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Tifereth 17 page





Belbo war hinausgegangen. Signora Grazia war nicht im Sekretariat, und er sah das rote Licht der Privatleitung von Signor Garamond aufleuchten, ein Zeichen, dass dieser gerade jemanden anrief. Belbo konnte der Versuchung nicht widerstehen (ich glaube, es war das erste Mal in seinem Leben, dass er eine solche Indiskretion beging). Er nahm den Hörer ab und horchte. Garamond sagte gerade:»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich glaube, ich habe ihn überzeugt. Er wird nach Paris kommen... War doch meine Pflicht. Wir gehören doch nicht umsonst zur selben spirituellen Ritterschaft.«

Also gehörte auch Garamond zu dem Geheimnis. Zu welchem Geheimnis? Zu dem, das jetzt nur er, Belbo, enthüllen konnte. Und das nicht existierte.

Es war Abend geworden. Er war zu Pilade gegangen, hatte ein paar Worte mit wer weiß wem gewechselt und hatte zu viel getrunken. Dann, am nächsten Morgen, ging er zu dem einzigen Freund, der ihm noch geblieben war. Er ging zu Diotallevi. Er ging sich Hilfe holen von einem Mann, der im Sterben lag.

Und von diesem ihrem letzten Gespräch hat er in Abulafia einen fieberhaften Bericht hinterlassen, bei dem ich nicht sagen kann, was daran von Diotallevi und was von Belbo war, denn in beiden Fällen war es wie das Murmeln dessen, der die Wahrheit sagt, weil er weiß, dass es nicht mehr der Augenblick ist, sich etwas vorzumachen.

 

110

 

 

Und so geschah es Rabbi Ismael ben Elischa mit seinen Schülern, die das Buch Jezirah studierten. Sie machten falsche Bewegungen und gingen rückwärts, bis sie selbst in der Erde versanken bis zum Nabel wegen der Kraft der Lettern.

Pseudo‑Saadja, Kommentar zum Sefer Jezirah

 

Er war ihm noch nie so albinohaft erschienen, obwohl er fast keine Haare mehr hatte, auch weder Augenbrauen noch Wimpern. Sein Kopf sah aus wie eine Billardkugel.

»Entschuldige«, hatte Belbo gesagt,»darf ich dir mit meinen Nöten kommen?«

»Komm nur. Ich hab keine Nöte mehr. Nur noch Notwendigkeiten. Unabwendbare.«

»Ich habe gehört, es gibt da jetzt eine neue Therapie. Diese Sachen fressen dich auf, wenn du zwanzig bist, aber mit fünfzig gehen sie langsam voran, und man hat Zeit, eine Lösung zu finden.«

»Das gilt für dich. Ich bin noch nicht fünfzig. Mein Körper ist noch jung. Ich habe das Privileg, schneller als du zu sterben. Aber du siehst, es fällt mir schwer zu sprechen. Erzähl mir deine Geschichte, so kann ich mich ausruhen.«

Gehorsam und respektvoll erzählte ihm Belbo seine ganze Geschichte.

Und dann sprach Diotallevi, schwer atmend wie das Fremde Wesen in den Science‑Fiction‑Filmen. Und wie das Fremde Wesen sah er inzwischen auch aus: durchsichtig, ohne erkennbare Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Haut und Fleisch, zwischen dem leichten blonden Flaum, der noch durch den offenen Pyjama auf seinem Bauch zu sehen war, und jenem schwammigen Innereiengewölle, das nur Röntgenstrahlen oder eine fortgeschrittene Krankheit erkennbar machen können.

