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Tifereth 20 page
Notabene: T ist unabhängig vom Gewicht des Gehenkten (Gleichheit aller Menschen vor Gott)... Bei einem doppelten Pendel mit zwei Massen am selben Faden:... Verlagert man A, so schwingt A noch ein Weilchen und bleibt dann stehen, und es schwingt B. Haben die gekoppelten Pendel verschiedene Massen oder Längen, so schwingt die Energie vom einen zum andern, aber die Zeiten dieser Energieschwingungen sind nicht gleich... Dieses Hin‑und Herpendeln der Energie erfolgt auch dann, wenn man A, statt es frei schwingen zu lassen, nachdem man es einmal verlagert hat, weiter periodisch mit einer Kraft verlagert. Mit anderen Worten, wenn der Wind in Böen auf den Gehenkten bläst, bewegt sich der Gehenkte nach einer Weile nicht mehr, und die Kugel schwingt, als wäre sie an dem Gehenkten aufgehängt. Aus einem privaten Brief von Mario Salvadori, Columbia University, 1984
Ich hatte nichts mehr an diesem Ort zu suchen. Ich nutzte das Durcheinander, um die Statue von Gramme zu erreichen. Der Sockel war noch offen. Ich schlüpfte hinein, stieg eine kurze Leiter hinunter und befand mich auf einem kleinen Absatz, der von einem Lämpchen beleuchtet wurde. Hier begann eine gemauerte Wendeltreppe, die mich in einen schwach beleuchteten, ziemlich hohen Gang hinunterführte. Zuerst erkannte ich nicht, wo ich war und woher das Schwappen und Plätschern kam, das ich hörte. Dann gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht, und mir ging auf: ich war in einem Abwasserkanal, ein Geländer schützte mich vor einem Fall ins Wasser, aber nicht vor einem widerwärtigen Gestank halb chemischer, halb organischer Herkunft. Wenigstens etwas von unserer ganzen Geschichte war also wahr: die Kloaken von Paris. Die von Colbert, von Fantomas, von de Caus? Ich folgte dem größten Kanal, ließ die dunkleren Abzweigungen beiseite und hoffte, dass ein Signal mir anzeigen würde, wo ich meine unterirdische Flucht beenden konnte. Auf jeden Fall lief ich weit weg vom Conservatoire, und verglichen mit jenem Reich der Finsternis waren die Kloaken von Paris ein Labsal, Befreiung, frische Luft, Licht. Ich hatte ein einziges Bild vor Augen: die rätselhafte Figur, die Belbos Leichnam in den Chor der Kirche gezeichnet hatte. Was war das für ein Symbol, welchem anderen Symbol entsprach es? Ich kam nicht darauf. Heute weiß ich, dass es sich um ein physikalisches Gesetz handelte, aber die Art, wie ich es erfahren habe, macht das Phänomen nur noch emblematischer. Hier in Belbos Landhaus, zwischen seinen Papieren, habe ich einen Brief gefunden, in dem ihm jemand, den er offenbar danach gefragt hatte, in mathematischen Termini erklärt, wie ein Pendel funktioniert und wie es sich verhalten würde, wenn an seinem Faden weiter oben ein zweites Gewicht befestigt würde. Demnach hatte Belbo, wer weiß, wie lange schon, mit dem Pendel sowohl die Vorstellung eines Sinai wie die eines Golgatha verbunden. Er war nicht als Opfer eines vor kurzem angefertigten Plans gestorben, er hatte seinen Tod seit langem in der Fantasie vorbereitet, ohne zu ahnen, dass diese seine Fantasie, während er sie für unkreativ hielt, die Wirklichkeit vorausplante. Oder nein, vielleicht hatte er auf diese Art sterben wollen, um sich und den anderen zu beweisen, dass, auch wenn man kein Genie hat, die Fantasie immer kreativ ist. In gewisser Weise hatte Belbo, indem er verlor, gesiegt. Oder