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Rückblick 5 page
Der Freund mir gegenüber richtete sich langsam in seinem Sessel auf. Sein Gesicht schien mir heller, seine Gestalt jedoch undeutlicher als zuvor. Seine Stimme verlor unterm Sprechen den körperlichen Ton der räumlichen Gegenwart; er flüsterte:
"Du bist der letzte Herr des Wappens! Die Strahlen aus dem grünen Spiegel des Gewesenen sammeln sich alle auf den Scheitel deines Hauptes. Bewahre oder verbrenne! Aber vergeude nicht! Die Alchimie der Seele befiehlt die Verwandlung oder den Tod! Wähle frei – –" Ein krachender Donner, als stießen Gewehrkolben mit aller Gewalt an zolldicke Türen, ließ mich auffahren: Ich saß in meinem Studierzimmer allein, vor mir stand Lipotins Geschenk, der alte englische, grünüberlaufene Spiegel im florentinischen Rahmen; nichts mehr da von der gewohnten Umgebung war im geringsten verändert, aber an meine Tür pochte es soeben zum zweitenmal mit sehr bescheidenem, keineswegs donnerähnlichem Ton.
Auf meinen Hereinruf wurde geöffnet, und eine junge Dame stand ziemlich schüchtern im Türrahmen. Sie stellte sich vor:
"Ich bin Frau Fromm." Verwirrt stand ich auf. die junge Frau gefiel mir auf den ersten Blick. Ich gab ihr die Hand und schaute dann zerstreut auf meine Taschenuhr. Frau Fromm bezog diese vielleicht ein wenig unhöflich scheinende Handlung auf sich und bemerkte mit leiser Stimme:
"Ich habe versucht, mich heute mittag zu entschuldigen; ich war verhindert, vor acht Uhr abends meinen Dienst anzutreten. Ich hoffe, mein Wort richtig gehalten zu haben."
Das hatte sie getan. Meine Uhr wies auf zweiundfünfzig Minuten nach sieben. Ich selbst war also seit kaum zehn Minuten zu Hause. –
Dies alles ist am gestrigen Abend genauso geschehen, wie ich es hier zu Papier gebracht habe. Immer tiefer, so will es mir scheinen, blicke ich in die abgründigen Zusammenhänge, die irgendwie zwischen meinen eigenen Erlebnissen und den Schicksalen John Dees, meines Ahnherrn, bestehen. Nun ist da auch schon der "Grüne Spiegel" leibhaftig in meiner Hand, von dem er in seinem Tagebuch spricht.
Und dieser grüne Spiegel, woher habe ich ihn?
Er stammt aus Lipotins Rumpelkammer; er ist mir überlassen worden als "Gruß und Geschenk aus seiner ehemaligen Heimat". – Aus welcher Heimat? Aus der Heimat des russischen Zaren, Iwans des Schrecklichen? Als Gabe des Enkelenkels Mascees, des Magisters des Zaren!? Wer aber war Mascee? Nichts einfacher, als kalten Sinnes und ruhigen Blutes die Tagebücher John Dees zu befragen: Mascee war der böse Dämon des Pöbelaufstandes der "Ravenheads"; er war der Überbringer der Botschaften und verhängnisvollen Gaben des ruchlosen Rabenhauptes, des Grabschänders, des Mordbrenners Bartlett Green, des Isaïssohnes, des Zerstörers, des unsterblichen Erzfeindes und Verführers, des Rotbarts im Lederkoller, den ich erst gestern hinter dem Schreibtisch gesehen habe! – Er ist also gegenwärtig, jener Bartlett Green, – er ist da: er, der Feind John Dees, der jetzt auch mein Feind ist! – Und er, er hat mir durch Lipotin den grünen Spiegel in die Hände geschmuggelt! –
Aber ich werde mich zu hüten wissen vor den Befehlen, die aus diesem Spiegel kommen; sonderbar nur ist und bleibt, daß als erster mein Freund Theodor Gärtner aus dem Spiegel trat. – Er ist doch gekommen als Freund, als Warner, als Helfer! Soll ich an ihm zweifeln? Was will mich da verwirren?!