»Jacopo, ich liege hier in einem Bett, ich kann nicht sehen, was draußen geschieht. Soweit ich weiß, geschieht das, was du mir erzählst, entweder nur in deinem Innern, oder es geschieht draußen. In jedem Fall, ob jetzt du verrückt geworden bist oder die Welt, ist es dasselbe. In beiden Fällen hat jemand die Worte des Buches mehr durchgeschüttelt, verrührt und übereinandergehäuft, als er durfte.«

»Was willst du damit sagen?«

»Wir haben uns am Wort versündigt, an dem Wort, das die Welt geschaffen hat und sie zusammenhält. Du wirst jetzt dafür bestraft, so wie auch ich bestraft worden bin. Es ist kein Unterschied zwischen dir und mir.«

Eine Schwester kam herein, gab ihm etwas zum Benetzen der Lippen und sagte zu Belbo, er dürfe ihn nicht ermüden, aber Diotallevi protestierte:»Lassen Sie mich. Ich muß ihm die Wahrheit sagen. Kennen Sie die Wahrheit?«

»Oh, ich, was fragen Sie mich da... «

»Also dann gehen Sie weg. Ich muß meinem Freund hier etwas Wichtiges sagen. Hör zu, Jacopo. So wie es im Körper des Menschen Glieder und Gelenke und Organe gibt, so gibt es auch welche in der Torah, verstehst du? Und so wie es in der Torah Glieder und Gelenke und Organe gibt, so gibt es auch welche im Körper des Menschen, klar?«


»Klar.«

»Und Rabbi Meir, als er von Rabbi Akiba lernte, mischte Vitriol in die Tinte, und der Meister sagte nichts. Aber als Rabbi Meir den Rabbi Ismael fragte, ob er es richtig mache, sagte dieser: Mein Sohn, sei vorsichtig bei deiner Arbeit, denn es ist eine göttliche Arbeit, und wenn du nur einen einzigen Buchstaben auslässt oder einen zu viel schreibst, zerstörst du die ganze Welt... Wir haben versucht, die Torah umzuschreiben, aber wir haben uns nicht um die zu vielen oder zu wenigen Buchstaben gekümmert...

»Wir haben gescherzt... «

»Man scherzt nicht mit der Torah.«

»Aber wir haben mit der Geschichte gescherzt, mit den Schriften der anderen... «

»Gibt es eine Schrift, die die Welt begründet und die nicht das Buch ist? Gib mir ein bisschen Wasser, nein, nicht im Glas, mach diesen Lappen hier nass. Danke. Jetzt hör zu. Die Lettern des Buches verrühren heißt die Welt verrühren. Da hilft nichts, das gilt für jedes Buch, für die Bibel wie für die Fibel. Diese Typen wie dein Doktor Wagner, sagen die nicht, wer mit Worten spielt und Anagramme macht und das Lexikon auf den Kopf stellt, hat Hässliches in seiner Seele und hasst seinen Vater?«

»Nein, das ist anders. Diese Typen sind Psychoanalytiker, die sagen das, um Geld zu verdienen, das sind nicht deine Rabbiner.«

»Rabbiner, Rabbiner sind alle. Alle sprechen von derselben Sache. Glaubst du, dass die Rabbiner, die von der Torah sprachen, von einer Rolle sprachen? Sie sprachen von uns, von all den Leuten, die versuchen, ihren Leib durch die Sprache neu zu machen. Jetzt höre. Um mit den Lettern des Buches umzugehen, braucht man viel Demut, und wir haben keine gehabt. Jedes Buch ist verwoben mit dem Namen Gottes, und wir haben alle Bücher der Geschichte anagrammatisiert, ohne zu beten. Sei still, hör zu. Wer sich mit der Torah beschäftigt, hält die Welt in Bewegung und hält auch seinen Körper in Bewegung, während er liest oder schreibt, denn es gibt keinen Körperteil, der nicht ein Äquivalent in der Welt hätte... Mach den Lappen noch mal nass, danke. Wenn du das Buch veränderst, änderst du die Welt, und wenn du die Welt veränderst, änderst du den Körper. Das ist es, was wir nicht begriffen haben. Die Torah lässt ein Wort aus ihrem Schrein herauskommen, sie erscheint für einen Augenblick und verbirgt sich gleich wieder. Und sie offenbart sich für einen Augenblick nur dem, der sie liebt. Sie ist wie eine wunderschöne Frau, die sich in ihrem Palast in einem kleinen entlegenen Zimmer verbirgt. Sie hat nur einen einzigen Liebhaber, von dessen Existenz niemand weiß. Und wenn ein anderer sie berühren und seine schmutzigen Hände auf sie legen will, rebelliert sie. Sie erkennt ihren Liebhaber, sie öffnet einen kleinen Spalt und zeigt sich für einen Moment. Und verbirgt sich weder. Das Wort der Torah enthüllt sich nur dem, der es liebt. Und wir haben versucht, von Büchern ohne Liebe und nur aus Spottlust zu sprechen... «