hat, wer sich einzig auf diese Art zu siegen verlegt, alles verloren? Alles verloren hat, wer nicht begriffen hat, dass der Sieg ein anderer gewesen war. Aber das hatte ich in jener Nacht noch nicht entdeckt. Ich lief durch den Gang, amens wie Postel, vielleicht verirrt in derselben Finsternis wie er, und plötzlich kam das Signal. Eine hellere Lampe an der Mauer zeigte mir eine provisorische Leiter, die zu einer hölzernen Falltür hinaufführte. Ich probierte sie und gelangte in einen Kellerraum voller Kästen mit leeren Flaschen, dann in einen Gang mit zwei Türen, auf der einen das Männchen, auf der anderen das Weibchen. Die Welt der Lebenden hatte mich wieder. Schwer atmend blieb ich stehen. Erst in diesem Augenblick dachte ich an Lorenza. Jetzt war ich es, der weinte. Aber sie war schon dabei, sich aus meinen Adern und Venen zu entfernen und zu entschwinden, als hätte sie nie existiert. Ich konnte mich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. In jener Welt von Toten war sie die toteste. Am Ende des Ganges fand ich eine Treppe, dann eine Tür. Ich trat in einen verräucherten, übel riechenden Raum, eine Taverne, ein Bistro, eine arabische Bar – dunkelhäutige Kellner, schwitzende Kunden, fettige Bratspießchen und Bierkrüge. Ich trat aus der Tür wie einer, der schon vorher da gewesen war und nur eben pinkeln gegangen ist Niemand bemerkte mich, höchstens vielleicht der Mann an der Kasse, der mir, als er mich hinten auftauchen sah, kaum merklich ein Zeichen machte, indem er kurz die Augen zusammenkniff, wie um zu sagen, okay, alles klar, ich hab nichts gesehen.
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Könnte das Auge die Teufel sehen, die das Universum bevölkern, das Dasein wäre unmöglich. Talmud, Brachoth, 6
Ich trat auf die Straße und befand mich unter den Lichtern an der Porte Saint‑Martin. Arabisch war das Lokal gewesen, arabisch waren die Läden ringsum, die noch geöffnet hatten. Geruch von Couscous und Falafel, dichtes Gedränge. Gruppen von Jugendlichen, hungrig, viele mit Schlafsack, ganze Scharen, ich kam gar nicht in eine Bar hinein, um etwas zu trinken. Ich fragte einen Jungen, was denn los sei. Die Demonstration, sagte er, am nächsten Tag sei doch die große Demonstration gegen das Hochschulgesetz von Savary. Sie kamen mit Bussen. Ein Türke – ein Druse, ein verkleidetet Ismaelit – will mich in schlechtem Französisch in ein obskures Lokal locken. Niemals! Weg, weg von Alamut! Du weißt nie, wer in wessen Diensten steht. Trau keinem! Ich gehe über die Kreuzung. Jetzt höre ich nur das Geräusch meiner Schritte. Vorteil der großen Städte: du gehst ein paar Meter und bist allein. Doch plötzlich, nach ein paar Blöcken, links das Conservatoire, bleich in der Nacht. Von außen vollkommen friedlich. Ein Monument, das den Schlaf des Gerechten schläft. Ich gehe weiter in südlicher Richtung, zur Seine. Ich hatte ein Ziel, aber ich habe es nicht mehr deutlich vor Augen. Ich möchte jemanden fragen, was passiert ist. Belbo tot? Der Himmel ist klar. Ich begegne einer Gruppe Studenten. Sie sind still, vom Genius loci erfaßt. Links die Silhouette von Saint‑Nicolas‑des‑Champs. Ich gehe die Rue Saint‑Martin hinunter, überquere die Rue aux Ours, sie ist breit wie ein Boulevard, ich fürchte, ich verliere die Orientierung, die ich doch gar nicht mehr habe. Ich schaue mich um und sehe zu meiner Rechten, an der Ecke, die beiden Schaufenster