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Die Analogie der Gegensätze ist das Verhältnis von Licht und Schatten, Gipfel und Abgrund, Fülle und Leere. Die Allegorie, Mutter aller Dogmen, ist die Substitution des Stempels durch den Abdruck, der Wirklichkeit durch die Schatten, sie ist die Lüge der Wahrheit und die Wahrheit der Lüge.

Eliphas Lévi, Dogme de la haute magie, Paris, Baillère, 1856, XXII, 22

 

Ich war aus Liebe zu Amparo nach Brasilien gekommen und war aus Liebe zum Land dort geblieben. Ich habe nie begriffen, wieso diese Nachfahrin holländischer Einwanderer, die sich in Recife angesiedelt und dort mit Indios und Schwarzen aus dem Sudan vermischt hatten, wieso diese stolze junge Frau mit dem Gesicht einer Jamaikanerin und der Kultur einer Pariserin einen spanischen Namen hatte, noch dazu einen, der in nichtspanischen Ohren männlich klang. Ich habe nie die Ratio der brasilianischen Namen verstanden. Sie sprechen allen Namenslexika hohn, und sie existieren nur dort.

Amparo sagte mir, dass in ihrer Hemisphäre, wenn man das Wasser im Waschbecken ablaufen lasse, der kleine Strudel am Ende, wenn der letzte Rest weggurgelt, von rechts nach links gehe, während es bei uns andersherum sei – oder umgekehrt. Ich habe nicht nachprüfen können, ob das stimmt. Nicht nur weil in unserer Hemisphäre niemand nachgeschaut hat, wie herum das Wasser weggurgelt, sondern auch weil ich nach diversen Experimenten in Brasilien feststellen musste, dass die Sache sehr schwer zu begreifen ist. Der Strudel vergurgelt zu schnell, als dass man ihm folgen kann, und vermutlich ist seine Richtung abhängig von der Stärke und Neigung des Strahls, aber auch von der Form des Beckens oder der Wanne. Und schließlich, wenn Amparo recht hätte, wie müsste es dann am Äquator sein? Läuft das Wasser dort senkrecht ab, ohne Strudel, oder läuft es am Ende gar nicht ab?

Damals sah ich das Problem nicht allzu dramatisch, aber vorgestern Abend im Periskop dachte ich, dass letztlich alles von den tellurischen Strömen abhängt und dass ihr Geheimnis im Pendel verborgen ist.

Amparo war fest in ihrem Glauben.»Was empirisch zu sehen ist, spielt keine Rolle«, sagte sie,»es handelt sich um ein Idealprinzip, das nur unter Idealbedingungen verifiziert werden kann, also nie. Aber es ist wahr.«

In Mailand war sie mir begehrenswert erschienen wegen ihrer nüchternen, coolen Art. Dort unten, im Kontakt mit den Säuren ihres heimischen Bodens, wurde sie schwerer definierbar, luzide visionär und fähig zu unterirdischer Rationalität. Ich fühlte, wie sich archaische Leidenschaften in ihr regten, die sie wachsam zu zügeln suchte, pathetisch in ihrem Asketentum, das ihr gebot, der Verführung zu widerstehen.

Am besten ermaß ich ihre herrlichen Widersprüche, wenn ich sie beim Diskutieren mit ihren Genossen sah. Es waren Versammlungen in verwahrlosten Wohnungen, dekoriert mit wenigen Postern und vielen folkloristischen Gegenständen, Porträts von Lenin und Tonfiguren aus dem Sertão, die den Cangaceiro feierten, oder indianische Fetische. Ich war in einem politisch nicht sehr klaren Moment gekommen und hatte nach der Erfahrung zu Hause beschlossen, mich von den Ideologien fernzuhalten, zumal dort unten, wo ich sie nicht kapierte. Die Reden von Amparos Genossen vergrößerten meine Unsicherheit, aber sie weckten auch meine Neugier. Natürlich waren alle Marxisten, und auf den ersten Blick redeten sie fast wie europäische Marxisten, aber sie sprachen von etwas anderem, und plötzlich, während einer Diskussion über den Klassenkampf, konnten sie vom»brasilianischen Kannibalismus«sprechen oder von der revolutionären Rolle der afro‑brasilianischen Kulte.