Oh, wie bin ich gelassen und einsam auf diesem messerscharfen Gebirgsgrat des Bewußtseins, auf dem ich stehe und von dem aus ich in gähnende Abgründe – nach beiden Seiten hin – hinabschaue; Abgründe des Wahnsinns, die mich zu verschlingen drohen, sobald ich den geringsten Fehltritt tue! Ein drängendes Verlangen befällt mich schon wieder mit neuem Ungestüm, in die Geheimnisse des Deeschen Erbes immer klareren Einblick zu gewinnen, immer stärkere Bestätigungen meines eigenen Schicksals ihm zu entreißen. Diese gefährliche Neugier, ich fühle es, ist zur Besessenheit angewachsen, der ich keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermag. Es ist bereits Schicksal geworden. Ich habe nun keine ruhige Stunde mehr, bis dieses Schicksal sich erfüllt hat; ich muß das Wasser meines Lebens in den Strom des alten Geschlechts mischen, das gleichsam unterirdisch zu mir heranfloß, unter meinen Füßen hervorbricht und nun nach mir verlangt – –
Ichd habe demnach meine Anordnungen getroffen. Frau Fromm hat strengen Befehl, mir für die nächsten Tage jede Störung, jeden Besuch energisch vom Leibe zu halten. Freunde erwarte ich nicht; ein Vereinsamter wie ich hat keine Freunde. Und die andern – Gäste? Oh, ich fühle klar und deutlich sie alle, die draußen vor meiner Schwelle stehen! Ich werde den Eintritt wehren! Weiß ich doch, Gott sei Dank, was sie von mir wollen. Ich gab darum soeben Frau Fromm genaueste Weisung und ausdrückliche Beschreibung obendrein, ein Herr Lipotin, von dem und dem Aussehen, ist – abzuweisen! Eine Dame, sie nenne sich, wie sie wolle, zum Beispiel: "Fürstin Chotokalungin", ist abzuweisen! Merkwürig übrigens: als ich meiner recht scheuen und sonderbar schüchternen neuen Hausdame die Gestalt und Erscheinung der Fürstin beschrieb, da überlief sie ein merkliches Zittern, und ihre hübsche kleine Nase bewegte die Nüstern, als wittere sie leibhaftig den unerwünschten Besuch jetzt schon. Sie versicherte mir mit ängstlichem Nachdruck, daß sie genau nach meinen Wünschen handeln, daß sie aufs sorgfältigste acht haben und alles bestimmt und klug einrichten werde, damit ein Besuch nicht einmal bis zur Vordertüre gelangen könnte. Ihr Eifer ließ mich aufschauen, und indem ich kurz dankte, sah ich meine neue Hausgenossin zum erstenmal und unwillkürlich etwas genauer an. Sie ist mittelgroß und mehr zierlich als frauenhaft; dennoch lebt etwas in ihren Augen und in ihrem Wesen, das verbietet, ihre Erscheinung jugendlich oder gar mädchenhaft zu nennen. Ihr Blick ist sonderbar alt, verschleiert und fern. Man möchte sagen: er ist beständig auf der Flucht vor sich selbst oder vor der augenblicklichen Umwelt, auf die er widerwillig gerichtet ist.
