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Rückblick 3 page





 

 

Meine Rede war mir kecker und abweisender geraten, als ich sie begonnen und gewollt hatte; ich erschrak daher an der bleichen und strengen Miene, mit der mir die Herrin aus den Kissen entgegenstarrte. Es war aber nicht Zorn, sondern eine mich plötzlich bis ins Mark anpackende und erschütternde Fremdheit und abweisende Größe, mit der sie mir entgegnete, und mir war's, als spräche die "geistige" Königin aus ihr:

"Du bist weit abgeraten, Enkel des Roderich, von dem Wege deiner Bestimmung. Du beobachtest wohl des Nachts mit sehr strengem Verstande die Sterne an dem Himmel über deinem Hausdach, aber du weißt nicht, daß der Weg zu ihnen durch ihr Ebenbild führt, das in dir wohnt, und du verfällst nicht auf den Gedanken, daß dich Götter von dort oben grüßen, die da wollen, du möchtest zu ihnen emporsteigen. Du hast mir eine sehr lange Abhandlung gewidmet: De stella admiranda in Cassiopeia. Oh, John Dee, du bewunderst zuviel und hast ein Leben lang versäumt, selbst zu einem Wunder zu werden im Weltall. Aber mit Recht hast du vermutet, daß der admirable Stern in der Cassiopeia ein Doppelstern sei, der um sich selbst kreist in steter seeliger Ewigkeit aufleuchtend und sich in sich selbst wieder zurückziehend, wie es die Natur der Liebe ist. – Studiere du doch nur recht ruhig weiter den Doppelstern in der Cassiopeia, wenn ich nunmehr dieses kleine Königreich der Inseln vielleicht sehr bald verlassen werde, um nach der zerbrochenen Krone zu schauen, die mir drüben vorbehalten ist – – –"

 

Da brach ich an dem Bette meiner Herrin nieder und bin mir der Worte nur noch halbbewußt, die ferner zwischen uns gewechselt wurden. –

 

Es erwies sich aber die Krankheit der Königin viel schlimmer, als zuvor gedacht, und die Ärzte gaben nicht mehr viel um die Erhaltung ihres Lebens. Da machte ich mich auf nach Holland und hernach bis Deutschland, um berühmte Ärzte zu holen, die mir aus Löwen und Paris her bekannt waren, traf aber keinen mehr in seiner Stadt, so daß ich schier verzweifelt mit Kurierpferden Tag und Nacht hinter ihnen her war, bis mich in Frankfurt an der Oder die Nachricht von der Genesung meiner Herrin ereilte.

Und so kehrte ich zum drittenmale heim von einer nutzlosen Gewaltreise im Dienste der Herrin und fand zuhause mein Weib Jane eines Knaben genesen, meines lieben Söhnleins Arthur, den sir mir im fünfundfünfzigsten Jahr meines Lebens gebar.

 

 

Seit jener Zeit sind die Schrecken wie die Freuden, die Schmerzen wie die heimlichen Wallungen abenteuerlicher Hoffnungen aus dem spärlichen Umgang mit Königin Elizabeth und dem Hofe zu London so gut wie vollkommen entschwunden und mein Leben ist in diesen beiden letzten Jahren ruhig hingeflossen wie der Dee-Fluß da draußen; nicht ohne anmutig gewundene Biegung im freundlichen Land, aber ohne Abenteuer und ohne den majestätischen Drang des werdenden Stroms, der fernen und schicksalsreichen Horizonten entgegenstrebt. –

 

Königin Elizabeth hat eine letzte Mahnung, die ich meiner Feder abzwang, im vorigen Jahr mit gnädiger Herablassung entgegengenommen: ich widmete ihr zum Abschluß meiner hochfliegenden und doch so streng und sorgfältig durchdachten nordamerikanischen Pläne die Tabula geografica Americae, darauf ich nochmals auf die unabsehbaren und nie wieder einzuholenden Möglichkeiten und Vorteile des Unternehmens hinzuweisen versuchte. Ich habe nur meine Schuldigkeit getan. Wenn die Königin auf den Rat engstirniger Neidhammel lieber hört als auf den Rat ihres – Freundes, so ist eine Schicksalsstunde für England ungenützt vorübergegangen, die nie mehr wiederkehrt. Aber ich kann warten, das habe ich in einem halben Jahrhundert gelernt! Burleigh hat jetzt das Ohr der Herrin. Ein Ohr, das allzuleicht Ratschläge von den Augen empfängt, die wohlgefällig auf Männerschönheit ruhen. Burleigh ist mir nie grün gewesen. Ich erwarte wenig von seiner Einsicht und nichts von seiner Billigkeit.

