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Tifereth 21 page





Außerdem hatte Paris an diesem Tag anderes im Kopf. Der Portier sagte es mir sofort, als ich zum Kaffeetrinken herunterkam. Die Stadt sei in Aufruhr, viele Metrostationen seien geschlossen, an einigen Stellen habe die Polizei gewaltsam gegen die Menge vorgehen müssen, die Studenten seien zu viele und manche gingen zu weit.

Im Telefonbuch fand ich die Nummer von Doktor Wagner. Ich probierte sie, aber natürlich war er am Sonntag nicht in seiner Praxis. Ich musste sowieso erst ins Conservatoire, um mich zu vergewissern, und Sonntag nachmittags war es ja offen.

Das Quartier Latin brodelte. Lärmende Gruppen mit Fahnen zogen vorbei. Auf der Ile de la Cité war eine Polizeisperre. In der Ferne hörte man Schüsse. So ähnlich musste es Achtundsechzig gewesen sein. In Höhe der Sainte Chapelle hatte es Zoff gegeben, es roch nach Tränengas. Ich hörte Geschrei und Getrappel, es klang wie ein Angriff, ich wusste nicht, ob es Studenten waren oder die Flics, die Leute um mich herum fingen an zu rennen, wir flüchteten uns hinter eine Absperrung mit einem Polizeikordon davor, während es auf der Straße zu Handgreiflichkeiten kam. Was für eine Schande: da war ich nun unter den bejahrten Bourgeois, die abwarteten, dass die Revolution sich legte!

Dann war der Weg frei, ich ging durch Nebenstraßen im alten Hallenviertel, bis ich wieder zur Rue Saint‑Martin gelangte. Das Conservatoire war geöffnet, friedlich stand es da mit seinem kleinen weißen Vorhof, an der Fassade die Plakette:»Le Conservatoire des Arts et Métiers, institué par décret de la Convention du 19 Vendémiaire An III... dans le bâtiment de l’ancien prieuré de Saint‑Martin‑des‑Champs fondé au 11ème siècle.«Alles normal, mit einer kleinen sonntäglichen Menge, die sich im Eingang drängte, unbeeindruckt von der studentischen Kirmes.

Ich trat ein – sonntags gratis –, und alles war wie am Nachmittag zuvor. Die Wärter, die Besucher, das Pendel an seinem gewohnten Ort... Ich suchte nach Spuren dessen, was geschehen war, aber wenn es geschehen war, hatte jemand gewissenhaft sauber gemacht. Wenn es geschehen war.

Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Nachmittags verbrachte. Ich weiß nicht mal mehr, was ich sah, als ich durch die Straßen irrte, immer wieder gezwungen, in Seitengassen abzubiegen, um Tumulten auszuweichen. Ich rief in Mailand an, nur um nichts unversucht zu lassen, wählte beschwörend, wie um das Unheil zu bannen, erst Belbos Nummer, dann die von Lorenza. Dann die des Verlags, wo um diese Zeit niemand sein konnte.

Und dabei, wenn jetzt noch heute ist, war das alles erst gestern gewesen. Aber von vorgestern Abend bis heute Nacht ist eine Ewigkeit vergangen.

Gegen Abend merkte ich, dass ich Hunger hatte. Ich wollte Ruhe, nur Ruhe und ein bisschen Komfort. Am Forum des Halles fand ich ein Restaurant, das mir Fisch versprach. Es bot dann sogar zu viel davon. Mein Tisch stand genau vor einem Aquarium. Eine hinreichend irreale Welt, um mich erneut in ein Klima des absoluten Argwohns zu stürzen. Nichts ist zufällig. Der Fisch da sieht aus wie ein asthmatischer Hesychast, der den Glauben verliert und Gott anklagt, den Sinn des Universums verringert zu haben. Oh, Herre Zebaoth, Zebaoth, wie kannst du nur so gemein sein, mich glauben zu machen, dass du nicht existierst? Wie ein Krebsgeschwür breitet das Fleisch sich über die Welt... Und jener andere Fisch da, der sieht aus wie Minnie, er klappert mit langen Wimpern und zieht eine herzförmige Schnute. Min‑nie ist die Verlobte von Mickymaus. Ich esse salade folle mit einer Scholle so zart wie Babyfleisch. Mit Honig und Pfeffer. Die Paulizianer sind unter uns. Der Fisch dort gleitet durch die Korallen wie das Flugzeug von Breguet – lange Flügelschläge wie ein Lepidopterus, hundert zu eins, dass er seinen Homunkulus‑Fötus verlassen am Grund eines gläsernen Kolbens erspäht hat, in einem Athanor, der nun zerbrochen im Müll vor dem Haus von Nicolas Flamel liegt. Und dort drüben ein Templerfisch, ganz in Schwarz gepanzert, auf der Suche nach Noffo Dei. Er streift den asthmatischen Hesychasten, der gedankenverloren und grimmig dem Unsagbaren entgegenschwimmt. Ich wende den Blick ab, sehe durchs Fenster, und auf der anderen Straßenseite fällt mir das Schild eines anderen Restaurants ins Auge, CHEZ R... Rose‑Croix? Reuchlin? Rosispergius? Ratschkowskiragotzitzarogi? Signaturen, Signaturen...