Mich durchzuckte in jenem Moment der Beobachtung ein halbklarer Gedanke an mein ratloses Alleinsein, wie ich es gestern abend erstmals mit schmerzlicher Schärfe empfunden hatte, aber auch an das unheimliche Umringtsein von fremden Wesen und Einflüssen gleich denen des gespenstischen Bartlett Green. Und wie ich so an ihn dachte, da fühlte ich ihn wieder schreckhaft nahe, und das Empfinden durchkroch mich: ist diese Frau Fromm auch eine jener Masken? Versteckt sich ein Gespenst in dieser jungen Frau und drängt sich in der Gestalt einer Haushälterin in mein bedrohtes Leben? Mag sein, daß ich Frau Fromm, wie sie so vor mir stand, länger und forschender anschaute, als ihrem zurückhaltendem Wesen erträglich sein konnte, – sie errötete jedenfalls heftig, und das hilflose Zittern befiel sie zum andernmal. Dabei sah sie mich mit einem so angstvollen Ausdruck an, daß ich mich schämte, als mir einfiel, was sie sich wohl von mir denken mußte. Ich schüttelte also meine törichten Gedanken von mir ab und gab mir Mühe, den ungünstigen Eindruck so schnell wie möglich zu verwischen, indem ich mir mit zur Schau getragener Zerstreutheit durchs Haar strich und ein paar abgerissene Sätze über Zeitmangel und Einsamkeitsbedürfnis vorbrachte, sie nochmals bittend, mich verständnisvoll gegen unliebsame Störungen zu schützen. Sie blickte an mir vorbei und sagte in ausdruckslosem Ton: "Ja. Deswegen bin ich doch gekommen." Diese Antwort verblüffte mich. Wieder war mir, als spürte ich "Zusammenhänge". Ich fragte unwillkürlich heftiger, als ich wollte: "Sie haben mit einer Absicht diese Stellung bei mir angetreten? Sie wissen von mir?" Sie schüttelte leicht den Kopf: "Nein, ich weiß gar nichts von Ihnen. Es ist wohl auch nur Zufall, daß ich hier bin. – – Manchmal träume ich bloß..." "Sie haben geträumt", fiel ich ein, "daß Sie diese Stellung vorübergehend einnehmen werden? – So etwas kommt zuweilen vor." "Nein; so nicht." "Wie denn?" "Ich habe den Befehl, zu helfen." Ich erschrak: "Wie meinen Sie das?" Sie sah mich gequält an: "Ich bitte um Verzeihung. Ich schwatze Unsinn. Es geschieht mir manchmal, daß ich mit Vorstellungen kämpfen muß. Aber das bedeutet nichts. – Ich habe jetzt an meine Arbeit zu denken. Verzeihen Sie die Störung."
Sie wandte sich rasch und wollte zur Tür. Ich faßte sie bei der Hand. Der Druck meiner vielleicht ein wenig zu jäh ihr Handgelenk umspannenden Finger schien sie heftig zu erschrecken. Sie zuckte, wie elektrisch getroffen, und stand mit ganz erschlafften Gliedern vor mir. Willenlos überließ sie mir die Hand; ihr Gesichtsausdruck veränderte sich sonderbar, ihr Blick glitt auf einmal ins Leere. Ich verstand nicht, was mit ihr vorging, aber ein merkwürdiges Gefühl ergriff mich: alles das, bis in die kleinste Einzelheit, habe ich doch schon einmal erlebt vor – vor –? – Ohne zu überlegen, was ich tat oder sagte, zwang ich sie mit leichtem Fingerdruck in einen Sessel neben meinem Schreibtisch. Ich hielt ihre Hand fest, und wie aufs Geratewohl kamen mir dabei die Worte in den Mund:
"Mit Vorstellungen, Frau Fromm, haben wir zuzeiten alle einmal zu kämpfen. Sie sagen, Sie wollen mir helfen. Helfen wir uns also – vielleicht gegenseitig. Sehen Sie, ich zum Beispiel kämpfe in den letzten Tagen manchmal mit der Vorstellung, ich – ich sei eigentlich mein eigener Urahn, ein alter Engländer aus dem..." Sie unterbrach mich mit einem leisen Schrei. Ich schaute auf. Sie starrte mich an.