der Editions Rosicruciennes. Sie sind dunkel, aber im Licht der Straßenlaternen und mit meiner Taschenlampe gelingt es mir, die Auslagen zu erkennen. Bücher und Gegenstände. Histoire des Juifs, Comte de Saint‑Germain, Alchimie, Le Monde caché, Les Maisons secrètes de la Rose‑Croix, Le Message caché des cathédrales, Katharer, Neues Atlantis, ägyptische Medizin, der Tempel von Karnak, Bhagavad Gita, Reinkarnation, rosicrucianische Kreuze und Leuchter, Isis‑und Osirisbüsten, Weihrauch in Dosen und in Form von Tabletten, Tarotkarten. Ein Dolch, ein Brieföffner aus Zinn mit rundem Griff, darauf das Siegel der Rosenkreuzer. Was soll das, wollen die mich verhöhnen? Ich überquere den Platz vor dem Centre Beaubourg. Bei Tag ist er ein Jahrmarkt, jetzt ist er fast leer, ein paar stille Grüppchen, Pennende, spärliche Lichter aus den umliegenden Brasserien. Es stimmt. Große Saugnäpfe, die Energie aus der Erde saugen. Vielleicht sollen die Massen, die tagsüber das Gebäude füllen, die nötigen Vibrationen liefern, die hermetische Maschine nährt sich von Frischfleisch. Eglise de Saint‑Merri. Gegenüber ein Buchladen, Librairie la Vouivre, zu drei Vierteln okkultistisch. Ich darf nicht hysterisch werden. Ich biege nach links in die Rue des Lombards ein, vielleicht um einer Schar skandinavischer Mädchen auszuweichen, die lachend aus einer noch offenen Taverne kommen. Still, wisst ihr nicht, dass auch Lorenza tot ist? Aber ist sie denn tot? Und wenn ich nun tot wäre? Rue des Lombards: von da geht nach rechts die Rue Flamel ab, und am Ende der Rue Flamel erhebt sich weiß der Turm Saint‑Jacques. An der Kreuzung die Librairie Arcane 22, Tarotkarten und Pendel. Nicolas Flamel, der Alchimist, dazu ein alchimistischer Buchladen und dieser Turm Saint‑Jacques mit den großen weißen Löwen am Sockel, dieser unnütze spätgotische Turm an der Seine, nach dem auch eine esoterische Zeitschrift benannt worden ist. Pascal hat dort Experimente gemacht, um das Gewicht der Luft zu bestimmen, und noch heute gibt es dort oben in 52 Metern Höhe eine Wetterstation. Vielleicht hatten sie dort oben begonnen, ehe sie den Eiffelturm errichteten. Es gibt privilegierte Orte. Und niemand bemerkt sie. Ich gehe zurück Richtung Saint‑Merri. Von neuem lachende Mädchen. Ich will keine Leute mehr sehen, ich gehe um die Kirche herum, durch die Rue du Cloître Saint‑Merri – eine Seitentür, alt, aus rohem Holz. Zur Linken öffnet sich ein Platz, die äußere Grenze des Beaubourg, taghell erleuchtet. Auf dem weiten Platz die Maschinen von Tinguély und andere bunte Apparaturen, die im Wasser eines Beckens oder künstlichen Teiches schaukeln, träge‑tückisch mit Zahnrädern nickend, und im Hintergrund wieder das Röhrengerüst und die gähnenden Münder des Centre Beaubourg – wie eine verlassene Titanic vor einer efeuüberwucherten Mauer, gestrandet in einem Mondkrater. Wo einst die Kathedralen nicht weiterkamen, da wispern jetzt die großen transozeanischen Sprachrohre, im Kontakt mit den Schwarzen Jungfrauen. Entdecken kann sie nur, wer Saint‑Merri zu umschiffen weiß. Und darum muß ich jetzt weitermachen, ich habe eine Spur gefunden, ich bin dabei, eine ihrer Spuren freizulegen, im Zentrum der Lichterstadt das Komplott der Finsterlinge! Ich nehme die Rue des Juges Consules und stehe vor der Fassade von Saint‑Merri. Ich weiß nicht warum, aber irgend etwas drängt mich, die Taschenlampe anzuknipsen und auf das Portal zu