass ich keine hatte. Jetzt brauchte man nur Kenntnisse zu haben, alle waren ganz versessen auf Kenntnisse, um so mehr, wenn es inaktuelle waren. Auch an der Uni, wo ich wieder reingeschaut hatte, um zu sehen, ob ich mich irgendwo eingliedern könnte. Die Hörsäle waren still, die Studenten schlichen lautlos wie Gespenster durch die Flure und tauschten schlecht gemachte Bibliografien aus. Ich konnte eine gute Bibliografie machen.

Eines Tages fragte mich ein Doktorand, der mich für einen Dozenten hielt (die Professoren waren inzwischen so alt wie die Studenten, oder umgekehrt), was dieser Lord Chandos geschrieben habe, von dem in einem Seminar über die zyklischen Krisen in der Ökonomie die Rede gewesen sei. Ich sagte ihm, dass es sich um eine Figur von Hofmannsthal handelte, nicht um einen Ökonomen.

Am selben Abend war ich auf einem Fest bei alten Freunden und erkannte einen wieder, der in einem Verlag arbeitete. Er war eingetreten, als der Verlag aufgehört hatte, die Romane der französischen Kollaborateure zu verlegen, um sich politischen Texten aus Albanien zu widmen. Wie ich erfuhr, machten sie immer noch politische Texte, aber nun im Auftrag der Regierung. Doch sie verschmähten auch nicht ab und zu ein gutes Buch über Philosophie. Über die klassische, präzisierte er.

»Apropos«, sagte er,»du bist doch Philosoph... «

»Danke, leider nein.«

»Ach komm schon, du warst doch damals einer, der alles wusste. Heute hab ich eine Übersetzung durchgesehen, einen Text über die Krise des Marxismus, und da war ein Zitat drin von einem gewissen Anselm von Canterbury. Weißt du, wer das ist? Ich hab ihn nirgendwo finden können, nicht mal im Dizionario degli Autori. «Ich sagte ihm, dass es sieht um denselben handelte, den wir Italiener Anselmo d'Aosta nennen, weil er unser ist und nicht ihrer.

Dabei kam mir eine Erleuchtung: Ich hatte einen Beruf gefunden. Ich beschloss, eine Agentur für Bildungsauskünfte zu eröffnen.

So etwas wie eine Detektei des Wissens. Statt nachts in den Bars und Bordellen herumzuschnüffeln, musst du dich in Buchläden, Bibliotheken und Korridoren von Universitätsinstituten herumtreiben. Und dann in deinem Büro sitzen, die Beine auf dem Tisch, einen Pappbecher mit Whisky vor dir, daneben die Flasche, vom Drugstore an der Ecke in einer Packpapiertüte mitgebracht. Das Telefon klingelt, jemand sagt:»Ich übersetze gerade ein Buch und stoße da auf einen gewissen – oder gewisse – Mutakallimun. Ich krieg nicht raus, was das ist.«

Du weißt es auch nicht, aber egal, du sagst ihm, er soll dir zwei Tage Zeit geben. Du gehst in die Bibliothek, blätterst ein paar Kataloge durch, bietest dem Typ an der Auskunft eine Zigarette an, findest eine Spur. Abends triffst du einen Assistenten vom Islamistischen Institut an der Bar, zahlst ihm ein Bier, zwei, er verliert die Kontrolle und gibt dir die gesuchte Information für nix. Am nächsten Tag rufst du den Kunden an:»Also, die Mutakallimun waren radikale muslimische Theologen zur Zeit von Avicenna. Sie sagten, die Welt sei gewissermaßen eine Staubwolke von Akzidentien und gerinne nur durch einen momentanen und vorübergehenden Akt des göttlichen Willens zur Form. Es genüge, dass Gott sich für einen Moment zerstreuen und schon falle das Universum in Stücke. Reinste Anarchie der Atome ohne jeden Sinn. Genügt das? Hat mich drei Tage gekostet, zahlen Sie mir, was Ihnen angemessen scheint.«