"Was erregt Sie?" unterbrach ich mich. Ihr Blick, der durch mich hindurch zu gehen schien, war mir sekundenlang unheimlich und brannte mich im Innern wie Glut. Frau Fromm nickte geistesabwesend vor sich hin und antwortete: "Ich bin auch irgendeinmal in England gewesen. Ich war verheiratet mit einem alten Engländer – –" "Ach so", ich mußte lächeln und empfand eine Erleichterung, hätte aber nicht sagen können, weshalb; gleich darauf wunderte ich mich im stillen darüber, daß die junge Frau schon die zweite Ehe hinter sich haben sollte –, "ach so, Sie waren vor Ihrer Ehe mit Doktor Fromm schon einmal in England verheiratet?" Sie schüttelte den Kopf. "– – oder der Herr Doktor Fromm selbst war...? Verzeihen Sie meine Fragen, aber Ihre bisherigen Schicksale sind mir in den Einzelheiten unbekannt." Sie machte eine heftig abwehrende Bewegung. "Doktor Fromm ist nur kurze Zeit mein Mann gewesen. Es war ein Irrtum. Er starb bald nach unserer Trennung. Auch war Doktor Fromm kein Engländer und ist auch niemals in England gewesen."
"Und Ihr erster Gatte??" "Doktor Fromm hat mich in meinem achtzehnten Jahr aus dem Elternhaus geholt. Ein zweites Mal bin ich nicht verheiratet gewesen."
"Ich verstehe nicht, liebe Frau Fromm –" "Ich verstehe es ja auch nicht", brachte sie mit gequälter Miene hervor und kehrte ihr Gesicht wie hilfesuchend mir zu –, "ich weiß es ja auch erst seit dem – seit dem Tage, als ich Doktor Fromms Frau wurde, daß ich... doch einem andern gehöre." "Einem alten Engländer, wie Sie sagen. Gut. – War er eine Jugendbekanntschaft von Ihnen? Ein Kindheitserlebnis?" Sie bejahte heftig, fiel aber sogleich wieder in ihre Ratlosigkeit zurück. "Es ist nicht so, wie Sie meinen. Es ist ganz anders." Sie raffte sich mit großer Anstrengung in dem Lehnstuhl zusammen, entzog mir ihre Hand, die ich immer noch festgehalten hatte, setzte sich aufrecht und sprach rasch und mit eintönigen Worten, wie in auswendig gelernten Sätzen, das, was ich hier nur in den Hauptpunkten feststelle: "Ich bin die Tochter eines Gutspächters in der Steiermark. Ich bin meines Vaters einziges Kind. Ich bin in guten Verhältnissen aufgewachsen. Später hatte mein Vater Unglück, und wir sind verarmt. Ich habe als Kind mehrere kleine Reisen gemacht, aber niemals über die Grenzen Österreichs hinaus. Ich war, bevor ich heiratete, ein einziges Mal in Wien. Das war meine größte Reise. Trotzdem habe ich als Kind oft von einem Haus und einer Gegend geträumt, die ich niemals mit wachen Sinnen gesehen habe. Ich wußte damals immer: das ist ein Haus und eine Landschaft in England. Aber wieso ich das gewußt oder gemeint habe, kann ich nicht sagen. Es wäre auch nur selbstverständlich, alles das für eine kindische Einbildung zu halten, obwohl ich die Gegend, die ich geträumt habe, mehrmals einem entfernten Verwandten von uns, der Praktikant bei meinem Vater und bei englischen Freunden von uns aufgewachsen war, beschrieb: ich träumte wohl von schottischen Bergen oder zuweilen auch von Richmond, denn diese Landschaften paßten haargenau auf meine Beschreibung, nur sei vieles dort bei weitem nicht so altertümlich, wie ich es zu sehen meinte. Indessen ist mir auch von anderer Seite her eine sonderbare Bestätigung zugekommen, wenn man es so nennen will. Oft träumte ich als Kind auch von einer alten und düsteren Stadt mit solcher Genauigkeit und Deutlichkeit, daß es mir mit der Zeit möglich wurde, darin umherzuwandern und Straßen, Plätze und Häuser aufzusuchen mit größter Sicherheit; und stets fand ich dort, was ich zu sehen gesucht hatte, so daß ich kaum mehr sagen kann, ich hätte nur geträumt. Diese Stadt