Belbo benetzte ihm ein weiteres Mal die Lippen mit dem Tuch.»Und dann?«

»Und dann haben wir tun wollen, was uns nicht erlaubt war und wofür wir nicht vorbereitet waren. Indem wir die Worte des Buches manipulierten, wollten wir den Golem erschaffen.«


»Ich verstehe nicht... «

»Du kannst nicht mehr verstehen. Du bist der Gefangene deiner eigenen Kreatur. Aber deine Geschichte spielt sich noch in der Außenwelt ab. Ich weiß nicht wie, aber du kannst ihr noch entrinnen. Für mich ist es etwas anderes, ich erlebe jetzt in meinem Körper, was wir als Spiel im Großen Plan gemacht haben.«

»Red keinen Unsinn, das ist eine Sache der Zellen...«

»Und was sind die Zellen? Monatelang haben wir wie fromme Rabbiner mit unseren Lippen eine andere Kombination der Lettern des Buches ausgesprochen. GCC, CGC, GCG, CGG. Was unsere Lippen sagten, das haben unsere Zellen gelernt. Was haben meine Zellen gemacht? Sie haben einen abweichenden Plan erfunden, und jetzt gehen sie ihre eigenen Wege. Meine Zellen erfinden eine Geschichte, die nicht die allgemeine ist. Meine Zellen haben inzwischen gelernt, dass man lästern kann, indem man das Heilige Buch anagrammatisiert, das Heilige und alle anderen Bücher der Welt. Und genauso machen sie es nun mit meinem Körper. Sie invertieren, transponieren, alternieren, permutieren, sie kreieren neue, nie gesehene und sinnlose Zellen oder solche, deren Sinn dem richtigen Sinn zuwiderläuft. Es muß einen richtigen Sinn geben, der sich von den falschen unterscheidet, sonst stirbt man. Aber sie spielen, ungläubig, blindlings. Jacopo, solange ich noch lesen konnte in diesen Monaten, habe ich viele Wörterbücher gelesen. Ich habe Wortgeschichten studiert, um zu begreifen, was mit meinem Körper passierte. Wir Rabbiner machen das so. Hast du jemals darüber nachgedacht, dass der linguistische Terminus ›Metathese‹ dem onkologischen Terminus ›Metastase‹ ähnelt? Was ist eine Metathese? Statt Wespe sagst du Wepse, und statt Herakles kannst du auch Herkules sagen. Das ist die Temurah. Das Wörterbuch sagt dir, dass Metathese Umstellung heißt, Mutation. Und Metastase heißt Umstellung, Veränderung. Wie dumm, die Wörterbücher. Die Wurzel ist dieselbe, entweder das Verb metatithemi oder das Verb methistemi. Aber metatithemi heißt: ich setze um, ich verrücke, verschiebe, substituiere, schaffe ein Gesetz ab, ändere den Sinn. Und methistemi? Genau dasselbe, ich verlagere, permutiere, transponiere, ändere die öffentliche Meinung, schnappe über und werde verrückt. Wir, und mit uns jeder, der einen verborgenen Sinn hinter den Buchstaben sucht, wir sind übergeschnappt und verrückt geworden. Und so haben es auch meine Zellen getan, gehorsam. Deswegen sterbe ich, Jacopo, und du weißt es.«