Es waren genau diese Reden, die mich zu der Überzeugung brachten, dass dort unten auch der ideologische Strudel andersherum läuft. Sie zeichneten mir ein Panorama innerer Pendel‑Migrationen, mit den Entrechteten und Verhungernden aus dem Norden, die in den industrialisierten Süden zogen, sich in riesigen Metropolen subproletarisierten, erstickt von Smogwolken, bis sie nach einer Weile verzweifelt in den Norden zurückgingen, um ein Jahr später erneut in den Süden zu fliehen; doch viele strandeten bei diesem Hin und Her in den großen Städten, wurden aufgesogen von einer Plejade autochthoner Kirchen, gaben sich dem Spiritismus hin, der Beschwörung afrikanischer Gottheiten... Und hier waren Amparos Genossen geteilter Meinung, für einige bewies sich darin eine Rückkehr zu den Wurzeln, ein Widerstand gegen die Welt der Weißen, für andere waren diese Kulte die Droge, mit welcher die herrschende Klasse ein immenses revolutionäres Potenzial niederhielt, wieder andere sahen darin den Schmelztiegel, in dem sich Weiße, Indios und Schwarze zu einer neuen Kraft mit noch vagen Perspektiven und ungewissem Schicksal vermischten. Amparo war entschieden, für sie waren die Religionen immer und überall das Opium der Völker gewesen, um so mehr also waren es diese pseudo‑tribalistischen Kulte. Dann fasste ich sie um die Taille in den Escolas de Samba, wenn auch ich an den Tänzerschlangen teilnahm, die sich in langen Serpentinen wanden, begleitet vom unerträglichen Rhythmus der Trommeln, und ich spürte, dass sie an jener Welt mit den Unterleibsmuskeln hing, mit dem Herzen, dem Kopf, den Nasenflügeln... Und dann wieder gingen wir heim, und sie war die Erste, die mir sarkastisch und böse die tiefe, orgiastische Religiosität jener langsamen, Woche für Woche, Monat für Monat gesteigerten Hingabe an den Karnevalsritus sezierte. Genauso tribalistisch und abergläubisch, sagte sie mit revolutionärem Hass, wie jene Fußballrituale, bei denen die Erniedrigten und Beleidigten ihre kämpferische Energie und ihren Sinn für Revolte verausgaben, um Zaubereien und Hexenkünste zu betreiben und durch Beschwörung der Götter aller möglichen Welten den Tod des gegnerischen Mittelverteidigers zu erreichen, uneingedenk der Herrschaft des Kapitals, das sie verzückt und schwärmerisch haben will, auf ewig dem Irrealen Verfallen.


Allmählich verlor ich den Sinn für die Differenz. So wie ich mir langsam abgewöhnte, nach den Rassenunterschieden zu suchen in jenem Universum von Gesichtern, die jahrhundertelange Geschichten von unkontrollierten Kreuzungen erzählten. Ich verzichtete darauf, jeweils genau zu bestimmen, wo der Fortschritt war, wo die Revolte und wo das Komplott – wie Amparos Genossen sich ausdrückten – des Kapitals. Wie konnte ich noch europäisch denken, als ich erfuhr, dass die Hoffnungen der extremen Linken an einem Bischof im Nordosten hingen, der im Verdacht stand, als junger Mann mit den Nazis sympathisiert zu haben, und der jetzt mit unverzagtem Glauben die Fackel der Rebellion hochhielt, zum Entsetzen des Vatikans sowie der Haie von Wall Street, aber zum Frohlocken der mystischen Proletarier, deren Atheismus besiegt worden war vom lieblich‑bedrohlichen Bildnis einer Gnädigen Herrin, die schmerzensreich ihr Antlitz über die Not ihres Volkes neigte?