kannte unser englischer Verwalter nicht, und er meinte auch, sie läge sicherlich nirgends in England. Sie müsse unbedingt viel eher eine alte Stadt des Festlandes sein. Sie liegt zu beiden Seiten eines mittelgroßen Flusses, und eine alte steinerne Brücke, beiderseits aus finsteren Toren und Wehrtürmen hervorspringend, verbindet die beiden Stadtteile. Und über dem einen, eng von Häusern umdrängten Ufer erhebt sich zwischen reich begrünten Hügeln eine breit und überaus mächtig gelagerte Burg. – Eines Tages sagte man mir, das sei Prag. Aber vieles von dem, was ich genau beschreiben konnte, schien nicht mehr vorhanden, oder anders geworden, obschon auf einem älteren Plan manches dem entsprach, was ich so genau kannte. – Ich bin bis heute noch nicht nach Prag gekommen und habe Angst vor dieser Stadt. Ich möchte sie nie, nie mit lebenden Füßen betreten! Wenn ich lange an sie denke, packt mich ein wildes Entsetzen, und ich sehe einen Menschen im Geiste, dessen Anblick – ich weiß nicht weshalb – mir das Blut in den Adern erstarren macht. Er hat keine Ohren; sie sind ihm abgeschnitten, und blutrote Narben umsäumen die Löcher an beiden Seiten seines Kopfes. – Mir ist, als sei er der böse Dämon dieser furchtbaren Stadt. Diese Stadt, ich weiß es gewiß, würde mich unglücklich machen und mein Leben zerstören!" Frau Fromm stieß die letzten Worte mit so heftiger Abwehr hervor, daß ich sie erschrocken unterbrach. Meine erregte Bewegung rief sie zu sich selbst zurück; ihre Züge glätteten sich, sie strich sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte sie den Anblick, den sie gehabt, wegwischen. Dann, sichtlich erschöpft, fügte sie in abgerissenen Sätzen hinzu:
"Wenn ich will, kann ich mich auch bei wachen Sinnen in jenes Haus versetzen, das einmal in England gestanden hat. Ich kann darin wohnen, wenn ich will, stundenlang und tagelang; und je länger, desto deutlicher wird dort alles. Ich bilde mir dann ein – nicht wahr, so sagt man –, ich bilde mir dann ein, mit einem alten Herrn dort verheiratet zu sein. Ich kann ihn sehr deutlich sehen, wenn ich will, nur ist alles, was ich wahrnehme, in ein grünliches Licht getaucht. Es ist so, als ob ich in einen alten grünen Spiegel blickte – –"
Wieder unterbrach ich sie mit einer heftigen Bewegung. Meine Hand griff nach dem florentinischen Rahmenspiegel Lipotins, der auf meinem Schreibtisch steht. Frau Fromm schien aber nicht darauf zu achten. Sie fuhr fort: "Vor einiger Zeit habe ich erfahren, daß ihm Gefahr droht." – "Wem droht Gefahr?" Ihr Gesicht nahm wieder den fernen Ausdruck an; sie machte in diesem Augenblick den Eindruck einer beinahe Bewußtlosen; dann trat Angst in ihre Züge. Sie stammelte: "Meinen Gatten." "Sie wollen sagen: dem Doktor Fromm?" führte ich sie absichtlich in Versuchung.
"Nein! Doktor Fromm ist doch tot! Vielmehr meinen richtigen Gatten – – dem Herrn in unserm Hause in England..." "Lebt er heute noch dort?" "Nein. Er lebte dort vor langer, langer Zeit." "Wann lebte er dort?" "Das weiß ich nicht. Es ist sehr lange her." "Frau Fromm!" Sie fuhr auf:
"Habe ich Unsinn geschwatzt?" Ich schüttelte, keines Wortes mächtig, den Kopf. Sich entschuldigend, erzählte sie weiter: "Mein Vater nannte es 'Unsinn schwatzen', wenn ich von meinen Zuständen erzählte. Er wollte das nicht. Er nannte es: 'krank'. Seitdem fürchte ich mich, davon zu sprechen. – Nun haben Sie das gleich am ersten Tag von mir erfahren! Sie werden ebenfalls denken: die Frau ist krank und hat es verschwiegen, – hat sich diese Stellung erschlichen, und – und ich fühle doch, daß ich hier an meinem Platze und daß ich hier sehr nötig bin!"...