 

 

Aber da ist noch ein anderer Umstand, der mir den Gleichmut stärkt und mich nicht mehr erbeben läßt vor dem, was der Kronrat beschließt. Mir ist in den Jahren dieser Prüfungen zweifelhaft geworden, ob das irdische Grönland das Ziel meiner Taten, der wahre Gegenstand der mir prophezeiten Eroberung ist. Ich habe seit neuerem Ursache zu zweifeln, ob ich die Worte meines Spiegels richtig gedeutet habe; ich habe Ursache, dem satanischen Bartlett Green trotz seines oft bewährten übernatürlichen und hellseherischen Wesens zu – mißtrauen!! Das teuflischste an ihm ist: die Wahrheit zu sagen, aber so, daß sie mißverstanden werden muß. – – – Diese Welt hier ist nicht die ganze Welt, so lehrte mich der Bartlett Green selber in der Stunde seines Todes. Diese Welt hat eine Hinterwelt, eine Mehrheit von Dimensionen, die sich mit der Welt unserer Körper und unseres Raumes nicht erschöpft: auch Grönland hat sein Spiegelbild, so gut wie ich selbst: – drüben. Grön-Land! Ist das nicht so viel wie das Grüne Land? Ist mein Grönland und mein Amerika – drüben? Das füllt mir Ahnung und Denkkraft aus, seitdem ich – Anderes erlebe. Und da ist mir Bartletts dringende Mahnung: nur hier, hier, und niemals anderswo den Sinn des Seins zu suchen und zu glauben, viel mehr ein Warnungszeichen meiner Ahnung, als ein bekräftigendes Argument für meinen Verstand. Denn ich habe gelernt, dem Verstande von Grund aus zu mißtrauen, als sei er Bartlett Green in eigener Person. Der Bartlett ist nicht mein Freund, er mag sich noch so sehr als mein Retter und Ratgeber empfehlen. Vielleicht hat er mich leiblich gerettet aus dem Tower, nur um mich seelisch zu töten! Ich habe ihn erkannt, als er mir zu der Dämonin verhalf, die sich in die astrale Natur Elizabeths verkleidete, um meiner habhaft zu werden. Nun aber habe ich eine Mitteilung empfangen aus meinem Innern, die mir mein ganzes Leben fremd macht vor mir selbst, daß ich es sehe wie in einem großen Spiegel, und die mich lockt, jenen Spiegel fallen zu lassen, dessen Prophezeiung einst zum erstenmal mein Leben umwandelte.


Ich bin ein ganz anderer geworden, als der, der die Puppe war und nun tot hängt am Geäst des Lebensbaums.

 

Seit diesem Jahr bin ich nicht mehr der Hampelmann der Befehle, die aus dem grünen Spiegel kamen; und ich bin frei!

Frei für die Wandlung, den Aufflug, das Reich, die "Königin" und die "Krone"!

Hier endigt das seltsame Heft mit den Aufzeichnungen John Dees, die sein Leben von der Entlassung aus dem Tower zu London bis zum Jahre 1851 umfassen; also die Zeit von fast achtundzwanzig Jahren, bis zu seinem siebenundfünfzigsten Lebensjahr: das heißt, bis zu einer Zeit, in der sich das Leben eines gewöhnlichen Menschen der Ruhe, der Sammlung und dem Abstieg zu nähern pflegt.

