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»Und die Rosenkreuzer selbst?«

»Grabesstille. Post hundertzwanzig annos patebo nix. Hocken schweigend im Vakuum ihres Palastes. Ich glaube, es ist gerade ihr Schweigen, das die Geister erregt. Das sie nicht antworten, heißt, das sie tatsächlich existieren. 1617 schreibt Robert Fludd einen Tractatus apologeticus integritatem societatis de Rosea Cruce defendens, und der Autor eines De naturae secretis von 1618 sagt, der Moment sei gekommen, das Geheimnis der Rosenkreuzer zu lüften.«

»Und lüftet er es?«

»Von wegen. Er macht es noch komplizierter. Denn er entdeckt, das man, wenn man die von den Rosenkreuzern versprochenen 188 Jahre von 1618 abzieht, auf 1430 kommt: das Jahr, in dem der Orden des Goldenen Vlieses gegründet wurde.«

»Und was hat der damit zu tun?«

»Ich kapiere nicht, wie er auf 188 Jahre kommt, weil es 120 sein müssten, aber wenn du mystische Subtraktionen und Additionen machen willst, geht die Rechnung immer auf. Das Goldene Vlies ist jedenfalls das der Argonauten, und ich weiß aus sicherer Quelle, das es was mit dem Heiligen Gral zu tun hat und somit, wenn du erlaubst, auch mit den Templern. Aber damit noch nicht genug. Zwischen 1617 und 1619 gibt Robert Fludd, der offenbar noch fleißiger schrieb als Barbara Cartland, vier weitere Bücher zum Druck, darunter seine Utriusque cosmi historia, eine Art kurze Geschichte des Universums, illustriert, ganz in Rosa und Kreuz. Michael Maier nimmt seinen ganzen Mut zusammen und publiziert sein Opus Silentium post clamores, in dem er behauptet, die Bruderschaft existiere und hänge nicht nur mit dem Orden vom Goldenen Vlies zusammen, sondern auch mit dem Hosenbandorden. Aber er ist zu unbedeutend, um aufgenommen zu werden. Jetzt stell dir vor, wie das die Gelehrten Europas beflügelt! Wenn diese Rosenkreuzer nicht mal einen Maier aufnehmen, müssen sie wirklich ein höchst exklusiver Club sein. Also sind nun alle zu allem bereit, um aufgenommen zu werden. Alle sind bereit zu sagen, das die Rosenkreuzer existieren, alle zu bekennen, das sie nie einen gesehen haben, alle an sie zu schreiben, wie um ein Rendezvous zu fixieren oder um eine Audienz zu bitten, niemand erdreistet sich zu sagen, er sei kontaktiert worden, einige sagen, das der Orden nicht existiert, weil sie nicht kontaktiert worden sind, andere sagen, er existiere gerade, um kontaktiert zu werden.«

»Und die Rosenkreuzer bleiben stumm.«

»Wie die Fische.«

»Mach den Mund auf. Kriegst noch 'ne Mamaya.«

»Mmmm... Unterdessen beginnt der Dreißigjährige Krieg, und Johann Valentin Andreae verfasst eine Schrift namens Turris Babel, um zu verkünden, das binnen Jahresfrist der Antichrist besiegt sein werde, und ein gewisser Irenäus Agnostus schreibt ein Tintinnabulum sophorum... «

»Hübscher Titel, tintin.«

»... wobei ich nicht ganz kapiere, was er darin sagt, aber sicher ist, das dann Tommaso Campanella oder wer immer für ihn in der deutschen Ausgabe seiner Monarchia Hispanica interveniert und die ganze Rosenkreuzergeschichte zu einem Divertissement perverser Hirne erklärt... Und danach ist Schluss, zwischen 1621 und 1623 schweigen alle.«