Sie sprang erregt auf. Ich suchte vergebens, sie zu beruhigen. Nur allmählich konnte ich sie mit der Versicherung beschwichtigen, daß ich sie keineswegs für krank hielte und daß sie ihre Stellung bei mir bestimmt behalten könnte, solange der Urlaub meiner alten Wirtschafterin dauere. Das schien sie zu beruhigen. Sie lächelte dankbar und befangen. "Sie werden sehen, daß ich meinen Pflichten, die ich übernommen habe, genügen kann. Darf ich jetzt an meine Arbeit gehen?" "Eins noch, Frau Fromm: können Sie mir, ungefähr wenigstens, beschreiben, wie jener alte Mann in dem Hause bei Richmond aussieht? Und wissen Sie gar, wie er heißt?"
Sie besann sich. Erstaunen trat in ihre Mienen.
"Wie er heißt? Nein, das weiß ich nicht. Ich habe nie daran gedacht, daß er einen bestimmten Namen haben müsse. Ich nenne ihn nur: 'Er'. – Aber wie er aussieht? Er sieht... Ihnen ähnlich, mein Herr. – Ich habe viel an Ihnen gutzumachen!" – Damit war sie auch schon zur Tür draußen.
Ich habe keine Lust jetzt, dem neuen Rätsel dieser mir ins Haus geschneiten Frau Fromm nachzugrübeln. Es ist kein Zweifel: sie wird von sogenannten alternierenden Bewußtseinszuständen ergriffen. Ihr Fall wäre für einen Arzt keine Seltenheit; Pubertätshysterie würde er es nennen. Fixierte Traumbilder. Dramatisierte Wahnvorstellungen. Erlebnis einer Fremdpersönlichkeit an sich selbst. In diesem Fall wäre die Fremdpersönlichkeit offenbar in ein vergangenes Jahrhundert projiziert. Das alles ist nichts Außergewöhnliches. –
Aber Richmond? Und die Ähnlichkeit des geträumten Ehemannes mit mir? – – Auch solche Fälle sind den Ärzten bekannt. Was wäre Ärzten überhaupt nicht bekannt! – Solche Art Kranker klammert sich mit Vorliebe an eine Vertrauensperson ihrer Umgebung. – Vertrauensperson? Bin ich denn eine Vertrauensperson für sie? Freilich bin ichs; habe ich nicht selbst soeben noch zu ihr gesagt: "Helfen wir uns also gegenseitig!" Wenn ich nur wüßte, was die Worte von ihr bedeuten sollen: "Ich habe viel an Ihnen gutzumachen!" Ist das die Sprache einer somnambulen Hysterika? – Nun, es wird sich zeigen, ob ich mir da eine Person zugelegt habe, die nicht immer ganz richtig im Kopf ist. Allerdings eine innere Stimme will mir ganz anderes zuflüstern; ich darf dem aber nicht nachgeben, sonst laufe ich aufs neue Gefahr, mich selbst zu verwirren oder – zu verlieren. Und was ich zu tun habe, wenn mein Schicksal einen Sinn bekommen soll, das weiß ich nur zu gut. Das Schicksal der meisten "normalen" Menschen hat, genau besehen, leider so gut wie gar keinen Sinn.
Also rasch wieder an die Arbeit! Vor mir liegt schon ein neues, stark verknotetes Bündel, das ich, der erhaltenen Traumvorschrift des – ja: des Baphomet eingedenk, wahllos aus der Schublade gegriffen habe. Vielleicht finde ich darin den Schlüssel der neuen Rätsel?