Ein tief mitschwingendes Gefühl, eine unerklärliche Spannung und eine mehr als natürliche Anteilnahme an diesem seltsamen Leben sagt mir, seinem Urenkel, im Innersten, daß die wahren Stürme, Schicksalsgewitter und titanischen Kämpfe hier erst beginnen, daß sie wachsen, sich steigern, übertürmen werden – – um Gottes willen, welches Entsetzen überfällt mich da plötzlich?! Bin ichs, der schreibt? Bin ich zu John Dee geworden? Ist es meine Hand? Und nicht die seine?! – Nicht die seine? – Und um Gott, wer steht dort? Ist es ein Gespenst? Dort, dort, an meinem Schreibtisch! – – – –


 

 

Ich bin müde. Ich habe diese Nacht kein Auge zugetan. Aufruhr des Erlebnisses und der darauffolgenden Stunden verzweifelten Kampfes um die Gesundheit meines Verstandes liegen nun hinter mir in der beruhigten Klarheit einer Landschaft, über die ein schweres Gewitter mit Vernichtung und Segen zugleich hinweggerast ist. –

Wenigstens in der Frühe dieses neuen Tages, nach solch überstandener Nacht, bin ich fähig, das Äußerliche des gestrigen Erlebnisses niederzuschreiben und festzuhalten.

Es war gegen sieben Uhr abends, als ich das Dee'sche Heft mit der Rückschau auf sein vergangenes Leben zu Ende übersetzte. Meine letzten Worte auf dem Papier bezeugen, daß mich der Verlauf dieser Lebensgeschichte tiefer im Gemüte ergriffen hatte, als vielleicht für einen gleichgültigen Bearbeiter alter Familienrelikten notwendig scheint. Wäre ich ein Phantast, ich würde sagen: der Dee, den ich als Erbe seines Blutes in meinen Zellen mit mir trage, ist auferstanden von den Toten. Von den Toten? Ist jemand tot, der noch in den Zellen eines Gegenwärtigen lebt? – – Aber ich will dieses Übermaß an Teilnahme nicht zu erklären versuchen. Genug, es ist da, es hat Besitz von mir ergriffen.

 

 

Es ging so weit, daß ich auf eine schwer zu beschreibende Weise nicht nur gleichsam erinnerungshaft an allen diesen Schicksalen, ja schließlich an dem Leben des eingezogen auf Mortlake mit Frau und kleinem Sohne hausenden, enttäuschten Gelehrten John Dee innerlich teilzunehmen meinte, und daß ich nicht nur die doch nie mit leiblichen Augen geschaute Umgebung des Hauses, die Stuben, die Möbel und die mit jenen Gegenständen einst irgendwie verknüpft gewesenen Empfindungen John Dees sozusagen mitzuspüren begann; sondern daß ich, darüber weit hinaus, das kommende, das herandrohende Lebensschicksal dieses mehr seelisch als welttätigen Abenteurers, meines unglücklichen Urahns, zu fühlen, ja zu sehen begann, und zwar mit einer unheimlichen, schmerzhaften und beklemmenden Kraft –, als ob es mein eigenes vorbestimmtes unabwendbares Geschick sei, das da wie eine schwarze, schwere Wetterwand vor meinem inneren Auge eine Art von seelischer Landschaft überschattete als Bild meines eigenen Innern.

Ich muß mich hüten, mehr sagen zu wollen, denn ich fühle, wie sich mir alsbald die Gedanken wieder verwirren und die Worte nicht mehr gehorchen wollen. Ich habe Angst davor.

Ich spreche darum nicht mehr von dem unsagbar Grauenhaften, das sich in jenem Augenblick begab, wenn ich jetzt ganz trocken aufzeichne:


Es öffnete sich mir unter dem Hinschreiben der letzten Sätze gleichsam ein körperlicher Blick in die Zukunft John Dees von dem Zeitpunkt ab, bei dem sein Tagebuch abbricht. Eine Aussicht von so durchdringender Helle, als ob ich selbst dies noch Künftige mit dem späteren John Dee durchlebt hätte. Was sage ich: mit John Dee! Ich habe es gesehen – als John Dee, bin selber ein John Dee geworden, von dem ich sonst nichts gewußt habe, noch weiß, als was auf diesem von mir beschriebenen Papier steht.