»Einfach so?«

»Einfach so. Sind wohl müde geworden. Wie die Beatles. Allerdings nur in Deutschland. Denn die Sache sieht aus wie die Geschichte einer Giftwolke. Sie verlagert sich nach Frankreich. Eines schönen Morgens im Jahre 1623 erscheinen an den Mauern in Paris Plakate einer»Confraternité de la Rose‑Croix«, die den braven Bürgern mitteilen, das die Deputierten des Hauptkollegiums der Brüderschaft sich dorthin transferiert hätten und bereit seien, Mitglieder aufzunehmen. Doch einer anderen Version zufolge sagen die Plakate klar und deutlich, das es sich um sechsunddreißig Unsichtbare handle, die in Sechsergruppen durch die Welt verstreut seien und die Macht hätten, ihre Adepten unsichtbar zu machen... Tzz tzz, schon wieder die Sechsunddreißig... «

»Wer?«

»Die aus meinem Templerdokument.«

»Fantasielose Leute. Und dann?«

»Und dann kommt es zu einem kollektiven Wahn. Die einen verteidigen sie, die anderen wollen sie kennenlernen, wieder andere behaupten, sie betrieben Satanismus, Alchimie, Häresie mit dem Teufel Astarotte, der eingreife, um sie reich und mächtig zu machen, und fähig, sich im Fluge von einem Ort zum anderen zu begeben... Mit einem Wort – der Skandal des Tages.«


»Raffiniert, diese Rosenkreuzer. Nichts ist so gut wie eine Lancierung in Paris, um in Mode zu kommen.«

»Scheint, das du recht hast, denn hör zu, was passiert – mein Gott, was für eine Epoche! Descartes höchstpersönlich war in den Jahren zuvor in Deutschland gewesen und hatte nach ihnen gesucht, aber sein Biograf sagt, er hätte sie nicht gefunden – na ja, sie liefen ja auch unter falschen Namen herum. Als er nach Paris zurückkommt, nach dem Auftauchen der Plakate, erfährt er, das alle ihn für einen Rosenkreuzer halten. Bei der herrschenden Stimmung war das keine gute Empfehlung und missfiel auch seinem Freund Mersenne, der bereits aus vollen Rohren gegen die Rosenkreuzer tönte und sie als Betrüger, Umstürzler, Zauberer, Kabbalisten und Brunnenvergifter traktierte. Was also macht der gute Descartes? Er lässt sich überall sehen, wo er nur kann. Und da alle ihn sehen und es nicht zu leugnen ist, kann er kein Unsichtbarer sein, und ergo ist er kein Rosenkreuzer.«

»Das nennt man Methode.«

»Natürlich war's mit dem Abstreiten nicht getan. Denn so wie die Dinge inzwischen lagen, wenn einer daherkam und sagte, Guten Tag, ich bin ein Rosenkreuzer, dann bedeutete das, das er keiner war. Ein Rosenkreuzer, der auf sich hält, sagt nicht, das er einer ist. Im Gegenteil, er streitet es lauthals ab.«

»Aber man kann doch nicht sagen, wer sagt, er wäre kein Rosenkreuzer, ist einer. Denn auch ich sage dir, das ich keiner bin, und deswegen kannst du noch lange nicht sagen, ich wäre einer.«

»Aber es abzustreiten ist schon verdächtig.«

»Nein. Denn was macht ein Rosenkreuzer, wenn er kapiert, das die Leute dem, der sagt, das er einer ist, nicht glauben, und den, der sagt, das er keiner ist, verdächtigen? Er fängt an zu sagen, das er einer ist, um sie glauben zu machen, er wäre keiner.«

»Du sagst es. Also müssten von jetzt an alle, die sagen, sie wären Rosenkreuzer, lügen und somit tatsächlich welche sein! Ah, nein, Amparo, nein, lass uns nicht in ihre Falle gehen. Sie haben ihre Spione überall, sogar hier unter diesem Bett, und daher wissen sie jetzt, das wir Bescheid wissen. Also sagen sie, das sie keine sind.«

»Liebling, jetzt habe ich Angst«

»Sei ruhig, Liebling, ich beschütze dich ja. Schau, ich bin dumm, und wenn sie sagen, sie wären keine, dann glaube ich, das sie welche sind, und so entlarve ich sie sofort. Ein entlarvter Rosenkreuzer ist ungefährlich, du kannst ihn zum Fenster rausjagen, indem du einfach mit der Zeitung wedelst«