richten. Flamboyante Gotik, verschlungene Bögen. Und plötzlich, während ich suche, was ich nicht zu finden erwarte, sehe ich ihn auf der Archivolte des Portals. Baphomet. Genau da, wo die beiden Halbbögen sich vereinigen. Auf dem ersten prangt eine Taube des Heiligen Geistes mit einem Nimbus aus steinernen Strahlen, auf dem zweiten aber, umlagert von betenden Engeln, hockt er, der Baphomet, mit seinen gewaltigen Flügeln. An der Fassade einer Kirche. Schamlos. Warum gerade hier? Weil wir nicht weit vom Tempel sind. Wo ist der Tempel, beziehungsweise das bisschen, was von ihm übrig geblieben ist? Ich kehre um, gehe zurück nach Nordosten und gelange zur Rue Montmorency. Die Nummer 51 ist das Haus von Nicolas Flamel. Zwischen dem Baphomet und dem Tempel. Der gewiefte Spagiriker wusste genau, auf wen es ankam. Mülleimer voller stinkendem Unrat vor einem Gebäude aus unbestimmter Zeit, Taverne Nicolas Flamel. Das Haus ist alt, sie haben es restauriert für die Touristen, für Diaboliker niedersten Ranges, Hyliker. Daneben eine American Bar mit einer Reklame für Apple‑Computer: Secouez‑vous les puces, Schüttelt euch die Flöhe ab – die Flöhe, sind das nicht die bugs, die Programmierfehler? Soft‑Hermes. Dir Temurah. Jetzt bin ich in der Rue du Temple, ich gehe sie hinauf und gelange zur Ecke der Rue de Bretagne, wo der Square du Temple liegt, ein kleiner Park, fahlweiß wie ein Friedhof, die Nekropole der geopferten Ritter. Die Rue de Bretagne hinunter bis zur Ecke Rue Vieille du Temple. Im unteren Teil der Rue Vieille du Temple, nach der Kreuzung mit der Rue Barbette, gibt es kuriose Läden für Lampen in ausgefallenen Formen: als Enten, als Efeublätter. Zu ostentativ modern. Die narren mich nicht. Rue des Francs‑Bourgeois: ich bin im Marais, den kenne ich, gleich kommen die koscheren Metzgereien, was haben die Juden mit den Templern zu tun, wo wir doch nun geklärt haben, dass ihr Platz im Großen Plan den Assassinen aus Alamut zukam? Warum sind sie hier? Suche ich nach einer Antwort? Nein, vielleicht will ich nur weg vom Conservatoire. Oder ich strebe undeutlich zu einem Ziel, ich weiß, dass es nicht hier sein kann, und versuche mich zu erinnern, wo es sein mag, wie Belbo, der im Traum nach einer verlorenen Adresse suchte. Ein obszöner Trupp kommt mir entgegen. Böse lachend okkupieren sie den Bürgersteig und zwingen mich, auf die Straße zu treten. Einen Moment lang denke ich, es sind Abgesandte des Alten vom Berge, die es auf mich abgesehen haben. Nein, sie verschwinden in der Nacht, aber sie redeten in einer fremden Sprache, irgendwie schiitisch zischelnd, oder talmudisch, koptisch wie eine Wüstenschlange. Androgyne Gestalten in langen Mänteln kommen daher. In rosenkreuzerischen Mänteln. Sie gehen vorbei, biegen ab in die Rue de Sévigné. Es ist tiefe Nacht mittlerweile. Ich bin aus dem Conservatoire geflohen, um die Stadt der Normalen wiederzufinden, und nun merke ich, dass die Stadt der Normalen wie eine Katakombe angelegt ist, mit besonderen Routen für die Initiierten. Ein Betrunkener. Vielleicht tut er nur so. Trau keinem nie. Ich komme an einer noch offenen Bar vorbei, die Kellner mit den knöchellangen Schürzen stellen gerade die Tische und Stühle zusammen. Ich trete rasch an den Tresen, sie geben mir noch ein Bier. Ich kippe es runter und bestelle ein zweites.»Ganz schön durstig, eh?