 

Und in jenem Augenblick empfand ich mit unbeschreiblichem Entsetzen: ich selbst war John Dee: ein Unbestimmtes, ein Gefühl am Hinterhaupt, als wüchse mir dort ein zweites Gesicht, ein Januskopf – – – der Baphomet! Und indessen ich noch mit einer Art von eiskaltem, erstorbenem, erstarrtem Lauschen auf mich selbst und auf die Verwandlung an mir dasaß, vollzog sich im Raum um mich her das Schauspiel des bildhaft werdenden Wissens um John Dees Schicksal:

 

 

Vor mir stand zwischen Schreibtisch und Fenster, aus der Luft herauswachsend: der –- Bartlett Green, halboffen sein Lederkoller, rothaarig die breite Brust, auf feistem Hals das brandbärtig umwirrte mächtige Fleischerhaupt, von breitfreundlichem Grinsen furchtbar nahe lebend. –

 

Unwillkürlich strich ich mir über die Augen; dann nochmals mit prüfender nüchterner Überlegung, als der erste furchtbare Schrecken vorüber war. Der Mensch aber vor mir blieb, und ich wußte: es ist der Bartlett Green und kein anderer. –

 

 

Und da geschah das Unbegreiflichste: ich war nicht mehr ich und war es doch; ich war hüben und drüben zugleich, und ich war gegenwärtig und fern, fernab und längst entworden: alles zugleich. Ich war, "ich" und ein anderer – ich war John Dee in der Erinnerung und in meinem lebendigen Augenblicksbewußtsein zugleich. Ich kann das Verschobene nicht anders mit Worten zurechtrücken. – Dies ist vielleicht der richtige Ausdruck: der Raum und die Zeit waren mir gleicherweise verschoben, ähnlich wie ein Ding, das man bei gepreßtem Augapfel sieht: schief, wirklich und unwirklich zugleich: den welches von beiden Augen "sieht" das richtige Bild? – Verschoben wie das Gesichtsfeld war auch der Gehörsinn. Aus unmittelbarer Nähe und aus der Tiefe jahrhundertealter Ferne zugleich hörte ich den Bartlett Green höhnen:

 

 

"Immer noch munter unterwegs, Bruder Dee? Du machst, meiner Treu, einen langen Weg. Du hättest es einfacher haben können!"

"Ich" wollte sprechen. "Ich" wollte das Gespenst mit Worten bannen. Aber meine Kehle war versperrt, meine Zunge klebte, das widrige körperliche Gefühl war mir vollkommen sinnesbewußt; statt meiner aber "dachte" eine Stimme aus mir hervor und sprach über Jahrhunderte herüber unter Schallmanifestationen, die mein äußeres Ohr trafen – Worte, die ich nicht vorbedacht hatte; und sie sagten:

"Und du, Bartlett, stehst auch hier wieder mir im Weg und du willst nicht, daß ich an mein Ziel komme. – Laß ab und gib mir den Weg frei zu meinem Ebenbild im grünen Spiegel!"

Das rotbärtige Gespenst, oder der Bartlett Green in Person meinetwegen, blickte mir aus weißlichem Birkauge starr ins Gesicht. Sein Lächeln gähnte mich an mit dem Ausdruck einer großen Katze:

"Aus dem grünen Spiegel wie aus der schwarzen Kohle grüßt dich das Gesicht der Jungfrau im abnehmenden Mond, – du weißt, Bruder Dee: der guten Herrin, der es so um die Lanze zu tun ist!"

 

Ich starrte in atemloser Beklemmung zu dem Bartlett hinüber. Ein furchtbar sich heranwälzender Strom von fremden Gedanken, Flüchen, Reue- und Abwehrvorstellungen zugleich wurde überblitzt, abgeblendet, vergessen durch eine einzige Erkenntnis, die plötzlich aus meinem eigenen, in lethargischer Betäubung dämmernden Bewußtsein hervorbrach:

 

"Lipotin! – – Die Lanzenspitze der Fürstin! – Von mir wird also die Lanze gefordert! –"