»Du redest jetzt so, weil's dir schlecht geht... «


»Ich rede jetzt so, weil ich endlich alles über meinen Körper begriffen habe. Ich studiere ihn Tag für Tag, ich weiß, was in ihm vorgeht, ich kann nur nicht eingreifen, meine Zellen gehorchen mir nicht mehr. Ich sterbe, weil ich meine Zellen davon überzeugt habe, dass es keine Regel gibt, dass man aus jedem Text machen kann, was man will. Ich habe mein Leben dafür gegeben, mich davon zu überzeugen, mich samt meinem Gehirn. Und mein Gehirn muß die Botschaft an sie weitergegeben haben, an die Zellen. Wieso soll ich mir einreden, meine Zellen seien klüger als mein Gehirn? Ich sterbe, weil wir über jede Grenze hinaus fantasievoll gewesen sind.«

»Hör zu, was mit dir geschieht, hat nichts mit unserem Großen Plan zu tun... «

»Nein? Und wieso geschieht dann mit dir, was mit dir geschieht? Die Welt benimmt sich wie meine Zellen.«

Er verstummte erschöpft. Der Doktor kam herein und zischte leise, man dürfe einen Sterbenden nicht so unter Stress setzen.

Belbo ging hinaus, und es war das letzte Mal gewesen, dass er Diotallevi gesehen hatte.

Sehr gut, hatte er geschrieben, ich werde also aus denselben Gründen von der Polizei gesucht, aus denen Diotallevi jetzt Krebs hat. Armer Freund, du stirbst, aber ich, der ich keinen Krebs habe, was tue ich? Ich fahre nach Paris, um den Grund der Wucherung zu suchen.

Er ergab sich nicht gleich. Er schloss sich vier Tage lang in seiner Wohnung ein und ordnete seine files um und um, Satz für Satz, um eine Erklärung zu finden. Dann schrieb er seinen Bericht, schrieb ihn wie ein Testament, schrieb ihn für sich, für Abulafia, für mich oder für wen immer, der ihn irgendwann würde lesen können. Und am Dienstag ist er dann schließlich gefahren.

Ich glaube, Belbo ist nach Paris gefahren, um denen zu sagen, dass es keine Geheimnisse gibt, dass das wahre Geheimnis darin besteht, die Zellen ihrer instinktiven Weisheit folgen zu lassen, und dass man, wenn man Geheimnisse unter der Oberfläche sucht, die Welt zu einem schmutzigen Krebsgeschwür reduziert. Und dass der Schmutzigste und der Dümmste von allen er selber war, der nichts wusste und sich alles bloß ausgedacht hatte – und es muß ihn viel gekostet haben, das zu sagen, aber er hatte sich schon zu lange mit dem Gedanken abgefunden, dass er ein Feigling war, und wie De Angelis ihm ja gerade erst wieder bewiesen hatte, gibt es nur sehr wenige Helden.

In Paris muß er dann gleich beim ersten Kontakt mit denen gemerkt haben, dass sie seinen Worten nicht glaubten. Seine Worte waren zu einfach. Diese Leute erwarteten nun eine Enthüllung, andernfalls würden sie ihn töten. Aber Belbo hatte keine Enthüllung zu machen, er hatte nur – letzte seiner Feigheiten – Angst zu sterben. Und da hatte er versucht, seine Spur zu verwischen, und hatte mich angerufen. Aber sie hatten ihn geschnappt.

 

111

 

 

C’est une leçon par la suite. Quand votre ennemi se reproduira, car il n’est pas à son dernier masque, congédiez‑le brusquement, et surtout n’allez pas le chercher dans les grottes.

(Das ist eine Lehre für später. Wenn euer Feind wieder auftaucht, denn er ist noch nicht bei seiner letzten Maske, weist ihn schroff ab, und geht ihn vor allem nicht in den Höhlen suchen.)

 

Jacques Cazotte, Le diable amoureux, > 1772, in den folgenden Ausgaben gestrichen

 

Und was, fragte ich mich in Belbos Wohnung, als ich seine Bekenntnisse zu Ende gelesen hatte, was muß ich jetzt tun? Zu Garamond gehen hat keinen Sinn, De Angelis ist abgereist, Diotallevi hat alles gesagt, was er zu sagen hatte. Lia ist weit, an einem Ort ohne Telefon. Es ist sechs Uhr morgens, Samstag, der 23. Juni, und wenn etwas geschehen muß, wird es heute Nacht geschehen, im Conservatoire.