Eines Morgens, als ich mit Amparo aus einem Seminar über die Klassenstruktur des Lumpenproletariats kam, fuhren wir eine Küstenstraße entlang. Am Strand sah ich Votivgaben aufgereiht, bunte Kerzen und weiße Körbe. Amparo sagte mir, das seien Gaben für Yemanjá, die Göttin der Gewässer. Sie stieg aus dem Wagen, trat andächtig an die Wasserkante und blieb ein Weilchen schweigend dort stehen. Ich fragte sie, ob sie an Yemanjá glaube. Sie fragte wütend zurück, wie ich das denken könne. Dann fügte sie hinzu:»Meine Großmutter brachte mich hierher an den Strand und rief die Göttin an, damit ich schön und gut und glücklich gedeihe. Wer war doch gleich euer Philosoph, der von schwarzen Katzen und Korallenamuletten sprach und gesagt hat: ›Es ist nicht wahr, aber ich glaube daran‹? Gut, ich sage eben: Ich glaube nicht daran, aber es ist wahr.«


An jenem Tag beschloss ich, für eine Reise nach Bahia zu sparen.

Aber damals war es auch, heute weiß ich es, dass ich anfing, mich vom Gefühl der allgemeinen Ähnlichkeit einlullen zu lassen: Alles hing irgendwie mit allem zusammen, alles konnte mysteriöse Analogien mit allem haben.

Als ich nach Europa zurückkehrte, verwandelte ich diese Metaphysik in eine Mechanik – und deshalb bin ich in die Falle gegangen, in der ich nun sitze. Aber damals bewegte ich mich in einem Dämmerlicht, in dem die Unterschiede verschwammen. Rassistisch dachte ich, dass die Glaubensvorstellungen anderer für den starken Mann Gelegenheiten zu frivoler Ausschweifung seien.

Ich erlernte Rhythmen und Bewegungsweisen, um Geist und Körper gehen zu lassen. Ich sagte es mir vorgestern Abend im Periskop, als ich, um gegen das Kribbeln in meinen Gliedern anzukämpfen, die Beine bewegte, als schlüge ich noch das Agogõ. Siehst du, sagte ich mir, um dich der Macht des Unbekannten zu entziehen, um dir selbst zu beweisen, dass du nicht an diese Dinge glaubst, akzeptierst du ihren Zauber. Wie ein bekennender Atheist, der nachts den Teufel sieht und sich gut atheistisch sagt: Er existiert nicht, was ich da sehe, ist bloß eine Täuschung meiner erregten Sinne, vielleicht liegt es an meiner Verdauung; aber er weiß das nicht, er glaubt an seine umgekehrte Theologie. Was könnte ihm, der seiner Existenz so sicher ist, Angst einjagen? Du schlägst das Kreuz, und der andere, gläubig, verzieht sich mit Blitz und Schwefelgestank.

So erging es mir wie einem übergescheiten Ethnologen, der jahrelang den Kannibalismus studiert hat und dann, um die Dummheit der Weißen herauszufordern, überall erzählt, dass Menschenfleisch köstlich schmecke. Unverantwortliches Gerede, denn er weiß, dass er's nie wird probieren müssen. Bis schließlich jemand, begierig auf Wahrheit, es an ihm ausprobiert. Und während der Gute Stück für Stück verzehrt wird, bedauert er, dass er nun nie mehr erfahren wird, ob er recht gehabt hatte, und hofft geradezu, dass sein Fleisch gut schmeckt, um wenigstens seinen Tod zu rechtfertigen. So ähnlich erging es mir vorgestern Abend im Periskop: ich musste geradezu glauben, dass der Große Plan wahr sei, andernfalls wäre ich in den letzten zwei Jahren der omnipotente Schöpfer eines schrecklichen Albtraums gewesen. Besser, der Albtraum ist wahr, denn was wahr ist, ist wahr, und du bist nicht involviert.


 

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Sauvez la faible Aischa des vertiges de Nahash, sauvez la plaintive Héva des mirages de la sensibilité, et que les Khérubs me gardent.

(Rettet die schwache Aischa vor den schwindelnden Höhen von Nahash, rettet die klagende Eva vor den Wundern der Sensibilität, und mögen die Cherubim mich beschützen.)