«sagt einer von ihnen. Aber ohne Wärme, argwöhnisch. Klar habe ich Durst, seit fünf Uhr nachmittags habe ich nichts getrunken, aber man kann auch Durst haben, ohne die Nacht unter einem Pendel verbracht zu haben. Blöde Kerle. Ich zahle und gehe, ehe sie sich meine Züge einprägen können. Und plötzlich bin ich an der Ecke der Place des Vosges. Ich gehe unter den Arkaden entlang. Was war das noch gleich für ein alter Film, in dem die einsamen Schritte des irren Messerstechers Mathias nachts über die Place des Vosges hallten? Ich bleibe stehen. Höre ich Schritte hinter mir? Natürlich nicht, auch sie sind stehen geblieben. Ein paar Vitrinen würden genügen, um diese Arkaden in Säle des Conservatoire zu verwandeln. Niedrige Renaissance‑Decken, Rundbögen, Galerien für alte Stiche, Antiquitäten, Möbel. Place des Vosges, so geduckt mit den alten Portalen, rissig und abbröckelnd und leprös, hier gibt es Leute, die sich seit Jahrhunderten nicht fortbewegt haben. Leute mit gelben Kitteln. Ein Platz, wo nur Taxidermisten wohnen. Die gehen nur nachts aus. Die kennen den beweglichen Pflasterstein, den Schacht, durch den man in den Mundus Subterraneus eindringt. Vor aller Augen. L'Union de Recouvrement des Cotisations de sécurité sociale et d'allocations familiales de la Patellerie numéro 75, unité 1. Eine neue Tür, vielleicht leben hier reiche Leute, aber gleich daneben kommt eine alte Tür, abgeblättert wie ein Haus in der Via Sincero Renata, dann in Nummer 3 eine frisch renovierte Tür. Wechsel von Hylikern und Pneumatikern. Die Herren und ihre Knechte. Und hier ist mit Brettern zugenagelt, was einmal ein Torbogen gewesen sein muß. Klar, hier war ein okkultistischer Buchladen, der jetzt nicht mehr da ist. Ein ganzer Block ist evakuiert worden. Über Nacht ausgezogen. Wie Agliè. Jetzt wissen sie, dass jemand Bescheid weiß, sie fangen an, ihre Spuren zu verwischen. Ich bin am Eingang der Rue de Birague. Ich schaue zurück und sehe die Reihe der Arkaden, endlos, ohne eine lebende Seele, es wäre mir lieber, sie wäre dunkel, aber da ist das gelbe Licht der Laternen. Ich könnte laut schreien, und niemand würde mich hören. Lautlos hinter den geschlossenen Fenstern, aus denen kein Lichtstrahl dringt, würden die Taxidermisten grinsen in ihren gelben Kitteln. Doch nein, auf dem Pflaster vor den Arkaden stehen parkende Autos, und gelegentlich huscht ein Schatten vorbei. Was den Ort freilich nicht anheimelnder macht. Ein großer schwarzer Schäferhund läuft vor mir über die Straße. Ein schwarzer Hund allein in der Nacht? Und wo ist Faust? Vielleicht hat er den treuen Wagner losgeschickt, um mit dem Hund Gassi zu gehen. Wagner. Das war der Gedanke, der mir dunkel im Kopf herumging. Doktor Wagner, der ist's, den ich brauche. Er wird mir sagen können, ob ich deliriere, ob es Gespenster sind, die ich sehe. Er wird mir sagen können, dass nichts von alledem wahr ist, dass Belbo lebt und dass die Gruppe Tres nicht existiert. Welche Erleichterung, wenn ich krank wäre! Ich verlasse den Platz fast rennend. Ein Auto folgt mir. Nein, vielleicht sucht es nur einen Parkplatz. Ich stolpere über Müllsäcke aus Plastik. Das Auto hält und parkt ein. Es war nicht hinter mir her. Ich bin auf der Rue Saint‑Antoine, halte Ausschau nach einem Taxi. Da kommt eins, wie herbeibeschworen. »Sept, Avenue Elisée Reclus«, sage ich.
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Je voudrais être la tour, pendre à la Tour Eiffel. (Ich möchte der Turm sein, am Eiffelturm hängen.)