Ich musste eine rasche Entscheidung treffen. Warum, fragte ich mich vorgestern Abend im Periskop, warum hast du nicht einfach so getan, als wenn nichts wäre? Du hattest den Text eines Verrückten vor dir, der über seine Gespräche mit anderen Verrückten berichtete und über sein letztes Gespräch mit einem überreizten oder überdeprimierten Sterbenden. Du warst nicht einmal sicher, ob Belbo dich überhaupt aus Paris angerufen hatte, vielleicht war er nur ein paar Kilometer von Mailand entfernt gewesen, vielleicht in der Kabine an der Ecke. Warum musstest du dich auf eine vielleicht imaginäre Geschichte einlassen, die dich nicht berührte?

Aber das fragte ich mich vorgestern Abend im Periskop, während mir die Füße einschliefen und das Licht schwächer wurde und ich die unnatürliche und allernatürlichste Angst empfand, die jedes menschliche Wesen empfinden muß, wenn es nachts allein in einem leeren Museum ist. Frühmorgens am selben Tag hatte ich keine Angst empfunden. Nur Neugier. Und vielleicht ein Gefühl der Pflicht, oder der Freundschaft.

Und so hatte ich mir gesagt, dass auch ich nach Paris fahren musste, ich wusste zwar nicht genau, was ich dort tun sollte, aber ich konnte Belbo nicht allein lassen. Vielleicht erwartete er das von mir, nur dies eine: dass ich nachts in die Höhle der Thugs eindrang und, während Suyodhana sich anschickte, ihm das Opfermesser ins Herz zu stoßen, ihn mit meinen Mannen befreite.

Zum Glück hatte ich ein bisschen Geld dabei. In Paris nahm ich ein Taxi und ließ mich in die Rue de la Manticore fahren. Der Taxifahrer fluchte lange, denn er fand sie nicht mal auf seinem Taxifahrerstadtplan, und tatsächlich war sie dann ein Gässchen, etwa so breit wie der Gang eines Eisenbahnwaggons, in der Gegend der alten Bièvre hinter Saint‑Julien‑le‑Pauvre. Das Taxi konnte gar nicht hineinfahren und setzte mich an der Ecke ab.

Ich drang zögernd in den schmalen Schlauch ein, zu dem sich keine Tür öffnete, aber nach ein paar Metern wurde die Straße ein wenig breiter, und da war eine Buchhandlung. Ich weiß nicht, warum sie die Nummer 3 hatte, da nirgends eine l oder 2 oder sonst eine Nummer zu sehen war. Es war ein winziger Laden, den nur eine trübe Lampe erhellte, und die Hälfte der Eingangstür diente als Schaufenster. An den Seiten ein paar Dutzend Bücher, gerade genug, um das Genre deutlich zu machen. Unten einige Wünschelruten, staubige Räucherstäbchen und kleine orientalische oder südamerikanische Amulette. Viele Tarotspiele in verschiedenen Ausführungen und Größen.

Das Innere war nicht viel tröstlicher, ein Haufen Bücher an den Wänden und auf dem Boden, mit einem Tischchen im Hintergrund und einem Buchhändler, der aussah, als wäre er extra dorthin gesetzt worden, damit ein Schriftsteller schreiben konnte, der Mann sei vergilbter als seine Bücher. Er blätterte in einem großen handgeschriebenen Kontobuch, ohne sich um seine Kunden zu kümmern. Es waren auch nur zwei Besucher im Raum, die Staubwolken aufwirbelten, indem sie alte Bücher, fast alle ohne Schutzumschlag, aus wackligen Regalen zogen und zu lesen begannen, ohne den Eindruck zu machen, als wollten sie etwas kaufen.