 

Joséphin Péladan, Comment on devient Fée, Paris, Chamuel, 1893, p. XIII

 

Während ich immer tiefer in den Dschungel der Ähnlichkeiten eindrang, bekam ich einen Brief von Belbo:

Lieber Casaubon,

ich wusste gar nicht, dass Sie in Brasilien sind, ich hatte Ihre Spur ganz verloren, ich wusste nicht einmal, dass Sie inzwischen promoviert haben (gratuliere!), aber vor zwei Tagen fand ich jemanden bei Pilade, der mir Ihre Koordinaten geben konnte. Es scheint mir angebracht, Sie über einige neue Fakten ins Bild zu setzen, betreffend die unselige Geschichte mit dem Oberst Ardenti. Mehr als zwei Jahre sind seither vergangen, und ich muss mich nochmals bei Ihnen dafür entschuldigen, dass ich Sie damals, ohne es zu wollen, in das Schlamassel mit reingezogen habe.

Ich hatte die hässliche Sache schon fast vergessen, aber vor zwei Wochen war ich zu einem Ausflug ins Montefeltro gefahren, Sie wissen schon, die Gegend hinter Rimini in den Bergen, und da bin ich ganz zufällig auch auf den Felsen von San Leo gestoßen. Waren Sie mal da? Im achtzehnten Jahrhundert gehörte die Festung noch zum Kirchenstaat, und der Papst hatte Cagliostro dort eingesperrt, in einer Zelle ohne Tür (man kam das erste und letzte Mal durch ein Loch in der Decke rein) und mit einem Fensterchen, durch das der Verurteilte nur die zwei Kirchen im Ort sehen konnte. Auf dem rohen Holzgestell, wo Cagliostro schlief und gestorben ist, lag ein Rosenstrauß, und der Führer sagte, es gebe noch viele, die zum Ort des Martyriums pilgerten. Zu den hartnäckigsten Pilgern, sagte er mir, gehörten die Mitglieder von Picatrix, einem Mailänder Mysteriosophenzirkel, der auch eine Zeitschrift namens – man beachte den Einfallsreichtum – Picatrix herausbringe.

Sie wissen, dass ich derlei Kuriositäten schätze, und so habe ich mir in Mailand gleich eine Nummer von Picatrix besorgt, aus der ich unter anderm erfuhr, dass in wenigen Tagen eine besondere Feier anstand: eine Beschwörung des Geistes von Cagliostro. Ich also nichts wie hin.

Die Wände waren verhängt mit Fahnen voll kabbalistischer Zeichen, großer Aufwand an Uhus und Käuzchen, Skarabäen und Ibissen, orientalischen Göttern unbestimmter Provenienz. Im Vordergrund eine Art Bühne, mit einem Proszenium aus flackernden Fackeln auf groben Wurzelstrünken, im Hintergrund ein Altar mit dreifüßigem Aufsatz und zwei Statuetten von Isis und Osiris. Drumherum ein Amphitheater aus Anubis‑Figuren, ein Porträt von Cagliostro (von wem sonst, würden Sie meinen?), eine vergoldete Mumie in Cheops‑Format, zwei fünfarmige Kandelaber, ein Gong, getragen von zwei aufgerichteten Schlangen, ein Lesepult auf einem Sockel, verkleidet mit hieroglyphenbedrucktem Baumwollstoff, zwei Kronen, zwei Dreifüße, ein kleiner Reisesarg, ein Thron, ein falscher Barocksessel, vier nicht zusammenpassende Stühle Typ Festgelage beim Sheriff von Nottingham, Kerzen, Grablichter, Leuchter, kurz: ein mächtig spirituelles Gepränge.

Es erscheinen sieben Zwergenpriester in Zwergensoutanen mit Zwergenlichtern und dann der Zeremonienmeister, der scheint's der Direktor von Picatrix ist – aber bloß Brambilla heißt, die Götter mögen's ihm verzeihen –, angetan mit rosaroten und olivbraunen Paramenten, sodann das Medium, ein blasses dünnes Mädchen, und schließlich sechs weiß gekleidete Akolythen, die aussehen wie sechs Doppelgänger von Ninetto Davoli, aber mit Stirnbinde, so einer priesterlichen infula Dei, wenn Sie sich an unsere Dichter erinnern.