Damit war es auch schon wieder vorüber. Aber ich verfiel in ein traumhaftes Nachdenken, darinnen mir war, als erlebte ich selbst mit halbwachen Sinnen jene Mondnacht der Sukkubusbeschwörueng John Dees im Garten von Mortlake. Was ich in seinem Tagebuch gelesen hatte, gewann überdeutliche Gegenwart und Bildleibhaftigkeit, und was im Kohlenkristall als die schwebende Gestalt der Königin Elisabeth, der Heranbeschworenen, dem John Dee erschienen war, das war für mich jetzt die Gestalt der Fürstin Chotokalungin; und der Bartlett Green, der vor mir stand, verschwand in meinem rückerinnerten Traum von der Lust des John Dee an dem dämonisierten Phantom der Königin Elizabeth. – – – –

Dies ist, was ich von dem unergründlichen Erlebnis des gestrigen Abends noch wiederzugeben vermag. Das übrige ist unbegreifbarer Nebel – verwischter Traum.

 

John Rogers Erbschaft ist also lebendig geworden! Ich bin nicht mehr imstande, die Rolle des unbeteiligten Übersetzers weiter zu spielen. Ich bin beteiligt, irgendwie beteiligt an diesen – diesen Dingen hier, diesen Papieren, Büchern, Amuletten, und – an diesem Tulakasten. – Nein doch: der Tulakasten stammt ja nicht aus der Erbschaft! Er stammt von dem toten Baron – – von Lipotin stammt er, von dem Mascee-Abkömmling! Von dem Mann, der die Lanzenspitze bei mir sucht für die Fürstin Chotokalungin! – – alles, alles hängt zusammen!! – Aber wie? Sinds Nebelketten, Rauchbänder, die über Jahrhunderte herüberwehen und mich fesseln, mich unfrei machen?!

 

 

Ich selber lebe ja mit allem, was hier um mich ist, schon im "Meridian"!! Ich brauche unbedingt Ruhe und Überlegung. Alle Augenblicke fängt mein Verstand an zu taumeln. Das ist gefährlich, das ist töricht! Wenn ich die Herrschaft über diese Visionen verliere, dann – –

 

Es steigt mir heiß auf, wenn ich an Lipotin denke und sein undurchdringliches Zynikergesicht; oder an die Fürstin, an diese wundervolle Frau – –! Ich bin tatsächlich ganz allein, bin ganz auf mich angewiesen, ganz ohne Hilfe gegen – sagen wir einmal: gegen Ausgeburten meiner Phantasie, gegen – – Gespenster!

 

Ich muß mich mehr zusammennehmen.

 

Nachmittags.

Ich kann mich nicht entschließen, heute einen Griff in die Schublade zu tun, um ein neues Heft hervorzuholen. Teils fühle ich zu deutlich, daß meine Nerven noch in allzu unruhigen Schwingungen sind, teils macht mich die angenehme Erwartung eines höchst überraschenden Wiedersehens ungeduldig und unruhig, das mir heute gegen Mittag durch die Post angemeldet wurde.

Es ist immer sonderbar spannend, einem Jugendfreund wieder zu begegnen, der ehemals vertraut, dann ein halbes Leben lang aus dem eigenen Umkreis entschwunden, die Vergangenheit wie unversehrt wiederzubringen verspricht. Unversehrt? – natürlich ist das ein Irrtum: wie ich selbst, so hat sicherlich auch er sich gewandelt, und keiner von uns bewahrt die Vergangenheit! Aus dem Irrtum wächst darum oft Enttäuschung. Also bleibe die Erwartung besonnen, die mich ergreift, wenn ich mir vorstelle, daß ich heute abend Theodor Gärtner am Bahnhof abholen werde, den lebenstollen Studienfreund von Anno dazumal, der abenteuerlustig als junger Chemiker nach Chile ging und dort zu hohen Ehren, Ansehen und Reichtum gelangte. Nun wird er der richtige "Onkel aus Amerika" geworden sein und sein smart Erworbenes in der alten Heimat in Ruhe verzehren wollen.