An dem einzigen nicht mit Regalen bedeckten Platz hing ein Plakat. Grelle Farben, eine Reihe von Köpfen in Rundbildern mit doppeltem Rand, wie auf den Plakaten des Magiers Houdini.»Le Petit Cirque de l'Incroyable. Madame Olcott et ses liens avec l'Invisible.«Ein olivbraunes, männliches Gesicht, das glatte schwarze Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden – mir war, als hätte ich das Gesicht schon mal irgendwo gesehen.»Les Derviches Hurleurs et leur danse sacrée. Les Freaks Mignons, ou Les Petits‑fils de Fortunio Liceti.«Eine Versammlung pathetisch grässlicher kleiner Monster.»Alex et Denys, les Géants d'Avalon. Theo, Leo et Geo Fox, Les Enlumineurs de l'Ectoplasme...«

Die Librairie Sloane bot wirklich alles, von der Wiege bis zur Bahre, auch die gesunde Abendunterhaltung, zu der man die Kinderlein mitnehmen kann, bevor man sie im Mörser zerstampft. Ich hörte ein Telefon klingeln und sah, wie der Buchhändler einen Stoß Papiere beiseite schob, bis er den Apparat fand.»Oui, Monsieur«, sagte er in die Muschel,»c'est bien ça.«Er hörte ein paar Minuten schweigend zu, erst nickend, dann mit zunehmend perplexer Miene, aber – so schien mir – eher für die Anwesenden, als könnten wir alle mithören, was sein Gesprächspartner sagte, und er wollte nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Schließlich setzte er die entrüstete Miene des Pariser Ladeninhabers auf, der nach etwas gefragt wird, was er nicht vorrätig hat, oder des Hotelportiers, der einem sagen muß, dass kein Zimmer mehr frei ist.»Ah non, Monsieur. Ah, ça... Non, non, Monsieur, c'est pas notre boulot. Ici, vous savez, on vend des livres, on peut bien vous conseiller sur des catalogues, mais ça... Il s'agit de problèmes très personnels, et nous... Oh, alors, il y a – sais pas, moi – des curés, des... oui, si vous voulez, des exorcistes. D'accord, je le sais, on connaît des confrères qui se prêtent... Mais pas nous. Non, vraiment, la description ne me suffit pas, et quand même... Désolé, Monsieur. Comment? Oui... si vous voulez. C'est un endroit bien connu, mais ne demandez pas mon avis. C'est bien ça, vous savez, dans ces cas‑là, la confiance, c'est tout. A votre service, Monsieur.«

Die anderen beiden Kunden waren gegangen, mir war mulmig zumute, aber ich nahm mich zusammen, zog die Aufmerksamkeit des Alten mit einem Räuspern auf mich und sagte ihm, dass ich einen Bekannten suchte, einen Freund, der gewöhnlich hier vorbeikomme, den Monsieur Agliè. Er sah mich an, als ob ich derjenige wäre, der ihn gerade angerufen hatte. Vielleicht kenne er ihn nicht unter dem Namen Agliè, sagte ich, sondern als Rakosky, oder Soltikoff, oder... Er sah mich weiter an, mit zusammengekniffenen Augen, ohne bestimmten Ausdruck, und meinte, ich hätte seltsame Freunde mit vielen Namen. Ich sagte, es sei nicht weiter wichtig, ich hätte nur mal so gefragt. Warten Sie, sagte er, mein Sozius kommt gleich, vielleicht kennt der die Person, die Sie suchen. Machen Sie sich's solange bequem, da ist ein Stuhl. Ich telefoniere nur eben mal. Er nahm den Hörer ab, wählte eine Nummer und begann leise zu sprechen.

Casaubon, sagte ich mir, du bist ja noch dümmer als Belbo. Worauf wartest du? Daß die kommen und sagen, oh, was für ein schöner Zufall, auch der Freund von Jacopo Belbo, kommen Sie, kommen auch Sie...

Mit einem Ruck stand ich auf, grüßte und ging. Lief eine Minute lang durch die Rue de la Manticore, bog dann in andere Gässchen ein und fand mich am Ufer der Seine wieder. Idiot, sagte ich mir, was hast du denn erwartet? Daß du hinkommst, Agliè vorfindest, ihn am Jackett packst, und er sagt, verzeihen Sie, war alles nur ein Missverständnis, hier haben Sie Ihren Freund wieder, wir haben ihm kein Haar gekrümmt...? Jetzt wissen die, dass du auch hier bist.