Der Brambilla stülpt sich eine Tiara mit Halbmond auf den Kopf, zückt ein rituelles Schwert, zeichnet damit magische Figuren auf den Bühnenboden und ruft beschwörend ein paar Engelsnamen mit»el«am Ende – und dabei kommen mir vage die pseudosemitischen Teufeleien der Botschaft Ingolfs in den Sinn, aber nur für einen Augenblick, dann verliere ich mich in andere Gefilde. Auch weil an diesem Punkt etwas Singuläres passiert, die Bühnenmikrofone sind mit einem Receiver verbunden, der irgendwelche im Raum herumschweifende Wellen auffangen soll, aber der stirnbandbewehrte Tontechniker muss etwas falsch gemacht haben, denn erst hört man Disco‑Musik, und dann ertönt plötzlich die Stimme von Radio Moskau. Der Brambilla öffnet den Sarg, entnimmt ihm ein Zauberbuch, einen Säbel und ein Räucherfässchen und schreit: O Herr, dein Reich komme! – und es scheint, als hätte er tatsächlich was erreicht, denn Radio Moskau verstummt, aber im magischsten Augenblick fängt es wieder an mit einem besoffenen Kosakenchor, so einem von der Sorte, wo sie mit dem Hintern am Boden tanzen. Brambilla ruft die Clavicula Salomonis an, verbrennt auf dem Dreifuß ein Pergament, dass es fast eine Feuersbrunst gibt, beschwört ein paar Götter des Karnaktempels, ihn auf den kubischen Stein von Hesod zu versetzen, und ruft dann beharrlich nach einem gewissen»Familiare 39«, der dem Publikum höchst familiär sein muss, denn ein Raunen geht durch den Saal. Eine Zuschauerin fällt in Trance, die Augen nach oben verdreht, sodass man nur noch das Weiße sieht, die Leute schreien: ein Arzt, ein Arzt! – und an diesem Punkt ruft der Brambilla die Macht der Drudenfüße herbei, und das Medium, das sich unterdessen auf dem falschen Barocksessel niedergelassen hat, fängt an zu seufzen und sich zu winden, und der Brambilla beugt sich über sie und befragt sie dringlich, beziehungsweise befragt den Familiare 39, der, wie mir in diesem Augenblick dämmert, niemand anders ist als Cagliostro höchstselbst in eigener Person.

Und hier beginnt der beunruhigende Teil, denn das Medium scheint wirklich Qualen zu leiden, es schwitzt, es zittert und stöhnt, es stammelt zusammenhanglose Satzfetzen, spricht von einem Tempel, einem zu öffnenden Tor, sagt, dass sich ein Kraftstrudel bilde, dass man zur Großen Pyramide hinaufsteigen müsse, der Brambilla rennt auf der Bühne umher, schlägt den Gong und ruft mit röhrender Stimme nach Isis, ich genieße das Schauspiel, da höre ich plötzlich, wie das Mädchen zwischen zwei Seufzern etwas von sechs Siegeln stammelt, von hundertzwanzig Jahren Wartezeit und von sechsunddreißig Unsichtbaren. Kein Zweifel, sie spricht von der Geheimbotschaft aus Provins. Während ich noch warte, dass sie mehr sagt, verstummt die Ärmste total erschöpft, der Brambilla streicht ihr über die Stirn, segnet die Anwesenden mit dem Räucherfässchen und erklärt die Zeremonie für beendet.