 

Ärgerlich ist mir ein wenig, daß eben heute, wo ich diesen Besuch erwarte, meine Haushälterin, die mit mir und dem Meinen Bescheid weiß, ihre Erholungsreise in ihr Heimatdorf antreten muß. Ich konnte sie aber billigerweise nicht länger hinhalten. Denn wenn ichs bei Licht besehe, so schulde ich ihr diesen Urlaub jetzt bald ins dritte Jahr! Immer wieder kam ihrer Gewissenhaftigkeit oder meinem Egoismus etwas dazwischen; und nun wäre mal wieder mein Egoismus an der Reihe; – nein, das geht nicht! Dann lieber schon einmal vorliebnehmen und sich in Gottes Namen in Geduld fassen und irgendwie auszukommen trachten mit dem Ersatz, den sie mir für morgen beschafft und angekündigt hat. Ich bin neugierig, wie ich mich mit dieser "Frau Doktor", die den Ersatz bilden soll für die alte Haushälterin, zurechtfinden werde! –

Geschiedene "Dame", angeblich mittellos, genötigt, Stellung anzunehmen – natürlich unschuldig geschieden! – stilles Heim! – Treue Verwalterin! – Und so –

Wahrscheinlich:

"mit der Angelschnur versehen
naht sich Lenchen auf den Zehen",

wie Wilhelm Busch singt –: also aufpassen!

 

 

Ich muß lachen, wenn ich denke, was solch einem alten Junggesellen wie mir alles droht oder drohen kann! Sie heißt übrigens nicht "Lenchen", sondern Johanna Fromm! Aber andererseits ist diese Frau Doktor auch erst dreiundzwanzig Jahre alt. Man muß also alle Fronten im Auge behalten und darauf bedacht sein, die Tore der Junggesellenfestung nach allen Seiten hin gut zu sichern.

Wenn sie wenigstens gut kocht! –

 

Auch heute wird wohl meine Arbeit an John Rogers Erbschaft unberührt liegen bleiben. Zuerst muß ich innerlich aufräumen mit den Erlebnissen und Eindrücken des gestrigen Abends.

Mir scheint: das Tagebuchschreiben gehört mit zu den Erbschaften derer, die Blut und Wappen des John Dee übernommen haben. Ich werde mir, wenn es so weiter geht, gleichfalls ein Protokoll meiner Abenteuer anlegen müssen! Dabei drängt es mich ungestümer denn je, so rasch wie möglich in die sonderbaren Geheimnisse des verschollenen Lebens John Dees tiefer einzudringen, denn ich fühle, daß dort irgendwo der Schlüssel verborgen liegen muß – nicht nur zu dem Sinn aller Schicksale und Rätsel, die dessen Leben bestimmt haben, sondern sehr seltsamerweise auch der Schlüssel zum Verständnis der eigentümlichen Verkettungen, in die ich mich selbst jetzt verstrickt finde mit jenem Leben des abenteuerlichen Urahns. Fiebernde Neugier will jeden andern Wunsch und Gedanken beiseite schieben und blindlings zum nächsten Heft der Aufzeichnungen greifen, oder doch lieber: mit Gewalt dieses tulasilberne Kästchen da vor mir auf meinem Schreibtisch aufsprengen. – – – Tollgewordene Phantasie nach den Überreizungen dieser vergangenen Nacht! Ich finde kein anderes Mittel, sie abzukühlen und zu bändigen, als daß ich so sachlich wie nur möglich und in tunlichster Ordnung niederschreibe, was geschehen ist.

Gestern abend also – Punkt sechs Uhr – stand ich auf dem Nordbahnhof und erwartete den Schnellzug, mit dem mein Freund Doktor Gärtner, wie er telegraphiert hatte, ankommen sollte. Ich nahm meinen Stand so günstig wie nur möglich am Schrankenausgang, so daß mir keiner der den Bahnhof verlassenden Reisenden entgehen konnte.

 

Der Expreß lief pünktlich ein, und ich kontrollierte ruhig die Angekommenen; mein Freund Gärtner war nicht darunter. Ich wartete, bis der letzte Fahrgast die Sperre passiert hatte – ich wartete, bis der Zug auf ein anderes Gleis hinausgeschoben wurde. Dann wandte ich mich recht enttäuscht dem Ausgang zu.