Blaise Cendrars
Ich wusste nicht, wo das war, und ich wagte nicht den Fahrer danach zu fragen, denn wer um diese Zeit ein Taxi nimmt, will entweder nach Hause oder ist mindestens ein Mörder. Im übrigen knurrte der Fahrer grimmig, das Zentrum sei immer noch ganz voll von diesen Studenten, überall parkende Busse, eine Sauerei sei das, wenn's nach ihm ginge, gehörten sie alle an die Wand gestellt, auf jeden Fall sei es besser, im großen Bogen außen herum zu fahren. Er hatte Paris praktisch ganz umkreist, als er mich schließlich vor dem Haus Nummer sieben in einer einsamen Straße absetzte. Es gab keinen Doktor Wagner in Nummer sieben. Dann war's vielleicht die Nummer siebzehn? Oder siebenundzwanzig? Ich machte zwei, drei Versuche, dann überlegte ich: Selbst wenn ich das richtige Haus gefunden hätte, wollte ich etwa wirklich um diese Zeit den Doktor Wagner aus dem Bett klingeln, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Ich war aus demselben Grund hier gelandet, aus dem ich von der Porte Saint‑Martin bis zur Place des Vosges geirrt war. Ich war auf der Flucht. Und jetzt war ich von dem Ort geflohen, zu dem ich auf der Flucht aus dem Conservatoire geflohen war. Ich brauchte keinen Psychoanalytiker, ich brauchte eine Zwangsjacke. Oder eine Schlafkur. Oder Lia. Daß sie meinen Kopf hielte, ihn fest zwischen ihre Brust und ihre Achsel drückte und leise sagte, ich solle ruhig sein. Hatte ich überhaupt zu Doktor Wagner gewollt, oder war das, was ich suchte, nicht eher die Avenue Elisée Reclus gewesen? Denn jetzt erinnerte ich mich: auf den Namen war ich im Zuge meiner Lektüre für den Großen Plan gestoßen, es war jemand, der im vorigen Jahrhundert ich weiß nicht mehr welches Buch über die Erde geschrieben hatte, über den Untergrund und die Vulkane, jemand, der unter dem Vorwand, wissenschaftliche Geografie zu betreiben, die Nase in den Mundus Subterraneus gesteckt hatte. Einer von ihnen also. Ich war auf der Flucht vor ihnen und fand mich doch ständig von ihnen umgeben. Stück für Stück hatten sie im Laufe von wenigen hundert Jahren ganz Paris besetzt. Und den Rest der Welt. Ich musste zurück ins Hotel. Würde ich hier noch ein Taxi finden? Womöglich war ich jetzt irgendwo draußen in der Banlieue. Ich ging in die Richtung, in der ich den Nachthimmel etwas heller und offener sah. Die Seine? Und da, als ich an die Ecke kam, sah ich ihn. Links von mir. Ich hätte mir denken können, dass er da war, dass er da irgendwo in der Nähe lauerte, in dieser Stadt enthalten die Straßennamen unverkennbare Botschaften, man wird immer vorgewarnt, mein Pech, dass ich nicht darauf geachtet hatte. Da stand er, der metallene Riesenmenhir auf den Beinen einer grässlichen eisernen Spinne, das Symbol und Instrument ihrer Macht! Ich hätte fliehen sollen, statt dessen zog es mich zu dem Gitternetz hin, ich hob und senkte den Kopf, denn aus dieser Nähe konnte ich das Monster nicht mehr mit einem einzigen Blick erfassen, ich war praktisch innen drin, zersäbelt von seinen tausend scharfen Kanten, ich fühlte mich bombardiert von Drahtnetzen, die allseits herunterfielen, hätte das Riesentier sich nur ein kleines bisschen bewegt, es hätte mich zerquetschen können mit einer seiner Meccano‑Pranken. Der Eiffelturm. Ich war an dem einzigen Punkt der Stadt, an dem man ihn nicht von weitem sieht, im Profil, wie er sich freundlich über das Meer der Dächer erhebt, leicht wie auf einem Bild von Dufy. Er ragte