Ich hatte das Glück, zwei Zimmer mit einer kleinen Küche in einem alten Gebäude am Stadtrand zu finden, das früher einmal eine Fabrik gewesen sein musste, mit einem Flügel für die Büros. Die Appartements, die man daraus gemacht hatte, gingen alle auf einen langen Flur, meins lag zwischen einer Immobilienagentur und dem Labor eines Tierkörperpräparators (»A. Salon – Taxidermist«). Es war beinahe wie in einem amerikanischen Wolkenkratzer der dreißiger Jahre, es fehlte nur noch eine Glastür, und ich wäre mir vorgekommen wie Philip Marlowe. Ich stellte eine ausziehbare Couch in das hintere Zimmer und einen Schreibtisch ins vordere. Zwei Regale füllten sich mit Atlanten, Lexika und Katalogen, die ich nach und nach kaufte. Anfangs musste ich noch Kompromisse machen und auch Examensarbeiten für verzweifelte Studenten schreiben. Das war nicht besonders schwer, ich brauchte bloß die aus dem letzten Jahrzehnt abzuschreiben. Dann schickten mir die Freunde aus den Lektoraten Manuskripte und Übersetzungen zum Redigieren, natürlich nur die unangenehmsten und für mäßiges Honorar.

Aber ich sammelte Erfahrungen, akkumulierte Kenntnisse und warf nichts weg. Alles wurde säuberlich in Karteien verzettelt. Ich dachte noch nicht daran, die Karteien in einen Computer zu übertragen (die kamen damals gerade erst auf, Belbo war ein Pionier), ich operierte noch mit handwerklichen Mitteln, aber ich hatte mir eine Art künstliches Gedächtnis aus Kärtchen mit Querverweisen geschaffen. Kant ‑ → Nebelfleck ‑→ Laplace... Kant ‑→ Königsberg ‑→ die sieben Brücken von Königsberg ‑→ Theoreme der Topologie... Ein bisschen wie jenes Spiel, bei dem man durch Assoziation in fünf Schritten von Würstchen zu Plato gelangen soll. Sehen wir mal: Würstchen ‑→ Schwein ‑→ Borste ‑→ Pinsel ‑→ Manierismus ‑→ Idee ‑→ Plato. Leicht. Auch das verquasteste Manuskript brachte mir noch mindestens zwanzig neue Kärtchen für meine Vernetzungen ein. Das Kriterium war streng, und ich glaube, es ist dasselbe, das auch die Geheimdienste anwenden: Keine Information ist weniger wert als die andere, das Geheimnis besteht darin, sie alle zu sammeln und dann Zusammenhänge zwischen ihnen zu suchen. Zusammenhänge gibt es immer, man muß sie nur finden wollen.

Nach etwa zwei Jahren Arbeit war ich mit mir zufrieden. Ich amüsierte mich. Und inzwischen war ich Lia begegnet.

 

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Sappia qualunque il mio nome dimanda ch’i’ mi son Lia, e vo movendo intorno le belle mani a farmi una ghirlanda.

(Ein jeder, der mich fragt nach meinem Namen, / Soll wissen, dass ich Lea bin und gehe, / Mit schönen Händen einen Kranz zu flechten (deutsch von Hermann Gmelin)).

 

Dante, Purgatorio, XXVII, 100‑102

 

Lia. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, sie wiederzusehen, aber ich hätte ihr auch nie begegnet sein können, und das wäre noch schlimmer gewesen. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier und hielte mich an der Hand, während ich die Etappen meines Ruins rekonstruiere. Denn sie hatte es mir gesagt. Aber sie muß außerhalb dieser Geschichte bleiben, sie und das Kind. Ich hoffe, sie kommen erst später zurück, wenn alles zu Ende ist – wie immer es enden mag.

Es war am 16. Juli 1981 gewesen. Mailand entvölkerte sich, der Lesesaal in der Bibliothek war fast leer.

»He, den Band 109 wollte ich grad nehmen.«

»Und wieso hast du ihn dann im Regal gelassen?«

»Ich war nur schnell am Tisch, um was nachzusehen.«

»Das ist keine Entschuldigung.«

Sie war eigensinnig mit ihrem Band an den Tisch zurückgegangen. Ich hatte mich vor sie gesetzt und versucht, ihr Gesicht zu entdecken.

»Wie kannst du das lesen, wenn's nicht Blindenschrift ist?«fragte ich.

Sie hob den Kopf, und ich wusste wirklich nicht, ob es das Gesicht oder der Hinterkopf war.»Wieso?«fragte sie.»Ach, ich kann sehr gut durchsehen.«Aber um das zu sagen, hatte sie ihre Mähne beiseite geschoben, und ich sah ihre grünen Augen.