Überlegen wir mal. Die einzige Art, den Teufel in Verlegenheit zu bringen, ist bekanntlich, ihn glauben zu machen, dass man nicht an ihn glaubt. An meiner nächtlichen Flucht durch Paris war überhaupt nichts Ungewöhnliches, auch nicht an meiner Vision des Eiffelturms. Aus dem Conservatoire zu kommen, nach allem, was ich dort gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, und die Stadt als einen einzigen Albtraum zu erleben, war normal. Aber was hatte ich im Conservatoire gesehen?

Ich musste unbedingt mit Doktor Wagner sprechen. Keine Ahnung, wieso ich mir in den Kopf gesetzt hatte, dies werde das Allheilmittel sein, aber so war es. Sprechtherapie.

Wie habe ich den restlichen Abend verbracht? Ich glaube, ich bin in ein Kino gegangen, wo The Lady From Shanghai von Orson Welles gezeigt wurde. Als die Szene mit den Spiegeln kam, habe ich's nicht mehr ausgehalten und bin gegangen. Aber vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht habe ich das nur geträumt.

Heute morgen um neun habe ich dann bei Doktor Wagner angerufen. Der Name Garamond half mir, die Barriere der Sekretärin zu überwinden, der Doktor schien sich an mich zu erinnern, und angesichts der Dringlichkeit meines Falles, die ich ihm zu verstehen gab, sagte er, ich solle gleich kommen, um halb zehn, vor den anderen Patienten. Er klang freundlich und verständnisvoll.

Habe ich auch den Besuch bei Doktor Wagner nur geträumt? Die Sekretärin ließ sich meine Personalien geben, legte eine Karteikarte an und kassierte das Honorar. Zum Glück hatte ich das Ticket für den Rückflug schon in der Tasche.

Ein Sprechzimmer in bescheidenen Dimensionen, ohne Couch. Fenster zur Seine, links die Silhouette des Eiffelturms. Doktor Wagner empfing mich mit professioneller Liebenswürdigkeit – recht so, dachte ich, schließlich war ich jetzt nicht einer seiner Lektoren, sondern ein Patient. Mit einer weitausholenden Geste ließ er mich vor seinem Schreibtisch Platz nehmen, wie ein Chef, der einen Angestellten empfängt.»Et alors?«sagte er, gab seinem Drehsessel einen Stoß und kehrte mir den Rücken zu. Den Kopf hielt er gebeugt und die Hände, wie mir schien, gefaltet. Mir blieb nichts anderes mehr, als zu sprechen.

Und ich sprach, ich redete wie ein Wasserfall, ich holte alles hervor, von Anfang bis Ende – was ich vor zwei Jahren gedacht hatte, was ich letztes Jahr dachte, was ich dachte, dass Belbo gedacht hätte, und Diotallevi. Vor allem aber, was in der Johannisnacht passiert war.

Wagner unterbrach mich kein einziges Mal, nickte nie, gab weder Zustimmung noch Missbilligung zu erkennen. So wie er dasaß, hätte er in tiefen Schlaf gesunken sein können. Aber das musste seine Technik sein. Und ich sprach und sprach. Sprechtherapie.