Ich war halb beeindruckt, halb bemüht zu kapieren, und so versuche ich mich dem Mädchen zu nähern, das sich inzwischen wieder erholt hat, in einen ziemlich schmuddligen Mantel geschlüpft ist und zur Hintertür hinausstrebt. Gerade will ich sie an der Schulter berühren, da fasst mich jemand am Arm. Ich drehe mich um, und es ist der Kommissar De Angelis, der mir sagt, ich solle sie laufen lassen, er wisse, wo sie zu finden sei. Er lädt mich ein, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen. Ich folge ihm, als ob er mich auf frischer Tat ertappt hätte, und in gewisser Hinsicht stimmte das ja auch, und im Café fragt er mich, wieso ich bei der Veranstaltung gewesen sei und was ich von dem Mädchen gewollt hätte. Ich werde sauer und antworte ihm, wir lebten ja wohl noch in einer Demokratie, ich könnte ansprechen, wen ich wollte. Er entschuldigt sich und erklärt mir: Die Ermittlungen über Ardenti seien nur langsam vorangekommen, aber sie hätten zu rekonstruieren versucht, wie er die beiden Tage in Mailand verbracht hatte, ehe er zu den Treffen mit Garamond und mit dem mysteriösen Rakosky gegangen war. Ein ganzes Jahr später sei dann durch puren Zufall herausgekommen, dass jemand den Ardenti gesehen hatte, wie er aus dem Büro von Picatrix kam, zusammen mit dem Medium. Das Mädchen interessiere ihn übrigens auch, weil es mit einem Typ zusammenlebe, der den Kollegen vom Rauschgiftdezernat nicht ganz unbekannt sei.

Ich sage ihm, dass ich durch puren Zufall da gewesen sei und dass es mich überrascht habe, von dem Mädchen einen Satz über sechs Siegel zu hören, den ich bereits von dem Oberst gehört hätte. Er weist mich darauf hin, dass es merkwürdig sei, wie gut ich mich nach zwei Jahren noch erinnern könne, was der Oberst damals gesagt habe, wo ich doch am Tag danach bloß auf ein vages Gerede über einen Schatz der Templer angespielt hätte. Ich sage ihm, der Oberst hätte eben von einem Schatz gesprochen, der von sechs Siegeln geschützt würde, aber das sei mir damals nicht weiter wichtig erschienen, da alle Schätze von sieben Siegeln und goldenen Skarabäen geschätzt würden. Woraufhin er bemerkt, dann sehe er nicht recht, wieso ich von den Worten des Mädchens so überrascht gewesen sei, wenn doch alle Schätze von goldenen Skarabäen geschützt würden. Ich fordere ihn auf, mich gefälligst nicht wie einen Verdächtigen zu behandeln, er wechselt den Ton und lacht. Sagt dann, er finde es nicht weiter seltsam, dass das Mädchen gesagt habe, was es gesagt hatte, denn irgendwie müsse ihr der Ardenti von seinen Fantasien erzählt haben, womöglich um sie als Medium für irgendwelche astralen Kontakte zu benutzen, wie man in jenen Kreisen sage. Dieses Mädchen, erklärt er mir, sei wie ein Schwamm, eine fotografische Platte, die Ärmste müsse ein Unbewusstes haben, das einem Jahrmarkt gleiche, vermutlich unterzögen die Typen von Picatrix sie das ganze Jahr lang einer Gehirnwäsche, es sei nicht unwahrscheinlich, dass ihr in Trance – denn sie falle wirklich in Trance, sie fingiere nicht bloß, und sie sei nicht ganz richtig im Kopf – Bilder gekommen seien, die sie vor langer Zeit gesehen habe.

Aber zwei Tage später erscheint De Angelis dann bei mir im Büro und sagt, wie sonderbar, einen Tag nach der Zeremonie sei er das Mädchen suchen gegangen, und da sei es nicht da gewesen. Er habe die Nachbarn gefragt, keiner habe sie gesehen, mehr oder weniger schon seit dem Nachmittag vor dem fatalen Ritus. Er habe Verdacht geschöpft, sei in ihre Wohnung eingedrungen und da sei alles drunter und drüber gewesen, Bettlaken auf dem Boden, Kopfkissen in einer Ecke, Zeitungen durcheinander, Schubladen leer. Sie selber verschwunden, samt ihrem Druden oder Liebhaber oder Mitbewohner oder wie das heiße.