Ein fester schwarzer Ganzlederband liegt vor mir mit der Aufschrift: "Private Diary." Auf der zweiten Seite steht in John Dees Handschrift: Logg-buch meiner ersten Entdeckungsfahrt nach dem wahren und wahrhaftigen Grönland, dem Tron und der Krone des ewigen Engelland. Den 20. November im 158ten Jahr nach der Geburt des Herrn. Es ist nun entschieden und offenbar, daß meine Bedenken gerecht und wohl begründet gewesen sind, als ich annahm, Grönland, das ich der irdischen Macht der Königin Elizabeth zu unterwerfen gedacht hatte, sei – hier auf Erden zu finden. Mich hat der Erzschelm und Betrüger Bartlett Green vom ersten Tage meiner Verbindung an, die ich in eitler Verblendung mit den Ravenheads einging, aufs schändlichste genasführt und mit den teuflischsten Mitteln auf Irr- und Abweg gelockt. Geht es wohl fast allen Menschen so, daß sie hier auf Erden sich Mühsal aufladen, weil sie nicht erkennen, daß drüben gegraben werden soll und nicht hier; sie haben den Fluch des Sündenfalles nicht begriffen! Sie wissen nicht, daß hier nur gegraben werden soll im Sinne des 'Drüben'-findens. Mir hatte der Bartlett einen Weg des geistlichen Verderbens zugedacht, als er mir eingab, hier auf Erden die Frucht meines Ehrgeizes zu suchen, damit ich nicht gewahr würde, daß die Krone 'drüben' ist. Hat mir ein Weg der Mühen, Enttäuschungen, Kümmernisse und der Verräterei sein sollen, so mich vorzeitig grau und des Lebens überdrüssig hätte machen mögen.
Übergroß war die Gefahr für das wahre Ziel nicht allein meiner Seele, sondern auch wollte er verhindern, daß die Berufung meines Stammes und Geschlechtes, das Höchste zu erlangen, was einem vom Sündenfall Heimkehrenden beschieden ist, in Erfüllung gehe. Sein Rat, ich solle den Weg hiezu auf dem Pfade zu irdischer Macht und Krönung suchen, war grundfalsch. Heute weiß ich gewiß, daß mir bestimmt ist, mein Grönland und Kronland: 'drüben' zu suchen, und daß mein ganzes Leben nie einen andern Sinn gehabt hat. Drüben, wo die unversehrte Krone der Geheimnisse und die 'jungfräuliche Königin' ihres Königs harren.
Es ist nun heute der dritte Tag, daß ich frühmorgens bei hellen und wachen Sinnen ein 'Gesicht' hatte, das mit Traum und dergleichen nicht das geringste zu tun hat. Ich wußte früher kaum, daß es etwas giebt, was jenseits liegt von Wachen, Träumen oder Tiefschlaf oder Besessenheit: etwas Fünftes, Unerklärliches: ein Sehen von bildhaften Vorgängen, die mit der Erde nichts zu schaffen haben. Es war das Gesicht, das ich hatte, auch so ganz anders als jene, die mir der Kohlenspiegel des Bartlett einst im Tower gewiesen. Es war eine Prophezeiung in Symbolen, so mags mir erscheinen. Ich sah einen grünen Hügel und wußte, daß er Gladhill sei, der Hügel meines Stammhauses, so, wie er im Wappen der Dees stolz und fröhlich steht. Es stak aber nicht das silberne Schwert in seiner Kuppe, sondern so wie im andern Felde des Wappens ragte auf einer sanften Höhe der grüne Baum hervor und zu dessen Füßen sprudelte der lebendige Quell herab in munterem Lauf. Mich freute der Anblick und ich strebte aus weiter dunstiger Ebene her diesem Hügel zu, um mich am alten Bronnen meines Geschlechtes zu erquicken. Es war ein Wunder, wie ich zugleich alles, was als wirklich und dennoch als Sinnbild empfand.