»Und Agliè? Er will uns glauben machen, er sei der Graf von Saint‑Germain. Natürlich, damit wir glauben, er wäre es nicht. Also ist er ein Rosenkreuzer. Oder?«

»Hör zu, Amparo, wollen wir nicht schlafen?«

»Ah, nein, jetzt will ich das Ende hören!«

»Allgemeine Verpanschung. Alle werden zu Rosenkreuzern. 1627 erscheint das Neue Atlantis von Francis Bacon, und die Leser denken, er spreche vom Land der Rosenkreuzer, obwohl er sie nirgends erwähnt. Der arme Johann Valentin Andreae schwört noch auf dem Totenbett, das er's nicht gewesen sei, oder wenn doch, das es nur ein Spaß war, aber nun ist nichts mehr zu machen. Begünstigt von der Tatsache, das sie nicht existieren, sind die Rosenkreuzer überall.«


»Wie Gott.«

»Jetzt wo du mich darauf bringst.. Schauen wir mal: Matthäus, Lukas, Markus und Johannes sind eine Bande von Spaßvögeln, die sich irgendwo zusammentun und beschließen, einen Erzählwettbewerb zu veranstalten. Sie erfinden einen Typ, legen ein paar essenzielle Daten fest, und los geht's, den Rest kann jeder frei ausgestalten, mal sehen, wer's am besten macht. Dann landen die vier Erzählungen in den Händen von Freunden, die anfangen, sie gelehrt zu interpretieren: Matthäus ist ziemlich realistisch, aber er insistiert zu sehr auf der Geschichte mit dem Messias, Markus ist nicht schlecht, aber ein bisschen konfus, Lukas ist elegant, das muss man ihm lassen, Johannes übertreibt es mit der Philosophie... Aber alles in allem gefallen die Bücher, sie gehen von Hand zu Hand, und als die vier merken, was los ist, ist es zu spät – Paulus ist Jesus schon auf dem Weg nach Damaskus begegnet, Plinius beginnt seine Untersuchung im Auftrag des besorgten Kaisers, eine Legion von apokryphen Autoren gibt vor, noch mehr darüber zu wissen... toi, apocryphe lecteur, mon semblable, mon frère... (du, apokrypher Leser, meinesgleichen, mein Bruder [vgl. Baudelaire: hypocrite lecteur, mon semblable, mon frère]). Petrus steigt die Sache zu Kopf, er nimmt sich ernst. Johannes droht, die Wahrheit zu sagen, Petrus und Paulus lassen ihn verhaften und verbannen ihn auf die Insel Patmos, der Ärmste fängt an, weiße Mäuse zu sehen, beziehungsweise Heuschrecken auf der Bettkante – bringt endlich diese Posaunen zum Schweigen, woher kommt all dieses Blut.. Die andern sagen, er wäre betrunken, es sei die Verkalkung... Und wenn es nun wirklich so gelaufen wäre?«

»Es ist so gelaufen. Lies mal Feuerbach statt deiner alten Schwarten.«

»Amparo, es dämmert schon.«

»Wir sind verrückt.«

»Aurora, die rosenkreuzfingrige, streichelt zärtlich über die Wogen...«

»Ja, gut so. Es ist Yemanjá. Fühlst du? Sie kommt.«

»Mach mir ludibria...«

»O Tintinnabulum!«

»Du bist meine Atalanta Fugiens...«

»O Turris Babel...«

»Ich will die Arcana Arcanissima, das Goldene Vlies, bleich und rosa wie eine Meeresmuschel...«

»Psst... Silentium post clamores.«

 

31

 

 

Il est probable que la plupart des prétendus Rose‑Croix, communément désignés comme tels, ne furent véritablement que des Rosicruciens... on peut même être assuré qu’ils ne l’étaient point, etcela du seul fait qu’ils faisaient partie de telles associations, ce qui peut sembler paradoxal etmême contradictoire à première vue, mais est pourtant facilement compréhensible...