Er sah mich an und sagte, wenn ich noch etwas wüsste, sei es besser, ich würde jetzt reden, denn er finde es seltsam, dass dieses Mädchen auf einmal verschwunden sei, und er könne dafür nur zwei Gründe sehen: Entweder habe jemand bemerkt, dass er, De Angelis, die Kleine ins Auge gefasst hatte, oder sie hätten beobachtet, wie ein gewisser Jacopo Belbo mit ihr zu sprechen versuchte. Und folglich müssten die Sachen, die sie in Trance gesagt hatte, doch etwas Ernsteres betreffen, und nicht einmal sie, wer immer sie sein mochten, hätten anscheinend geahnt, dass die Kleine so viel wusste.»Und nehmen Sie an, einer meiner Kollegen setzt sich in den Kopf, Sie könnten das Mädchen umgebracht haben, Herr Doktor Belbo«, fügte der Kommissar mit schönem Lächeln hinzu,»dann sehen Sie, dass es besser ist, wenn wir zusammenarbeiten.«Ich war drauf und dran, die Geduld zu verlieren, Gott weiß, dass mir das nicht oft passiert, ich fragte, wieso zum Teufel jemand, der nicht zu Hause angetroffen wird, gleich ermordet worden sein müsse, und er fragt zurück, ob ich mich an die Sache mit dem Oberst erinnerte. Ich sagte, auf jeden Fall, wenn das Mädchen umgebracht oder entführt worden sei, müsse das an dem Abend geschehen sein, als ich mit ihm, dem Kommissar, zusammen war, und er fragt mich, wieso ich da so sicher sei, schließlich seien wir gegen Mitternacht auseinandergegangen und was dann passiert sei, wisse er nicht. Ich frage ihn, ob er das im Ernst meine, und er fragt mich, ob ich noch nie einen Krimi gelesen hätte und nicht wüsste, dass die Polizei grundsätzlich jeden verdächtigen müsse, der kein glasklares Alibi habe, und er würde seinen Kopf für eine Transplantation hergeben, sogar auf der Stelle, wenn ich ein Alibi für die Zeit zwischen ein Uhr nachts und dem nächsten Morgen hätte.

Was soll ich Ihnen sagen, Casaubon, vielleicht hätte ich besser daran getan, ihm die Wahrheit zu erzählen, aber die Leute aus meiner Gegend sind Dickschädel, nichts fällt ihnen schwerer als einzulenken.

Ich schreibe Ihnen dies alles, weil, so wie ich Ihre Adresse gefunden habe, auch De Angelis sie finden könnte: Für den Fall, dass er sich mit Ihnen in Verbindung setzt, sollen Sie wenigstens wissen, welche Linie ich eingehalten habe. Aber da mir diese Linie nicht gerade sehr gerade erscheint, sagen Sie ruhig alles, wenn Sie's für richtig halten. Ich schäme mich, entschuldigen Sie, ich fühle mich als Komplize von irgendetwas und suche nach einer halbwegs noblen Rechtfertigung und kann partout keine finden. Muss an meiner bäuerlichen Herkunft liegen, bei uns auf dem Land sind wir sture Hunde.

Die ganze Geschichte ist ziemlich – wie man auf deutsch sagt – unheimlich.

Ihr Jacopo Belbo

 

 

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... ces mystérieux Initiés devenus nombreux, hardis et conspirateurs: Jésuitisme, magnétisme, Martinisme, pierre philosophale, somnambulisme, éclectisme, tout est de leur ressort.

(... diese mysteriösen Initiierten, zahlreich geworden, kühn und konspirativ: Jesuitismus, Magnetismus, Martinismus, [Suche nach dem] Stein der Weisen, Somnambulismus, Eklektizismus, alles stammt von ihnen)

 

C.‑L. Cadet‑Gassicourt, Le tombeau de Jacques de Molay, Paris, Desenne, 1797, p. 91

 

Der Brief beunruhigte mich. Nicht weil ich fürchtete, von De Angelis gesucht zu werden, schließlich war ich in einer anderen Hemisphäre, sondern aus unbestimmteren Gründen. Damals dachte ich, meine Irritation käme daher, dass mich dort unten eine Welt, die ich längst verlassen zu haben glaubte, plötzlich hinterrücks wieder ansprang. Heute begreife ich, dass das, was mich verwirrte, eine weitere Spur der Ähnlichkeit war, der Verdacht einer Analogie. In instinktiver Abwehr glaubte ich, was mich ärgerte, sei die Wiederbegegnung mit Belbo und seinem ewigen schlechten Gewissen. So beschloss ich, alles zu verdrängen, und sagte Amparo nichts von dem Brief.