Es war früher Nachmittag, am Abend würde etwas im Conservatoire passieren. Was sollte ich tun? Ich bog in die Rue Saint‑Jacques ein und schaute mich alle paar Schritte um. Nach einer Weile schien mir, dass ich von einem Araber verfolgt wurde. Aber wieso dachte ich, es wäre ein Araber? Das charakteristische Merkmal der Araber ist, dass sie nicht wie Araber aussehen – jedenfalls in Paris, in Stockholm wär's vielleicht was anderes.

Ich kam an einem Hotel vorbei, ging rein und fragte nach einem Zimmer. Als ich mit dem Schlüssel die Treppe hinaufging, sah ich den vermeintlichen Araber unten hereinkommen. Dann bemerkte ich im Flur noch andere Personen, die Araber sein konnten. Natürlich, in dieser Gegend gab es nur Hotels für Araber. Was hatte ich denn erwartet?

Ich trat in das Zimmer. Es war anständig, es gab sogar ein Telefon, nur schade, dass ich beim besten Willen nicht wusste, wenn ich anrufen sollte.

Ich legte mich auf das Bett und versuchte ein bisschen zu schlafen. Um drei stand ich auf, wusch mir das Gesicht und machte mich auf den Weg zum Conservatoire. Jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig, als ins Museum zu gehen, mir dort ein Versteck zu suchen und zu warten, dass es Mitternacht wurde.

So tat ich es. Und so fand ich mich ein paar Stunden vor Mitternacht im Periskop, um auf etwas zu warten.

Nezach ist für einige Interpreten die Sefirah der Ausdauer, des Ertragens, der beharrlichen Geduld. Und in der Tat erwartete uns eine Prüfung. Doch für andere Interpreten ist Nezach die Überwindung, der Sieg. Wessen Sieg? Vielleicht war in dieser Geschichte von lauter Besiegten – die Diaboliker genarrt von Belbo, Belbo genarrt von den Diabolikern, Diotallevi genarrt von seinen Zellen – im Augenblick ich der einzige Sieger. Ich lag im Periskop auf der Lauer, ich wusste von den andern, und sie wussten nicht von mir. Der erste Teil meines Plans war nach Plan gelaufen.

Und der zweite? Würde er nach meinem Plan laufen oder nach dem Großen Plan, der nun nicht mehr der meine war?

 

 

Hod

 

 

 

 

112

 

 

For our Ordinances and Rites: We have two very long and faire Galleries in the Temple of the Rosie Cross; In one of these we place patterns and samples of all manners of the more rare and excellent inventions; In the other we place the Statues of all principal Inventours.

(Für unsere Zeremonien und Riten: Wir haben zwei sehr lange und schöne Galerien im Tempel des Rosenkreuzes; in die eine tun wir Modelle und Exempel aller Arten der eher seltenen und exzellenten Erfindungen; in die andere stellen wir die Standbilder aller bedeutenden Erfinder.)

 

John Heydon, The English Physitians Guide: Or A Holy Guide, London, Ferris, 1662, Vorwort

 

Ich war seit zu vielen Stunden im Periskop gewesen. Es mochte zehn Uhr sein oder halb elf. Wenn etwas geschehen musste, würde es in der Kirche geschehen, vor dem Pendel. Also musste ich jetzt hinuntergehen, um mir ein Refugium zu suchen, einen Beobachtungsposten. Wenn ich zu spät kam, nachdem sie bereits hereingekommen waren (von wo?), würden sie mich bemerken.

Hinuntergehen. Mich bewegen... Seit Stunden wünschte ich mir nichts anderes, aber jetzt, wo ich es konnte und es Zeit wurde, fühlte ich mich wie gelähmt Ich musste die Säle im Dunkeln durchqueren, ohne die Taschenlampe mehr als unbedingt nötig anzuknipsen. Wenig Nachtlicht drang durch die hohen Fenster, wenn ich mir ein gespenstisch im Mondschein liegendes Museum vorgestellt hatte, hatte ich mich getäuscht. Die Vitrinen empfingen undeutliche Reflexe von den Fenstern. Wenn ich mich nicht vorsichtig bewegte, konnte ich leicht etwas umstoßen, so dass es klirrend oder metallisch scheppernd am Boden zerbrach. Immer wieder knipste ich die Lampe an. Ich kam mir vor wie im Crazy Horse, da und dort enthüllte der Lichtstrahl mir eine Nudität, nur war sie nicht aus Fleisch und Bein, sondern aus Schrauben, Nieten und Bolzen.