(Es ist wahrscheinlich, daß die Mehrheit der vorgeblichen [echten und alten] Rosenkreuzer, die gemeinhin als solche bezeichnet werden, in Wahrheit bloß [späte und falsche] Rosenkreuzer waren... Man kann sogar sicher sein, daß sie in keiner Weise echt waren, aus dem einfachen Grunde, daß sie zu solchen Vereinigungengehörten, was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, aber dennoch leicht zu verstehen ist...)

 

René Guénon, Aperçus sur finitiation, Paris, Editions Traditi‑onnelles, 1986, p. 241

 

Wir fuhren zurück nach Rio, und ich begann wieder zu arbeiten. Eines Tages entnahm ich einer Illustrierten, dass es in der Stadt einen»Alten und Angenommenen Orden vom Rosenkreuz«gab. Ich schlug Amparo vor, uns den einmal anzusehen, und sie folgte mir widerwillig.

Die Adresse war in einer Nebenstraße, außen befand sich eine Vitrine mit Gipsfiguren, die Cheops, Nofretete und die Sphinx darstellten.

Gerade für diesen Nachmittag war eine Plenarsitzung anberaumt. Thema:»Die Rosenkreuzer und der Umbanda.«Redner ein gewisser Professor Bramanti, Referendar des Ordens in Europa, Geheimer Ritter des Großpriorats In Partibus von Rhodos, Malta und Thessaloniki.

Wir beschlossen hineinzugehen. Die Räumlichkeit wirkte eher verwahrlost, ein karger Saal, dekoriert mit tantrischen Miniaturen, auf denen die Schlange Kundalini zu sehen war, dieselbe, welche die Templer mit dem Kuss auf den Hintern zu wecken gedachten. Wozu den Atlantik überqueren, dachte ich, um eine neue Welt zu entdecken, wenn ich dieselben Dinge auch im Büro von Picatrix hätte finden können.

Hinter einem mit rotem Tuch verhängten Tisch und vor einem eher dünn gesäten und schläfrigen Publikum saß der Professor Bramanti, ein korpulenter Herr, der, wäre er nicht so massig gewesen, leicht als Tapir hätte durchgehen können. Er hatte schon angefangen zu reden, mit vollmundiger Rhetorik, aber noch nicht lange, denn er sprach über die Rosenkreuzer zur Zeit der achtzehnten Dynastie, unter der Herrschaft des Pharao Amosis I.

Vier Verschleierte Herren, erklärte er, wachten über die Evolution der Rasse, die fünfundzwanzigtausend Jahre vor der Gründung von Theben die Kultur der Sahara hervorgebracht habe. Von ihnen beeinflusst, habe der Pharao Amosis eine Große Weiße Bruderschaft gegründet, als Hüterin jener vorsintflutlichen Weisheit, welche die alten Ägypter in den Fingerspitzen hatten. Er sei im Besitz von Dokumenten, behauptete Bramanti (natürlich unzugänglich für die Profanen), welche zurückgingen auf die Weisen des Tempels von Karnak und ihre geheimen Archive. Das Symbol der Rose und des Kreuzes sei dann von Pharao Echnaton ersonnen worden. Es gebe jemanden, der den Papyrus besitze, sagte Bramanti, aber man frage nicht, wer es sei.

Im Schoße dieser Großen Weißen Bruderschaft seien sodann herangewachsen: Hermes Trismegistos (dessen Einfluss auf die italienische Renaissance ebenso unbestreitbar sei wie der auf die Gnosis von Princeton), Homer, die Druiden Galliens, Salomo, Solon, Pythagoras, Plotin, die Essener, die Therapeuten, Josef von Arimathia (der den Gral nach Europa gebracht habe), Alkuin, König Dagobert, Thomas von Aquin, Francis Bacon, Shakespeare, Spinoza, Jakob Böhme, Debussy und Einstein. Amparo flüsterte mir zu, ihr scheinen es fehlten nur noch Nero, Cambronne, Geronimo, Pancho Villa und Buster Keaton.

Was den Einfluß der ursprünglichen Rosenkreuzer auf das Christentum betraf, so begnügte sich der Redner mit dem Hinweis für jene, die sich der Frage noch nie zugewandt hatten, dass es kein Zufall sei, wenn die Legende wolle, dass Jesus am Kreuz gestorben sei.