direkt vor mir auf, er schwebte über mir. Ich erahnte seine Spitze, aber nachdem ich ihn einmal umkreist hatte, trat ich unter ihn, zwischen die Beine, und sah die Strumpfbänder, den Bauch, die Genitalien, erahnte die verschlungenen Gedärme, die sich schwindelerregend nach oben mit der Speiseröhre vereinten in seinem polytechnischen Giraffenhals. Perforiert wie er war, hatte er die Macht, das Licht ringsum zu verdunkeln, und je nachdem, wie ich mich bewegte, bot er mir in verschiedenen Perspektiven verschiedene Rautenformen als Rahmen für Zooms in die Dunkelheit. Rechts war jetzt im Nordosten, noch niedrig über dem Horizont, eine Mondsichel aufgegangen. Manchmal rahmte der Turm sie mir ein, so dass sie aussah wie eine optische Täuschung, ein fluoreszierender Lichtreflex auf einem der rautenförmigen Bildschirme, die sein Gitterwerk bildete, aber ich brauchte bloß einen Schritt zu tun, schon änderte sich die Form der Bildschirme und die Mondsichel war nicht mehr da, hatte sich irgendwo zwischen den metallenen Rippen verfangen, das Tier hatte sie verschluckt, verdaut, in einer anderen Dimension aufgehen lassen. Tesserakt. Vierdimensionaler Kubus. Jetzt sah ich durch einen Bogen ein blinkendes Licht, nein zwei, ein rotes und ein weißes, sicher ein Flugzeug auf dem Weg nach Roissy oder Orly, was weiß ich. Aber gleich darauf – hatte ich mich bewegt, oder das Flugzeug, oder der Turm? – waren die Lichter hinter einer Rippe verschwunden, ich wartete, um sie im nächsten Rahmen wieder auftauchen zu sehen, und sie blieben verschwunden. Der Turm hatte hundert Fenster, die alle beweglich waren, und jedes ging auf ein anderes Segment der Raum‑Zeit. Seine Rippen formten keine euklidischen Kurven, sie zerrissen das Gewebe des Kosmos, verkehrten Katastrophen, blätterten Seiten paralleler Welten um. Wer hatte gesagt, dass diese Nadel‑Fiale von Notre‑Dame de la Brocante dazu diene, Paris am Plafond des Universums aufzuhängen, »suspendre Paris au plafond de l'univers«? Im Gegenteil, der Eiffelturm lässt das Universum an seiner Spitze schweben – natürlich, schließlich ist er das Gegenstück zum Pendel! Wie hatte man ihn genannt? Einsames Suppositorium, hohler Obelisk, Triumph des Eisendrahtes, Apotheose des Pfeilers, luftiger Götzenaltar, Biene im Herzen der Windrose, trist wie eine Ruine, hässlicher nachtfarbener Koloss, missgestaltes Symbol einer nutzlosen Kraft, absurdes Wunder, sinnlose Pyramide, Gitarre, Tintenfass, Teleskop, langatmig wie eine Ministerrede, antiker Gott und moderne Bestie... Dies alles und andres war er, und wenn ich den sechsten Sinn der Herren der Welt gehabt hätte, so hätte ich, nun, da ich eingebunden war in seine polypenverkrusteten Stimmbänder, ihn heiser die Sphärenmusik wispern hören, der Turm war in diesem Moment dabei, Wellen aus der hohlen Erde zu saugen und sie an alle Menhire der Welt auszusenden. Rhizom vernagelter Gelenke, zervikale Arthrose, Prothese einer Prothese – was für ein Horror, von da, wo ich war, hätten sie, um mich in den Abgrund zu schmettern, mich zur Spitze hinaufschleudern müssen. Sicher kam ich gerade von einer Reise durchs Zentrum der Erde zurück, ich schwankte noch im antigravitationalen Taumel der Antipoden. Nein, wir hatten nicht fantasiert, der Turm erschien mir jetzt als der unheimliche Beweis für die Wahrheit des Großen Plans, aber bald würde er merken, dass ich der Spion war, der Feind, das Sandkorn in dem Getriebe, dessen Abbild