Und wenn der Lichtstrahl nun plötzlich auf ein lebendiges Wesen fiele, auf ein Gesicht einen Abgesandten der Herren, der spiegelbildlich meinen Gang wiederholte? Wer würde zuerst aufschreien? Ich spitzte die Ohren. Wozu? Ich machte keinen Lärm, ich ging lautlos, auf Zehenspitzen. Also auch er.

Am Nachmittag hatte ich mir die Lage der Säle genau eingeprägt, ich war überzeugt, die große Treppe auch im Dunkeln zu finden. Statt dessen irrte ich nun beinahe tastend umher und hatte die Orientierung verloren.

Vielleicht durchquerte ich manche Säle bereits zum zweiten Mal, vielleicht würde ich nie wieder hier herausfinden, vielleicht war dies, genau dieses Umherirren zwischen sinnlosen Maschinen, gerade der Ritus.

In Wahrheit wollte ich nicht hinuntergehen, in Wahrheit wollte ich die Begegnung hinauszögern.

Ich hatte das Periskop nach einer langen und gnadenlosen Gewissenserforschung verlassen, stundenlang hatte ich unsere Fehler der letzten Jahre hin und her bedacht, um mir klar zu werden, warum ich hier ohne vernünftigen Grund auf der Suche nach Belbo war, den es aus noch weniger vernünftigen Gründen hierher verschlagen hatte. Doch kaum hatte ich einen Fuß aus dem Periskop hinausgesetzt, war alles anders geworden. Während ich mich durch das Dunkel tastete, dachte ich mit dem Kopf eines anderen. Ich war Belbo geworden. Und wie Belbo am Ende seiner langen Reise zur Erleuchtung wusste auch ich nun, dass jedes irdische Ding, auch das allerbanalste, als Hieroglyphe für etwas anderes zu lesen ist, und es gibt nichts Anderes, was so real ist wie der Große Plan. O ja, ich war schlau, mir genügte ein Blitz, ein Blick in einen Lichtstrahl, um zu begreifen. Ich ließ mich nicht narren.

... Fromentscher Motor: ein vertikales Gebilde auf rhomboidaler Basis, das ähnlich einer anatomischen Wachsfigur, die ihre künstlichen Rippen zur Schau stellt eine Reihe von Spindeln umschloss – was weiß ich, Spulen, Unterbrecher oder wie sie in den Fachbüchern heißen mögen –, bewegt von einem Transmissionsriemen, der über ein Zahnrad von einer Ritzelwelle getrieben wurde... Wozu mochte ein solcher Mechanismus gedient haben? Antwort: zum Messen der tellurischen Ströme, ganz klar.

Akkumulatoren. Was akkumulieren die? Nun, keine Frage, denken wir uns die Sechsunddreißig Unsichtbaren als ebenso viele beharrliche Sekretäre (Hüter des secretum), die nachts auf ihr Schreib‑Cembalo hämmern, um ihm einen Ton zu entlocken, einen Funken, einen Anruf, eingespannt in einen Dialog von Küste zu Küste, von Abgrund zu Oberfläche, von Machu Picchu nach Avalon, zip zip zip, hallo hallo, Pamersiel Pamersiel, ich habe des Beben aufgefangen, die Strömung Mu 36, die die Brahmanen anbeteten als den bleichen Atem Gottes, jetzt stecke ich die Nadel rein, der mikro‑makrokosmische Kreislauf ist aktiviert, unter der Kruste des Globus erzittern die Wurzeln der Mandragora, ich höre den Sphärenklang der Universalen Sympathie, over and out.







Date: 2015-12-13; view: 493; Нарушение авторских прав



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