»Du hast grüne Augen.«

»Weiß ich. Wieso? Ist das schlecht?«

»Im Gegenteil. Sollte es öfter geben.«

So hatte es angefangen.»Iss doch, du bist ja dünn wie ein Nagel«, hatte sie mir beim Essen gesagt. Um Mitternacht saßen wir immer noch in dem griechischen Restaurant neben Pilade, mit der Kerze in der Flasche, die schon fast runtergebrannt war, und erzählten uns alles. Wir waren quasi Kollegen, sie redigierte Lexikonartikel.

Ich hatte den Eindruck, ihr etwas sagen zu müssen. Eine halbe Stunde nach Mitternacht schob sie ihre Mähne beiseite, um mich genauer anzusehen, ich hielt den Zeigefinger mit dem Daumen nach oben auf sie gerichtet und sagte:»Pim.«

»Komisch«, sagte sie,»ich auch.«

So waren wir Fleisch von einem Fleische geworden, und von da an war ich für sie Pim.

Wir konnten uns keine neue Wohnung leisten, ich schlief bei ihr, und sie war oft in meinem Büro oder ging auf die Jagd, denn sie war besser im Spurenverfolgen als ich und suggerierte mir wertvolle Querverbindungen.

»Mir scheint, wir haben eine halb leere Kartei über die Rosenkreuzer«, sagte sie.

»Ich muß sie irgendwann auffüllen, es sind Notizen aus Brasilien... «

»Na gut, mach erst mal einen Verweis auf Yeats.«

»Was hat denn Yeats damit zu tun?«

»Einiges. Ich lese hier gerade, dass er zu einer Rosicrucian Society gehörte, die sich Stella Matutina nannte.«

»Was täte ich ohne dich?«

Ich hatte wieder angefangen, zu Pilade zu gehen, denn die Bar war wie eine Börse, ich fand dort Kunden.

Eines Abends sah ich Belbo wieder (in den Jahren davor musste er sich etwas rar gemacht haben, aber er kam wieder regelmäßig, als er Lorenza Pellegrini kennengelernt hatte). Immer noch derselbe, vielleicht jetzt ein bisschen grau meliert und etwas magerer, aber nicht viel.

Es war eine herzliche Begegnung, in den Grenzen seiner Mitteilsamkeit Ein paar Bemerkungen über die alten Zeiten, coole Zurückhaltung über unsere Komplizenschaft bei jenem letzten Vorfall und ihre brieflichen Nachzügler. Der Kommissar De Angelis hatte sich nicht wieder gemeldet. Fall erledigt, wie's aussah.

Ich erzählte ihm von meiner Arbeit, und er schien interessiert.»Im Grunde das, was ich gerne täte, den Sam Spade der Kultur spielen, zwanzig Dollar pro Tag plus Spesen.«

»Aber bei mir spazieren keine geheimnisvollen faszinierenden Frauen herein, und keiner kommt, um mir vom Malteser Falken zu erzählen«, sagte ich.

»Das weiß man nie. Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«

»Spaß?«fragte ich zurück und zitierte ihn:»Ich amüsiere mich prächtig. Ich glaube, das ist das einzige, was ich wirklich gut kann.«

»Good for you«, antwortete er.

Wir sahen uns öfter wieder, ich erzählte ihm von meinen brasilianischen Erlebnissen, aber ich fand ihn immer ein wenig zerstreut, mehr als gewöhnlich. Wenn Lorenza Pellegrini nicht da war, hielt er den Blick auf die Tür geheftet, wenn sie da war, ließ er ihn nervös im Lokal umherschweifen und verfolgte ihre Bewegungen. Eines Abends, es war schon kurz bevor Pilade zumachte, sagte er mir, woandershin blickend:»Hören Sie, es könnte sein, dass wir Sie brauchen, nicht bloß für gelegentliche Gutachten. Könnten Sie ein bisschen Zeit für uns erübrigen, sagen wir einen Nachmittag pro Woche?«

»Mal sehen. Um was geht's denn?«

»Eine Stahlfirma hat bei uns ein Buch über Metalle bestellt. So einen Prachtband, bei dem es mehr auf die Bilder als auf den Text ankommt. Populär, aber seriös. Sie wissen schon, was ich meine: die Metalle in der Geschichte der Menschheit von der Eisenzeit bis zu den Legierungen für Raumschiffe. Wir brauchen jemanden, der sich in den Bibliotheken und Archiven nach guten Illustrationen umsieht – nach alten Miniaturen und barocken Stichen über, was weiß ich, Schmelzverfahren oder den Blitzableiter.«

»Na gut ich komme morgen bei Ihnen vorbei.«

In diesem Augenblick trat Lorenza Pellegrini zu ihm.