Bestärkt wurde ich darin von einem zweiten Brief, den mir Belbo zwei Tage später schickte.

Die Sache mit dem verschwundenen Mädchen, schrieb er, habe sich auf vernünftige Weise geklärt. Ein Zuträger der Polizei habe erzählt, dass der Geliebte des Mädchens in eine Abrechnung unter Dealern geraten sei, wegen einer Drogenlieferung, die er auf eigene Faust verscherbelt habe, statt sie dem ehrlichen Großhändler zu übergeben, der sie bereits bezahlt habe. Dergleichen ist im Milieu sehr unbeliebt. Um seine Haut zu retten, hat sich der Knabe aus dem Staub gemacht. Und offenkundig sein Mädchen mitgenommen. Beim Durchstöbern der Sachen in seiner Wohnung fand De Angelis dann Hefte vom Typ Picatrix, mit einer Reihe von Artikeln, die rot angestrichen waren. Einer betraf den Schatz der Templer, ein anderer die Rosenkreuzer, die in einer Burg oder Höhle oder weiß der Teufel was lebten, in der geschrieben stand »post 120 annos patebo (nach 120 Jahren werde ich offenstehen)«, und die als sechsunddreißig Unsichtbare definiert wurden. Für De Angelis war damit alles klar: Das Mädchen hat diese Art Literatur verschlungen (dieselbe, an der sich auch der Oberst labte) und sie dann bröckchenweise wieder ausgespuckt, wenn sie in Trance war. Der Fall war abgeschlossen, ans Rauschgiftdezernat übergeben.

Belbos Brief troff vor Erleichterung. Die Erklärung des Kommissars schien die ökonomischste.

Vorgestern Abend im Periskop sagte ich mir, dass die Dinge in Wahrheit ganz anders gelaufen sein mussten: Das Medium hatte zwar wirklich etwas gesagt, was es von Ardenti gehört haben musste, aber was nie in den Heften gestanden hatte und niemand wissen durfte. Im Milieu von Picatrix musste jemand gewesen sein, der den Oberst hatte verschwinden lassen, um ihn zum Schweigen zu bringen, und dieser jemand hatte bemerkt, dass Belbo das Mädchen befragen wollte, und hatte es ebenfalls eliminiert. Danach, um die Ermittler irrezuführen, hatte er auch den Geliebten des Mädchens eliminiert und einen Zuträger der Polizei bewogen, die Geschichte mit der Flucht zu erzählen.

So einfach alles, wenn es einen Plan gegeben hätte. Aber gab es denn einen, wo wir ihn doch erst erfinden sollten, und zwar erst viel später? Ist es möglich, dass die Realität nicht nur die Fiktion überholt, sondern ihr vorauseilt, ja vorauseilend ihr zuvorkommt, um die Schäden zu reparieren, die die Fiktion erst anrichten wird?

Damals jedoch, in Brasilien, waren nicht dies die Gedanken, die der Brief in mir anregte. Eher hatte ich erneut das Gefühl, dass etwas an etwas anderes erinnerte. Ich dachte an meine Reise nach Bahia und verbrachte einen ganzen Nachmittag in Buch‑ und Devotionalienläden, die ich bisher vernachlässigt hatte. Ich fand versteckte, fast geheime Boutiquen mit Regalen voller Kultgegenstände, Statuen und Idole. Ich erstand Perfumadores de Yemanjá, Duftkegel mit einem beißenden Geruch, Räucherstäbchen, Spraydosen mit einem süßlichen Spray, benannt nach dem Heiligen Herzen Jesu, Amulette für wenig Geld. Und ich fand Bücher in Mengen, einige für die Frommen, andere für die, die die Frommen studierten, alles zugleich, Formulare zum Exorzieren, Manuale zum Wahrsagen aus einer Glaskugel, Como adivinhar o futuro na bola de cristal, und Lehrbücher der Anthropologie. Und eine Monografie über die Rosenkreuzer.







Date: 2015-12-13; view: 373; Нарушение авторских прав



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