Die Weisen der Großen Weißen Bruderschaft seien eben dieselben, welche die erste Freimaurerloge gegründet hätten, zurzeit König Salomos. Dass Dante ein Rosenkreuzer und Freimaurer war – wie übrigens auch Thomas von Aquin –, stehe klar und deutlich in seinem Werk geschrieben. In den Gesängen XXIV und XXV des Paradiso fänden sich der dreifache Kuss des Prinzen Rosenkreuz, der Pelikan, die weißen Gewänder (dieselben wie die der vierundzwanzig Greise der Apokalypse) und die drei Kardinaltugenden der Maurerkapitel (Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe). Tatsächlich sei die symbolische Blume der Rosenkreuzer (die rosa candida der Gesänge XXX und XXXI) von der römischen Kirche als Figur der Erlösermutter adoptiert worden – daher die Rosa Mystica der Litaneien.

Und dass die Rosenkreuzer das ganze Mittelalter durchzogen hätten, sei nicht nur an ihrer Infiltration der Templer zu ersehen, sondern auch durch noch viel direktere Dokumente belegt. Bramanti zitierte einen gewissen Kiesewetter, der Ende des vorigen Jahrhunderts bewiesen habe, dass die Rosenkreuzer im Mittelalter vier Doppelzentner Gold für den Kurfürsten von Sachsen fabriziert hätten, und er nannte die genaue Seite des 1613 in Straßburg erschienenen Theatrum Chemicum. Nur wenige hätten indes die Templerbezüge in der Sage von Wilhelm Tell bemerkt: Tell schnitzte sich seinen Pfeil aus dem Zweig einer Mistel, einer Pflanze der arischen Mythologie, und er traf den Apfel, das Symbol jenes dritten Auges, das von der Schlange Kundalini aktiviert werde – und man wisse ja, dass die Arier aus Indien kämen, wohin später die Rosenkreuzer gingen, um sich zu verstecken, als sie Deutschland verließen.

Was hingegen die diversen Bewegungen anbetreffe, welche sich, wie kindisch auch immer, auf die Große Weiße Bruderschaft zurückzuführen vorgäben, so anerkenne er, sagte Bramanti, als hinreichend orthodox allenfalls die Rosicrucian Fellowship von Max Heindel, allerdings auch diese nur, weil Alain Kardec sich in ihrem Dunstkreis gebildet habe. Wie jeder wisse, sei Kardec der Vater des Spiritismus gewesen, und aus seiner Theosophie, die den Kontakt mit den Seelen der Verstorbenen behandle, habe sich die Spiritualität des Umbanda gebildet, der Ruhm des hochedlen Brasilien. In dieser Theosophie sei Aum Bandhà ein Sanskritausdruck, der das göttliche Prinzip und die Quelle des Lebens bezeichne. (»Sie haben uns erneut getäuscht«, murmelte Amparo,»nicht mal Umbanda ist ein Wort von uns, es hat vom Afrikanischen bloß den Klang.«)

Die Wurzel sei Aum oder Um, was nichts anderes sei als das Om der Buddhisten, und das sei der Name Gottes in der Sprache Adams gewesen. Um sei eine Silbe, die, richtig ausgesprochen, sich in ein machtvolles Mantra verwandle und harmonische Strömungen in der Seele hervorrufe durch die Siakra oder den frontalen Plexus.

»Was ist frontaler Plexus?«, fragte Amparo.»Eine unheilbare Krankheit?«

Bramanti präzisierte, man müsse stets unterscheiden zwischen den wahren»Rose‑Croix«, den Erben der Großen Weißen Bruderschaft, die selbstverständlich geheim blieben, wie jener Alte und Angenommene Orden, den er unwürdigerweise zu vertreten die Ehre habe, und den»Rosicrucianern«, das heiße all denen, die sich aus persönlichen Gründen an der rosenkreuzerischen Mystik inspirierten, ohne darauf ein Recht zu haben. Er empfahl dem Publikum, keinem Rosicrucianer Glauben zu schenken, der sich als Rose‑Croix bezeichne.