»Bringst du mich nach Hause?«

»Wieso ich heute?«fragte Belbo.

»Weil du der Mann meines Lebens bist.«

Er errötete, wie nur er erröten konnte, und schaute noch mehr woandershin.»Wir haben einen Zeugen«, sagte er zu ihr, und zu mir:»Ich bin der Mann ihres Lebens. Lorenza.«

»Hallo.«

»Hallo.«

Er stand auf und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Was hat das damit zu tun?«sagte sie.»Ich hab dich gefragt, ob du mich im Wagen nach Hause fährst«

»Ach so«, sagte er.»'Tschuldigen Sie, Casaubon, ich muß den Taxifahrer spielen, für die Frau des Lebens von wer weiß wem.«

»Blödmann«, sagte sie zärtlich und küsste ihn auf die Wange.

 

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Erlaubt mir einstweilen, meinem gegenwärtigen oder künftigen Leser einen Rat zu geben, so er tatsächlich Melancholiker ist: er sollte die Symptome oder Prognosen im folgenden Teil lieber nicht lesen, damit er sich nicht beunruhigt und am Ende mehr Schaden als Nutzen daraus zieht, indem er das Gelesene auf sich selber bezieht, wie es die meisten Melancholiker tun.

Robert Burton, Anatomy of Melancholy, Oxford 1621, Einführung

 

Es lag auf der Hand, dass Belbo irgendwie mit Lorenza Pellegrini liiert war. Ich wusste nur nicht, wie intensiv und seit wann. Auch die files von Abulafia haben mir nicht viel weitergeholfen.

So ist beispielsweise der Text über das Abendessen mit Doktor Wagner undatiert. Den Doktor Wagner hatte Belbo schon vor meiner Abreise nach Brasilien gekannt und er sollte mit ihm auch nach dem Beginn meiner Arbeit für Garamond noch in Verbindung stehen, so dass am Ende auch ich mit ihm in Berührung kam. Folglich konnte das fatale Essen vor oder nach jenem Abend gewesen sein, an den ich mich erinnere. Wenn es vorher gewesen war, begreife ich Belbos Verlegenheit, seine gefasste Verzweiflung.

Der Doktor Wagner – ein Wiener, der seit Jahren in Paris praktizierte, daher die Aussprache» Wagnère«bei denen, die Vertrautheit mit ihm bekunden wollten – wurde seit etwa zehn Jahren regelmäßig von zwei revolutionären Gruppen der unmittelbaren Nachachtundsechzigerzeit nach Mailand eingeladen. Sie machten ihn sich gegenseitig streitig, und natürlich gab jede Gruppe eine radikal andere Version seines Denkens. Wieso und warum es dieser berühmte Mann akzeptiert hatte, sich von außerparlamentarischen Gruppen sponsern zu lassen, habe ich nie ganz kapiert. Seine Theorien waren politisch neutral, und wenn er wollte, konnte er sich von Universitäten, Kliniken, Akademien einladen lassen. Ich glaube, er hatte die Einladungen von diesen Gruppen angenommen, weil er im Kern ein Epikureer war und Anspruch auf fürstliche Aufwandsentschädigungen erhob. Die Privaten konnten mehr aufbringen als die akademischen Institutionen, und für den Doktor Wagner hieß das Reisen erster Klasse und Luxushotels, plus Honorare für Vorträge und Seminare, berechnet nach seinem Therapeutentarif.

Wieso dann die beiden Gruppen eine ideologische Inspirationsquelle in Wagners Theorien fanden, war eine andere Geschichte. Aber in jenen Jahren erschien die Wagnersche Psychoanalyse hinreichend dekonstruktiv, diagonal, libidinal und nicht‑cartesianisch, um der revolutionären Arbeit theoretische Anstöße bieten zu können.

Als schwierig erwies sich freilich, sie den Arbeitern zu vermitteln, und vielleicht waren die beiden Gruppen deswegen an einem bestimmten Punkt gezwungen gewesen, sich zwischen den Arbeitern und Wagner zu entscheiden, und hatten sich für Wagner entschieden. So wurde die Idee entwickelt, das neue revolutionäre Subjekt sei nicht das Proletariat, sondern der Deviante.

»Statt die Proletarier deviieren zu lassen, lieber die Devianten proletarisieren«, sagte Belbo eines Tages zu mir.»Ist auch billiger, bei Doktor Wagners Preisen.«







Date: 2015-12-13; view: 424; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ



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