Dann wartete ich, dass er sprach, wartete auf sein erlösendes Wort.

Wagner stand auf, sehr langsam. Ging, ohne mich anzusehen, um den Schreibtisch herum und trat ans Fenster. Blieb dort stehen und sah hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt, gedankenverloren.


Schweigend, zehn, fünfzehn Minuten lang.

Dann, ohne sich umzudrehen, in einem neutralen, gelassenen, beruhigenden Ton:» Monsieur, vous êtes fou. (Mein Herr, sie sind verrückt).«

Er blieb reglos, ich ebenfalls. Nach weiteren fünf Minuten begriff ich, dass nichts mehr kommen würde. Ende der Sitzung.

Ich ging grußlos hinaus. Die Sekretärin schenkte mir ein breites Lächeln, dann stand ich wieder auf der Avenue Elisée Reclus.

Es war elf. Ich holte meine Sachen aus dem Hotel und fuhr zum Flughafen raus, auf gut Glück. Ich musste zwei Stunden warten, und währenddessen rief ich im Verlag an, mit R‑Gespräch, weil ich kein Geld mehr hatte. Gudrun war am Apparat, sie schien noch begriffsstutziger als gewöhnlich, ich musste ihr dreimal laut zurufen, sie solle ja sagen, oui, yes, sie nehme das Gespräch an.

Sie schluchzte: Diotallevi war am Samstag um Mitternacht gestorben.

»Und keiner, keiner von seinen Freunden war heute morgen bei der Beerdigung, so eine Schande! Nicht mal der Signor Garamond, er ist angeblich auf einer Auslandsreise. Nur ich, die Grazia, Luciano und ein Herr ganz in Schwarz, mit Bart und gelockten Koteletten und einem großem Hut, sah aus wie ein Totengräber. Gott weiß, wo der herkam. Aber wo stecken Sie denn, Casaubon? Und wo ist Belbo? Was ist passiert?«

Ich murmelte ein paar wirre Entschuldigungen und hängte ein. Mein Flug wurde aufgerufen, ich musste an Bord.

 

 

Jessod

 

 

 

 

118

 

 

The conspiracy theory of society... comes from abandoning God and then asking:»Who is in his place?«

(Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft... kommt aus der Abkehr von Gott und der daraus resultierenden Frage:»Wer ist an seine Stelle getreten?«)

 

Karl Popper, Conjectures and Refutations, 4, London, Routledge, 1969, p.

 

Der Flug tat mir gut. Ich hatte nicht nur Paris verlassen, sondern auch den Untergrund, ja den festen Grund und Boden, die Erdkruste. Himmel und Berge waren noch weiß von Schnee. Die Einsamkeit in zehntausend Metern Höhe, und dieses Gefühl der Trunkenheit, das man beim Fliegen immer hat, der Überdruck, die Durchquerung einer leichten Turbulenz. Nur hier oben, dachte ich, bekam ich endlich wieder Boden unter die Füße. Und so beschloss ich, Klarheit zu gewinnen, erst indem ich mir Fakten notierte, dann indem ich die Augen schloss und meinen Gedanken freien Lauf ließ.

Zunächst einmal galt es, eine Liste der unbestreitbaren Tatsachen aufzustellen.

Erstens: Diotallevi ist tot, das steht zweifelsfrei fest. Gudrun hat es mir gesagt. Gudrun ist in unserer Geschichte immer draußen geblieben, sie hätte nichts davon verstanden, und folglich ist sie die einzige, die noch die Wahrheit sagt. Weiter steht fest, dass Garamond nicht in Mailand war. Sicher, er könnte überall sein, aber die Tatsache, dass er nicht dort ist und in den letzten Tagen nicht dort war, erlaubt die Annahme, dass er in Paris war, wo ich ihn gesehen habe.


Desgleichen ist Belbo nicht da.

Nun, versuchen wir einmal anzunehmen, was ich am Samstag Abend in Saint‑Martin‑des‑Champs gesehen habe, ist wirklich geschehen. Vielleicht nicht so, wie ich es wahrgenommen habe, benebelt von der Musik und dem Weihrauch, aber irgendwas ist da geschehen. So ähnlich wie damals die Geschichte mit Amparo: Als sie an jenem Abend in Rio nach Hause kam, war sie keineswegs sicher, von der Pomba Gira ergriffen worden zu sein, aber sie war sicher, in dem Umbanda‑Tempel gewesen zu sein und geglaubt zu haben, dass – oder sich so verhalten zu haben, als ob – die Göttin in sie gefahren wäre.