Amparo murmelte, jeder Rose‑Croix sei der Rosicrucianer des anderen.

Schließlich meldete sich ein vorlauter Zuhörer und wollte wissen, wie der Herr Professor behaupten könne, dass sein Orden authentisch sei, wenn er hier das Schweigegebot verletze, das doch so kennzeichnend sei für jeden wahren Adepten der Großen Weißen Bruderschaft.

Bramanti stand auf und sagte:»Ich wusste nicht, dass sich auch hier Provokateure eingeschlichen haben, die im Solde des atheistischen Materialismus stehen. Unter solchen Bedingungen rede ich nicht weiter.«Sprach's und verließ den Raum mit einer gewissen Würde.

Am Abend rief Agliè an, um sich nach unserem Wohlergehen zu erkundigen und uns mitzuteilen, dass wir am nächsten Abend endlich an einem Ritus teilnehmen dürften. Ob ich nicht Lust hätte, in Erwartung des Ereignisses etwas mit ihm trinken zu gehen. Amparo hatte eine politische Zusammenkunft mit ihren Freunden, und so ging ich allein zu dem Treffen.

 

32

 

 

Valentiniani... nihil magis curant quam occultare quod praedicant: si tamen praedicant, qui occultant... Si bona fide quaeres, concreto vultu, suspenso supercilio – altum est – aiunt. Si subtiliter tentes, per ambiguitates bilingues communem fidem affirmant. Si scire te subostendas, negant quidquid agnoscunt... Habent artificium quo prius persuadeant, quam edoceant.

(Die Valentinianer... haben keine größere Sorge als zu verheimlichen, was sie predigen – wenn sie denn predigen, diese Heimlichtuer... Fragt man sie guten Glaubens, so sagen sie mit hartem Gesicht und hochgezogenen Augenbrauen:»Es ist erhaben.«Versucht man es auf subtile Weise, so beteuern sie mit doppelzüngigen Zweideutigkeiten den gemeinsamen Glauben. Lässt man durchblicken, dass man Bescheid weiß, so streiten sie alles ab, was sie jemals anerkannt hatten... Ihr Trick ist, dass sie mehr überreden als unterrichten.)

 

Tertullian, Adversus Valentinianos

 

Agliè lud mich in eine Bar ein, wo man noch eine batida zu machen verstand, wie es nur die Uralten konnten. Wir verließen mit wenigen Schritten die Zivilisation Carmen Mirandas, und ich fand mich in einer Spelunke wieder, wo Eingeborene schwarze Glimmstängel rauchten, die fett wie Würste glänzten. Der Tabak war zusammengedreht in Form alter Seemannstaue, man drehte die Taue zwischen den Fingerspitzen, löste breite durchsichtige Blätter ab und rollte sie in öliges Strohpapier ein. Die Dinger mussten oft neu angezündet werden, aber ich begriff, was Tabak gewesen sein musste, als Sir Walter Raleigh ihn entdeckte.

Ich erzählte Agliè von meinem Erlebnis am Nachmittag.

»Nun also auch die Rosenkreuzer? Ihr Wissensdurst ist wahrhaft unersättlich, mein Freund. Aber hören Sie nicht auf diese Narren. Die reden alle von unwiderleglichen Dokumenten, aber keiner hat jemals eins davon vorgezeigt. Ich kenne diesen Bramanti. Er wohnt in Mailand, wenn er nicht gerade durch die Welt reist, um sein Evangelium zu verkünden. Er ist harmlos, aber er glaubt noch an Kiesewetter. Legionen von Rosenkreuzern stützen sich auf jene Stelle im Theatrum Chemicum. Aber wenn Sie nachschlagen – und in aller Bescheidenheit, das Buch steht in meiner kleinen Mailänder Bibliothek –, werden Sie das Zitat nicht finden.«