 

 

Da fiel mir ein, daß aus gleicher Richtung ein zweiter, freilich nicht aus dem Ausland kommender Eilzug bald fällig war. Ich tat ein übriges, kehrte um, nahm meinen alten Standort wieder ein und wartete auch diesen Zug ab.

Vergebens! Die alte Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit meines Studienfreundes war also, so dachte ich etwas verbittert, schon eine von den Eigenschaften, die im Lauf der Jahre eine unerfreuliche Wandlung durchgemacht haben mußten. Und so verließ ich mißmutig den Bahnhof, um nach Hause zu gehen, in der Hoffnung, dort vielleicht ein Absagetelegramm vorzufinden.

 

Ich hatte fast eine Stunde vor der Schranke vertrödelt, und es ging auf sieben und dämmerte bereits, als ich, planlos eine Seitengasse durchquerend, die eigentlich gar nicht auf meinem Nachhauseweg lag, auf Lipotin stieß. Dem alten Kunsthändler zu begegnen, überraschte mich so plötzlich und eigentümlich, daß ich stehen blieb und ziemlich albern seinen Gruß mit den Worten erwiderte:

 

"Wie kommen Sie hierher?!"

Lipotin staunte – er bemerkte offenbar meine Verwirrtheit, – und sofort stand das sarkastische Lächeln in seinen Gesicht, das mich an ihm so häufig irritiert; dazu sagte er, indem er sich prüfend umsah:

 

 

"Hierher? – Was ist an dieser Straße Besonderes, Verehrtester? Sie hat allerdings den Vorzug, daß sie mich von meinem Kaffeehaus in fast schnurgerader Richtung Nord-Süd nach Hause führt. Und Sie wissen: die Gerade ist zwischen zwei Punkten die kürzeste Strecke; – – aber Sie, mein Gönner, Sie scheinen mir irgendwelche Umwege zu machen, denn ich wüßte nicht, was Sie in diese Gasse führen könnte, als eine Art des Traumwandelns!"

 

 

Dazu lachte Lipotin laut und oberflächlich, während seine Worte mich beinahe schreckhaft berührten. Ich muß ihn daher ziemlich entgeistert und blöde angestarrt haben, als ich ihm erwiderte:

"Ganz recht: Traumwandeln. Ich – wollte nach Hause."

Wieder lachte Lipotin spöttisch:

"Wunderbar, wie sich ein Träumer in seiner eigenen Vaterstadt verirren kann! Wenn Sie nach Hause wollen, mein Bester, so müssen Sie zur nächsten Querstraße dort links zurück – – – aber wenn Sie gestatten, werde ich Sie ein paar Häuser weit begleiten."

Ärgerlich schüttelte ich meine törichte Befangenheit mit einem Ruck ab und sagte meinerseits ein wenig beschämt:

"Es scheint, Lipotin, in der Tat, ich habe auf der Straße geschlafen. Ich danke Ihnen, daß Sie mich geweckt haben! Im übrigen – gestatten Sie mir, daß ich Sie begleite."

Lipotin schien erfreut, und so gingen wir zusammen nach seiner Wohnung. Unterwegs erzählte er mir unaufgefordert, daß die Fürstin Chotokalungin sich jüngst sehr lebhaft nach mir erkundigt habe, – sie hätte offenbar großen Gefallen an mir gefunden; ich könne also eine sehr schmeichelhafte Eroberung verzeichnen. Ich erklärte Lipotin alsbald mit Nachdruck, daß ich kein "Eroberer" sei und nicht daran dächte, – aber Lipotin wehrte mit erhobenen Händen ab und lachte; fügte dann flüchtig, aber nicht ohne die merkbare Absicht, mich zu necken, hinzu: "Von der gesuchten Lanzenspitze übrigens fiel von ihr aus kein Wort mehr. So ist die Fürstin. Heute hartnäckig, morgen vergessen. Frauenart, nicht wahr, mein Bester?"

 

 

Ich mußte sagen, daß mich diese Mitteilung einigermaßen erleichterte. Also doch nur eine Laune!