Richtig war schließlich auch, was mir Lia in den Bergen gesagt hatte, ihre Lesart war absolut überzeugend, die Botschaft aus Provins war eine harmlose Wäscheliste. Es hat nie Templerversammlungen in der Grange‑aux‑Dimes gegeben. Es hat keinen Großen Plan und keine Botschaft gegeben.

Für uns war die Wäscheliste ein Kreuzworträtsel gewesen, in dem die Kästchen noch leer waren und die Wortdefinitionen fehlten. Also mussten die Kästchen so ausgefüllt werden, dass alles zusammenpasste. Aber vielleicht ist das Beispiel ungenau. Im Kreuzworträtsel überkreuzen sich Wörter, und sie müssen sich dort überkreuzen, wo sie gemeinsame Buchstaben haben. In unserem Spiel überkreuzten sich keine Wörter, sondern Begriffe und Fakten, und folglich mussten die Regeln andere sein, und letztlich waren es drei.

Erste Regel: Die Begriffe verbinden sich per Analogie. Es gibt keine Regel, die auf Anhieb zu entscheiden erlaubt, ob eine Analogie gut oder schlecht ist, denn jedes Ding ähnelt jedem anderen unter einem bestimmten Aspekt. Beispiel: Kartoffel überkreuzt sich mit Apfel, da beides essbare Gewächse sind und beide außerdem rund. Von Apfel kommt man durch biblische Assoziation zu Schlange. Von Schlange durch formale Ähnlichkeit zu Kringel, von Kringel weiter zu Rettungsring, von da zu Badeanzug, vom Baden zum Meer, vom Meer zum Schiff, vom Schiff zum Shit, vom Shit zur Droge, von der Droge zur Spritze, von der Spritze zum Loch, vom Loch zum Boden, vom Boden zum Acker, vom Acker zur Kartoffel.

Perfekt. Denn die zweite Regel heißt: Wenn der Kreis sich am Ende schließt und tout se tient, ist das Spiel gültig. Von Kartoffel zu Kartoffel schließt sich der Kreis. Also ist die Kette richtig.

Dritte Regel: Die Verknüpfungen dürfen nicht zu originell sein, sie müssen schon mindestens einmal irgendwo gemacht worden sein, besser noch öfter, von anderen. Nur so erscheinen die Kreuzungen wahr, weil selbstverständlich.

Was ja übrigens die Idee von Signor Garamond war: Die Bücher der Diaboliker dürfen nichts Neues sagen, sie müssen das schon Gesagte immerzu wiederholen, was würde sonst aus der Kraft der Überlieferung?

So hatten wir's gemacht. Wir hatten nichts erfunden, nur die Teile neu arrangiert. So hatte es auch Ardenti gemacht, auch er hatte nichts erfunden, aber sein Arrangement der Teile war schlechter als unseres gewesen, und außerdem war er nicht so gebildet wie wir, er hatte nicht alle Teile beisammen gehabt.

Sie hatten alle Teile beisammen, aber ihnen fehlte der Plan des Kreuzworträtsels, und so waren wir auch hier wieder die Besseren.

Mir fiel ein Satz von Lia ein, den sie mir in den Bergen gesagt hatte, als sie mir vorwarf, wir hätten ein hässliches Spiel gespielt:»Die Leute gieren nach Plänen, wenn du ihnen einen anbietest, stürzen sie sich drauf wie eine Meute von Wölfen. Du erfindest was, und sie glauben es. Man muß nicht noch mehr Fantasien wecken, als es schon gibt.«

Im Grunde läuft es immer so. Ein junger Herostrat verzehrt sich, weil er nicht weiß, wie er berühmt werden soll. Dann sieht er einen Film, in dem ein schüchterner Junge auf die gefeierte Country‑Music‑Diva schießt und das Ereignis des Tages wird. Er hat die Formel gefunden, er geht hin und erschießt John Lennon.