»Ein Schelm, dieser Herr Kiesewetter.«

»Aber alle zitieren ihn. Denn auch die Okkultisten im neunzehnten Jahrhundert waren Opfer des Positivismus: wahr ist nur, was sich beweisen lässt. Nehmen Sie nur die Debatte über das Corpus Hermeticum. Als es im fünfzehnten Jahrhundert nach Europa kam, sahen Pico della Mirandola, Ficino und viele andere kluge Leute sofort die Wahrheit: Es musste das Werk einer uralten Weisheit sein, älter als die Ägypter, älter sogar als Moses, denn es enthielt Gedanken, die später von Plato und Jesus geäußert wurden.«

»Wieso später? Genauso hat auch Bramanti über den Freimaurer Dante argumentiert. Wenn das Corpus die Ideen von Plato und Jesus wiederholt, muss es doch nach ihnen geschrieben worden sein!«

»Sehen Sie? Auch Sie denken so. In der Tat war dies die Argumentation der modernen Philologen, die ihr noch langatmige Sprachanalysen hinzufügten, um zu zeigen, dass das Corpus zwischen dem zweiten und dritten Jahrhundert unserer Ära entstanden sein müsse. Als wollte man sagen, Kassandra müsse nach Homer geboren sein, weil sie bereits wusste, dass Troja zerstört werden würde. Es ist eine moderne Illusion zu glauben, die Zeit sei eine lineare und zielgerichtete Abfolge, die von A nach B geht. Sie kann auch von B nach A gehen, und die Wirkung kann die Ursache hervorrufen... Was heißt vorher und nachher? Kommt Ihre wunderschöne Amparo vor oder nach ihren verworrenen Ahnen? Sie ist zu fabelhaft – wenn Sie einem, der ihr Vater sein könnte, ein unvoreingenommenes Urteil erlauben. Also kommt sie vorher. Sie ist der geheimnisvolle Ursprung all dessen, was zu ihrer Erschaffung beigetragen hat.«

»Aber an diesem Punkt...«

»Das Falsche ist genau der Begriff ›dieser Punkt‹, mein Freund. Die Punkte sind von der Wissenschaft gesetzt worden, nach Parmenides, um zu bestimmen, von wo nach wo sich etwas bewegt. Nichts bewegt sich, und es gibt nur einen einzigen Punkt, den Urpunkt, aus welchem in einem einzigen Augenblick alle anderen Punkte entstehen. Die Naivität der Okkultisten des neunzehnten Jahrhunderts – und derjenigen unserer Zeit – ist, dass sie die Wahrheit der Wahrheit mit den Methoden der wissenschaftlichen Lüge beweisen wollen. Man muss nicht nach der Logik der Zeit räsonieren, sondern nach der Logik der Tradition. Alle Zeiten symbolisieren einander, und folglich gibt es und gab es den unsichtbaren Tempel der Rosenkreuzer zu jeder Zeit, unabhängig von den Strömungen der Geschichte, eurer Geschichte. Die Zeit der letzten Offenbarung ist nicht die Zeit der Uhren. Ihre Zusammenhänge bestimmen sich in der Zeit der ›subtilen Geschichte‹, in der das Vorher und Nachher der Wissenschaften recht wenig zählen.«

»Aber dann sind all diese Leute, die sich für die Ewigkeit der Rosenkreuzer stark machen...«

»Szientistische Narren, denn sie versuchen zu beweisen, was man einfach wissen muss, ohne Beweis. Meinen Sie, dass die Gläubigen, die wir morgen Abend sehen werden, all das beweisen können, was Kardec sie gelehrt hat? Sie wissen, weil sie zum Wissen bereit sind. Hätten wir alle uns diese Sensibilität für das Geheimnis bewahrt, wir wären geblendet von Offenbarungen. Es ist nicht nötig zu wollen, es genügt, sich bereitzuhalten.«

»Aber nun sagen Sie bitte, und entschuldigen Sie, wenn ich banal bin: Existieren die Rosenkreuzer oder nicht?«