 

Als darum Lipotin vorschlug, er wolle mich an einem der nächsten Tage zu einem Besuch bei der Fürstin abholen, – er wisse bestimmt, die Fürstin werde sich sehr freuen, mich zu empfangen, sie warte sogar gleichsam darauf, nachdem sie sich selbst so zwanglos bei mir eingeführt, – schien es mir ganz in der Ordnung, einen solchen Akt der Höflichkeit nicht zu unterlassen und die dargebotene Gelegenheit zu einem Wiedersehen mit der Fürstin – vielleicht auch behufs einer Aufklärung in der Antiquitätensache, zu ergreifen.

Unterdessen waren wir bei dem Hause angelangt, in dem Lipotin seinen kleinen Laden und seinen Wohnungsunterschlupf hat. Ich wollte mich von ihm verabschieden, aber er sagte plötzlich:

 

"Nun sind Sie schon einmal hier, und mir fällt ein, daß ich gestern eine kleine Sendung von hübschen Antiquitäten aus Bukarest erhielt: Sie wissen, auf dem Umweg, auf dem mir nach und nach noch einiges bei Gelegenheit aus Bolschewikenland nachgesandt wird –. Leider nichts von erheblichem Belang, aber vielleicht ist doch etwas darunter, was Sie ganz gern einmal anschauen möchten. Haben sie ein wenig Zeit? Kommen Sie auf einen Sprung zu mir herein."

Ich zauderte einen Augenblick wegen meiner Idee, zu Hause vielleicht ein Telegramm meines Freundes Gärtner vorzufinden, – dachte flüchtig, ich möchte durch mein Ausbleiben also möglicherweise eine neue Abrede verfehlen, fühlte andererseits Ärger über Gärtners Unpünktlichkeit wieder aufsteigen und sagte daher rascher, als ich wollte, und einer schnell auftauchenden Überlegung jäh vorgreifend:

"Ich habe Zeit. Ich komme mit."

Schon zog Lipotin einen vorsintflutlichen Schlüssel aus der Tasche; die Schlösser rasselten, und durch die aufgestoßene Ladentür stolperte ich in das finstere Gelaß.

Ich bin schon oft bei guter Tageszeit in dem engen Gewölbe des alten Russen gewesen; es läßt an Romantik der Verwahrlosung nichts zu wünschen übrig. Wäre dieser von der Feuchtigkeit und dem Mörtelfraß der Jahrhunderte durchpestete Kellerraum nicht für jeden halbwegs europäischen Anspruch unbewohnbar gewesen, so hätte Lipotin schwerlich diesen Unterschlupf in der Wohnungsnot der Nachkriegszeit zugestanden erhalten.

Lipotin ließ ein winziges Flämmchen aus seinem Taschenfeuerzeug springen und machte sich in irgendeinem Winkel zu schaffen. Das Zwielicht von der Gasse herein genügt nicht, um vor meinem Blick Ordnung in das verschwimmende modrige Gerümpel zu bringen. Lipotins Benzinflämmchen flackerte und hüpfte wie ein Irrlicht über einem schwarzbraunen Sumpf, daraus die Splitter, Kanten, Bruchstücke halbversunkener Dinge hervorstachen. Endlich glomm aus einer Ecke mühselig ein Kerzenstumpen auf, der zunächst nur die unmittelbare Umgebung erhellte, nämlich ein greuliches, obszönes Götzenbild aus blindgeriebenem Speckstein, in dessen lochartig durchhöhlter Faust die Kerze stak. Noch stand Lipotin darübergebeugt, wohl um zu beobachten, ob der verstaubte Docht auch die Flamme nähren würde; – und es sah aus, als verrichte er vor dem Götzen eine heimlich hingehuschte Andachtszeremonie. Dann tastete er sich im dünnen Geflimmer der Kerze endlich zu einer Petroleumlampe, die bald einen verhältnismäßig breiten und behaglichen Schein durch ihre grüne Glocke hervorblühen ließ. Die ganze Zeit über hatte ich bewegungslos in der bedrängten Enge gestanden und atmete nun geradezu auf.







Date: 2015-09-05; view: 363; Нарушение авторских прав



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