Es ist das gleiche wie mit den AEKs. Wie mache ich's, ein berühmter Dichter zu werden, der in die Lexika kommt? Ganz einfach, erklärt Signor Garamond, bezahlen Sie dafür! Der AEK hatte nie vorher daran gedacht, aber da es den Plan von Manuzio nun einmal gibt, identifiziert er sich damit. Der AEK ist überzeugt, sein Leben lang auf Manuzio gewartet zu haben, nur wusste er nicht, dass es Manuzio gab.

Konsequenz? Wir hatten einen nicht‑existenten Plan erfunden, und sie hatten ihn nicht nur für wahr und real gehalten, sondern sich auch eingeredet, selber schon lange Teil dieses Planes gewesen zu sein, beziehungsweise sie hatten die Fragmente ihrer krausen Vorstellungen und konfusen Projekte als Teile unseres Plans identifiziert, zusammengefügt nach einer unwiderleglichen Logik der Analogie, der Ähnlichkeit und des Verdachts.

Aber wenn man einen Plan erfindet, und die anderen führen ihn aus, dann ist es, als ob der Plan existierte. Beziehungsweise dann existiert er wirklich.

Von nun an werden Scharen von Diabolikern durch die Welt ziehen, um die Karte zu finden.

Wir boten unsere Karte Leuten an, die gegen eine tiefe Frustration ankämpfen. Was für eine Frustration? Das hatte mir Belbos letzter file angedeutet: Es gäbe kein Scheitern, wenn da wirklich ein Großer Plan wäre. Niederlagen ja, aber nicht aus eigener Schuld. Einem kosmischen Komplott zu unterliegen ist keine Schande. Du bist kein Feigling, du bist ein Märtyrer.

Beklage dich nicht, dass du sterblich bist, eine Beute unzähliger Mikroorganismen, die du nicht beherrschst. Du bist nicht verantwortlich für deine schlecht greifenden Füße, für den Verlust des Schwanzes, für die Haare und Zähne, die dir nicht nachwachsen, für die Neuronen, die du rings um dich her verstreust, für die Arterien, die in dir verkalken. Verantwortlich sind die Neidischen Engel.

Dasselbe gilt für das Alltagsleben. Und für die Börsenkräche. Sie kommen zustande, weil jeder eine falsche Bewegung macht, bis alle falschen Bewegungen zusammen eine Panik erzeugen. Dann fragt sich jeder, der keine starken Nerven hat: Wer steckt hinter diesem Komplott, und wem nützt es? Und wehe, du findest dann keinen Feind, dem du das Komplott in die Schuhe schieben kannst, du würdest dich selber schuldig fühlen. Oder, da du dich selber ja schuldig fühlst, du erfindest einfach ein Komplott, oder besser noch viele. Und um die Komplotte der andern zu durchkreuzen, musst du dein eigenes organisieren.

Und je mehr du dir fremde Komplotte ausdenkst, um deine eigene Verständnislosigkeit zu rechtfertigen, desto mehr verliebst du dich in deine Fantasien und entwirfst dein eigenes Komplott nach ihrem Muster. Genau das war geschehen, als Jesuiten und Baconianer, Paulizianer und Neutempler einander jeder den Plan des andern zuschrieben und um die Ohren schlugen. Damals hatte Diotallevi bemerkt:»Klar, du unterschiebst den anderen, was du selber tust, und da du etwas Hässliches tust, beginnst du die anderen zu hassen. Aber da die anderen in der Regel genau das Hässliche, das du gerade tust, gerne täten, kollaborieren sie mit dir, indem sie dich glauben machen, was du ihnen unterschiebst, sei in Wirklichkeit das, was sie sich schon immer gewünscht hatten. Gott blendet, wen er verderben will, man muß Ihm nur dabei helfen.«

Ein Komplott muß, wenn es denn eines sein soll, geheim sein. Es muß ein Geheimnis geben, dessen Kenntnis, hätten wir sie, uns entfrustrieren würde, denn entweder wäre es das Geheimnis, das uns zum Heil führt, oder die Kenntnis des Geheimnisses wäre mit dem Heil identisch. Gibt es ein so leuchtendes Geheimnis?