»Was heißt existieren?«

»Sagen Sie's.«

»Die Große Weiße Bruderschaft, nennen Sie sie Rosenkreuzer, nennen Sie sie eine spirituelle Ritterschaft, von der die Templer eine vorübergehende Verkörperung waren, ist eine Schar von Weisen, von wenigen, sehr wenigen Auserwählten, die durch die Geschichte der Menschheit zieht, um einen Kern von ewiger Weisheit zu bewahren. Die Geschichte entwickelt sich nicht durch Zufall. Sie ist das Werk der Herren der Welt, denen nichts entgeht. Natürlich schützen sich diese Herren durch das Geheimnis. Und daher, wann immer sich jemand als Herr bezeichnet, oder als Rosenkreuzer oder als Templer, ist er ein Lügner. Die wahren Herren der Welt sind woanders zu suchen.«

»Dann geht also diese Geschichte ewig weiter?«

»So ist es. Und das ist die List der Herren.«

»Aber was wollen sie denn, dass die Leute wissen?«

»Dass es ein Geheimnis gibt. Wozu sonst leben, wenn alles so wäre, wie es erscheint?«

»Und was ist das Geheimnis?«

»Das, was die Offenbarungsreligionen nicht zu sagen gewusst haben. Das Geheimnis ist jenseits.«

 

33

 

 

Les visions sont blanc, bleu, blanc rouge clair; enfin elles sont mixtes ou toutes blanches, couleur de flamme de bougie blanche, vous verrez des étincelles, vous sentirez la chair de poule partout votre corps, tout cela annonce le principe de la traction que la chose fait avec celui qui travaille.

(Die Visionen sind weiß, blau, weiß‑hellrot. Schließlich sind sie gemischt oder ganz weiß, von der Farbe der Flamme einer weißen Kerze, ihr werdet die Funken sehen, ihr werdet die Gänsehaut am ganzen Leibe spüren, all das kündigt den Beginn des Auftriebs an, den die Sache mit dem macht, der da arbeitet.)

 

Papus, Martines de Pasqually, Paris, Chamuel, 1895, p. 92

 

Es kam der versprochene Abend. Wie in Salvador holte Agliè uns im Auto ab. Der Terreiro, in dem die Zeremonie oder gira stattfinden sollte, lag in einer eher zentralen Gegend, wenn man von Zentrum sprechen kann in einer Stadt, die sich in Wellen um ihre zahlreichen Hügel bis ans Meer windet, sodass sie von oben gesehen, wenn sie abends erleuchtet ist, wie eine prächtige Mähne mit dunklen Flecken von grindigem Haarausfall aussieht.

»Erinnern Sie sich, heute Abend geht es um den Umbanda. Da wird man nicht von den Orixás besessen, sondern von den Eguns, den Geistern Verstorbener. Und von Exu, dem afrikanischen Hermes, den Sie in Bahia gesehen haben, und von seiner Gefährtin, der Pomba Gira. Der Exu ist eine Yoruba‑Gottheit, ein immer zu bösen Scherzen und Streichen aufgelegter Dämon, aber einen Possengott gab es auch in der indianischen Mythologie.«

»Und die Verstorbenen, wer sind die?«

» Pretos velhos und caboclos. Die pretos velhos sind alte afrikanische Weise, die ihre Leute zur Zeit der Deportationen geführt hatten, wie Rei Congo oder Pai Agostinho... Sie erinnern an eine abgemilderte Phase der Sklaverei, in welcher der Neger nicht mehr ein Tier ist und zu einem Freund der Familie wird, einem Onkel, einem Großvater. Die caboclos dagegen sind indianische Geister, jungfräuliche Kräfte, die Reinheit der ursprünglichen Natur. Im Umbanda bleiben die afrikanischen Orixás im Hintergrund, inzwischen restlos mit den katholischen Heiligen gleichgesetzt, und es greifen nur jene Wesen ein. Sie sind es, welche die Trance hervorrufen: Die Tanzenden oder cavalos spüren an einem bestimmten Punkt des Tanzes, dass sie von einem höheren Wesen durchdrungen werden, und verlieren das Bewusstsein ihrer selbst. Sie tanzen weiter, bis das göttliche Wesen sie wieder verlässt, und danach fühlen sie sich besser, erfrischt und gereinigt.«







Date: 2015-12-13; view: 390; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ



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