und Motor er war, und dann würde er unmerklich eine Raute seiner bleiernen Klöppelspitzen nach unten verlängern und mich aufschlucken, ich würde in einer Falte seines Nichts verschwinden wie vorhin das Flugzeug, transferiert in ein Anderswo. Wäre ich nur noch ein wenig länger da unter seiner durchbrochenen Wölbung geblieben, seine großen Krallen hätten sich zusammengezogen, hätten sich wie Klauen um mich gebogen und mich zermalmt, und dann hätte das Tier wieder seine übliche tückische Position eingenommen: als ein mörderischer und sinistrer Bleistiftanspitzer. Noch ein Flugzeug. Diesmal kam es von nirgendwoher, der Turm hatte es zwischen seinen fleischlosen mastodontischen Wirbeln erzeugt. Ich betrachtete ihn, er nahm kein Ende, wie das Projekt, für das er geboren war. Wenn ich geblieben wäre, ohne verschlungen zu werden, hätte ich seine Veränderungen verfolgen können, seine langsamen Umdrehungen, seine infinitesimalen De‑und Rekompositionen unter dem kalten Anhauch der Strömungen, vielleicht verstanden die Herren der Welt ihn als eine geomantische Zeichnung zu deuten, in seinen unmerklichen Metamorphosen hätten sie eindeutige Signale gelesen, unnennbare Aufträge. Der Turm drehte sich über mir wie ein Schraubenzieher des Mystischen Pols. Oder nein, er stand unbeweglich da wie ein magnetisierter Zapfen und ließ das Himmelsgewölbe um sich rotieren. Das Schwindelgefühl war dasselbe. Wie gut der Turm sich zu tarnen weiß, sagte ich mir: Aus der Ferne winkt er dir freundlich zu, aber wenn du dich ihm näherst und in sein Geheimnis einzudringen versuchst, tötet er dich, er lässt deine Knochen gefrieren, einfach indem er den sinnlosen Horror vorzeigt, aus dem er gemacht ist. Jetzt weiß ich, dass Belbo tot ist und dass der Große Plan wahr ist, denn wirklich und wahr ist der Turm. Wenn es mir nicht gelingt zu fliehen, noch einmal zu fliehen, kann ich es niemandem sagen. Ich muß Alarm schlagen! Motorengeräusch. Halt, zurück in die Realität. Ein Taxi, es kam sehr rasch näher. Mit einem Sprung gelang es mir, mich aus dem magischen Kreis zu retten, ich winkte mit beiden Armen, fast wäre ich unter die Räder gekommen, weil der Fahrer erst im letzten Augenblick bremste, als ob er es ungern täte... Unterwegs gestand er mir dann, dass auch ihm, wenn er nachts vorbeikomme, der Turm angst mache, und dann gebe er Gas.»Warum?«fragte ich. »Parce que... parce que ça fait peur, c’est tout. (Weil... das macht angst, das ist alles.) Kurz darauf war ich am Hotel, aber ich musste lange klingeln, bis mir ein schläfriger Nachtportier aufmachte. Jetzt erst mal schlafen, sagte ich mir. Alles weitere morgen. Ich nahm ein paar Tabletten, genug, um mich zu vergiften. Dann erinnere ich mich an nichts mehr.
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Die Narrheit hat ein großes Zelt; Es lagert bei ihr alle Welt, Zumal wer Macht hat und viel Geld. Sebastian Brant, Das Narrenschiff, 46
Um zwei Uhr nachmittags wachte ich auf, benommen und steif. Ich erinnerte mich genau an alles, aber nichts sagte mir, ob das, was ich in Erinnerung hatte, wirklich geschehen war. Im ersten Moment wollte ich hinunterlaufen, um nur Zeitungen zu holen, aber dann sagte ich mir, dass in jedem Fall, selbst wenn eine Kompanie von Spahis gleich nach dem Geschehen das Conservatoire gestürmt hätte, die Meldung nicht mehr rechtzeitig für die Morgenblätter gekommen wäre. Date: 2015-12-13; view: 364; Нарушение авторских прав |