Gewiss, vorausgesetzt, es wird nie enthüllt. Einmal enthüllt, würde es uns nur enttäuschen. Hatte Agliè mir nicht von der Begierde nach Mysterien erzählt, die das erste Jahrhundert nach Christus durchzog, die Epoche der Antonine? Obwohl doch gerade erst einer erschienen war, der sich als Gottes Sohn bezeichnet hatte, als Gottes Sohn, der Fleisch geworden sei, um die Welt von ihren Sünden zu erlösen. War das vielleicht ein Dreigroschengeheimnis? Und er versprach das Heil allen, man brauchte bloß seinen Nächsten zu lieben. War das ein Geheimnis für Habenichtse? Und er hinterließ als Vermächtnis, dass jeder, der zur rechten Zeit die richtigen Worte sprach, ein Stückchen Brot und einen Krug Wein in das Fleisch und das Blut des Gottessohnes verwandeln und sich daran nähren konnte. War das ein Rätsel zum Wegwerfen? Und er brachte die Kirchenväter dazu, erst zu erwägen und dann zu erklären, dass Gott einer und drei sei und dass der Geist vom Vater und vom Sohne ausgehe, nicht aber der Sohn vom Vater und vom Geist. War das eine Formel für Hyliker? Und doch blieben jene, die nun das Heil in Reichweite hatten – do it yourself –, taub und verstockt. Das sollte die ganze Enthüllung, die ganze Offenbarung sein? Wie banal! Und so suchten sie hysterisch weiter im ganzen Mittelmeerraum nach einem anderen verlorenen Wissen, einem, für das diese Dreißig‑Silberling‑Dogmen nur die oberflächlichen Schleier waren, das Gleichnis für die Armen im Geiste, die Hieroglyphe, das Augenzwinkern zu den Pneumatikern. Mysterium der Trinität? Zu einfach, dahinter muß noch was anderes stecken!

Jemand, vielleicht war es Rubinstein, sagte einmal, als er gefragt wurde, ob er an Gott glaube:»O nein, ich glaube... an etwas viel Größeres...«Aber ein anderer (war es Chesterton?) sagte:»Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles.«

Aber alles ist kein größeres Geheimnis. Es gibt überhaupt keine»größeren Geheimnisse«, denn kaum sind sie aufgedeckt, erscheinen sie klein. Es gibt nur ein leeres Geheimnis. Ein Geheimnis, das einem ständig wegrutscht. Das Geheimnis der Orchidee ist, dass ihr Name Hoden bedeutet und sie auf die Hoden einwirkt, aber die Hoden bedeuten ein Tierkreiszeichen und dieses eine Hierarchie der Engel und diese eine Tonleiter und diese ein Verhältnis zwischen den Säften und so weiter. Initiation heißt lernen, nie innezuhalten, man pellt das Universum wie eine Zwiebel, und eine Zwiebel ist nichts anderes als Pelle, denken wir uns eine endlose Zwiebel, die ihr Zentrum überall hat und ihre Außenhaut nirgends, Initiation ist endlos wie ein Möbiussches Band.

Der wahre Initiierte ist der, der weiß, dass das mächtigste Geheimnis ein Geheimnis ohne Inhalt ist, denn kein Feind kann ihn zwingen, es zu enthüllen, und kein Gläubiger kann es ihm wegnehmen.

Allmählich erschien mir die Dynamik des nächtlichen Rituals vor dem Pendel logischer und konsequenter. Jacopo Belbo hatte behauptet, ein Geheimnis zu besitzen, und deshalb hatte er Macht über sie gewonnen. Daraufhin war ihr erster Impuls – selbst bei einem so erfahrenen Mann wie Agliè, der sofort die Trommel gerührt hatte, um sie alle zusammenzurufen –, es ihm zu entreißen. Und je mehr Belbo sich weigerte, es zu enthüllen, desto mehr glaubten sie, es müsse ein großes Geheimnis sein, und je mehr er schwor, es nicht zu besitzen, desto mehr waren sie überzeugt, dass er es besitze und dass es ein echtes Geheimnis sei, denn wenn es ein falsches gewesen wäre, hätte er es enthüllt.