Wie ich nun den Hügel hinanstrebte, erkannte ich mit innerer brennender Klarheit auf einmal, daß ich selber der Baum auf dem Hügel war und daß ich in seinem Stamm, als meinem Rückenmark, mich zum Himmel aufrecken wollte und daß ich in allen seinen Zweigen und Ästen, als den äußerlich sichtbar gewordenen Strängen und Zweigen meiner Nerven und Blutadern mich in die Lüfte dehnte. Und ich spürte die Säfte und Gefühle des Blutes und der Freude pochen in dem Adern- und Nervenbaum vor mir und war dabei meiner selbst bewußt in ihm mit Stolz. Die silberne Quelle aber zu meinen Füßen spiegelte mir ins Unendliche meine Kinder und Kindeskinder, als seien sie aus der Zukunft herabgekommen zum Feste einer nahenden und doch jetzt schon gegenwärtigen Auferstehung ins Ewige Leben. Das Antlitz eines jeden von ihnen war verschieden, aber die Ähnlichkeit mit mir trugen sie alle; mir war, als sei ich es, der ihnen den Stempel unseres Geschlechtes aufgeprägt hätte, sie dadurch für immer vor Tod und Untergang zu bewahren. Das fühlte ich mit weihevollem Stolz. – Nun ich näher trat zu dem Baume, sah ich in seinen höchsten Wipfeln wie einer Krone plötzlich ein doppeltes Gesicht; das eine davon schien männlich, das andere aber weiblich und beide Häupter waren in eins gewachsen. Und über diesem Doppelhaupt schwebte in goldenem Licht eine Krone unter einem Krystall von unaussprechlichem Glanze. Alsbald erkannte ich in dem weiblichen Antlitz meine Herrin Elizabeth und hätte gern laut aufjubeln mögen, daran mich aber ein unerwarteter reißender Schmerz jäh verhinderte, denn ich sah und fühlte den männlichen Kopf nicht als den meinen, sondern als einen jüngeren und in allen Zügen unbekümmerten, als ich seit den Tagen meiner unschuldigen Jugend auf den Schultern getragen. Zwar wollte mich eine Art Wehmut betrügen, als ob ich dieser Baumgeborene selber und dieser eben nur in meinen verloren gegangenen Kinderjahren sei, doch unbarmherzig durchschaute ich alsbald den Betrug und erkannte klar, daß nicht ich aus jenem Doppelhaupt blickte, sondern ein Ferner, ein aus dem Quell zu meinen Füßen Gestiegener, ein in dieser meiner Zeit mir Unerreichbarer, ein – Anderer! – – –
Und ein wütender Schmerz fiel mich an, daß nicht ich, sondern ein Anderer aus meinem Blute und Samen, ein ganz Später: der Erbe der Krone und der mit meiner Elizabeth untrennbar Vereinigte sein sollte. Und in meinem Zorn hob ich die Hand wider mich – den Baum – gleichsam, um ihn zu fällen. Da sprach der Baum aus der Tiefe meines Rückenmarks hervor: "Thörichter, der du noch immer dich selbst nicht erkennst! Was ist die Zeit? Was ist die Wandlung? – Auch nach Jahrhunderten bin ich: – Ich nach dem hundertsten Grab; bin ich: nach der hundertsten Auferstehung! An den Baum willst du die Hand legen, der du selber nur ein Ast bist und nichts als ein Tropfen aus dem Quell zu deinen Füßen?!" Da schaute ich erschüttert zu der Krone des Deebaumes hinauf und sah, wie der Doppelköpfige zugleich die Lippen bewegte, und ich hörte aus unendlicher Höhe und Ferne ein Rufen, das wie nur mit großer Mühe zu mir herabdrang: "Ein Mensch, der lange glaubt, lebt zuletzt! – Wachse mir zu, so bin ich du! – Erlebe dich selbst, so wirst du mich erleben, mich den – Baphomet!" Date: 2015-09-05; view: 344; Нарушение авторских прав |