Jahrhundertelang war die Suche nach diesem Geheimnis das Band gewesen, das sie alle zusammengehalten hatte, trotz aller gegenseitigem Exkommunikationen, internen Machtkämpfe und Putsche. Nun waren sie kurz davor, es zu erfahren. Und da überfielen sie zwei Ängste: dass die Enthüllung des Geheimnisses sie enttäuschen könnte und dass es – wenn es einmal enthüllt war – kein Geheimnis mehr sein würde. Das wäre ihr Ende gewesen.

An diesem Punkt hatte Agliè begriffen: wenn Belbo reden würde, würden es alle hören, und er, Agliè, würde die Aura verlieren, die ihm sein Charisma und seine Macht verlieh. Wenn aber Belbo sich nur ihm allein anvertrauen würde, dann würde Agliè weiterhin Saint‑Germain bleiben können, der Unsterbliche – der Aufschub seines Todes fiel zusammen mit dem Aufschub der Enthüllung des Geheimnisses. Also versuchte er Belbo zu überreden, ihm das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, und als er begriff, dass es sinnlos war, provozierte er ihn, indem er seine Kapitulation voraussagte, aber mehr noch, indem er ihm eine melodramatische Szene vorspielte. Oh, er kannte ihn gut, der alte Graf, er wusste, dass bei Leuten vom Schlage Belbos die Dickköpfigkeit und der Sinn für das Lächerliche sogar die Angst besiegen. Er zwang Belbo, einen schärferen Ton anzuschlagen und endgültig nein zu sagen.

Und aus derselben Angst zogen es die anderen vor, Belbo zu töten. Zwar verloren sie damit die Aussicht auf die gesuchte Karte – sie hatten ja noch Jahrhunderte Zeit, nach ihr zu suchen –, aber sie retteten sich die Jugendfrische ihrer alternden und sabbernden Begierde.

Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir Amparo erzählt hatte. Bevor sie nach Italien gekommen war, hatte sie ein paar Monate in New York verbracht und dort in einer Gegend gewohnt, wo man höchstens hingeht, um Fernsehfilme über die Arbeit der Mordkommission zu drehen. Sie war oft spät in der Nacht allein nach Hause gekommen. Als ich sie fragte, ob sie denn keine Angst vor Vergewaltigungen gehabt habe, erklärte sie mir ihre Methode: Sobald ein Vergewaltiger näher kam und sich als solcher zu erkennen gab, nahm sie ihn am Arm und sagte:»Na komm, gehen wir ins Bett.«Woraufhin er panikartig davonlief.

Ein Vergewaltiger will keinen Sex, er will die Erregung des Gewaltaktes, mit dem er sich den Sex holen muß, er will den Widerstand des Opfers brechen. Wird ihm der Sex freiwillig geboten und ihm gesagt, hic Rhodus, hic salta, dann ist es ganz natürlich, dass er wegrennt, was wäre er sonst für ein Vergewaltiger?

Und wir sind hingegangen, um ihre Begierde zu wecken, um ihnen ein Geheimnis anzubieten, das leerer nicht sein konnte, denn wir kannten es nicht nur selber nicht, wir wussten auch, dass es falsch war.

Die Maschine flog über den Mont Blanc, und alle Passagiere stürzten sich auf dieselbe Seite, um nicht die Offenbarung jener platten Beule zu versäumen, die da dank einer Dystonie der tellurischen Ströme gewachsen war. Ich dachte, wenn das, was ich gerade dachte, richtig war, dann gab es vielleicht die tellurischen Ströme gar nicht, genauso wenig wie die Botschaft aus Provins. Aber die Geschichte der Entzifferung des Großen Plans, so wie wir sie rekonstruiert hatten, war dann nichts anderes als die Realgeschichte.

Meine Gedanken gingen zurück zu Belbos letztem file... Aber wenn das Sein so leer und zerbrechlich ist, dass es sich nur an der Illusion derjenigen aufrecht hält, die nach seinem Geheimnis suchen, dann gibt es wirklich – wie Amparo damals nach ihrer Niederlage sagte –, dann gibt es wirklich keine Erlösung, dann sind wir alle Sklaven, gebt uns einen Herrn, wir haben's nicht besser verdient...

Nein, das kann nicht alles sein. Das kann nicht alles sein, denn Lia hat mich gelehrt, dass es noch etwas anderes gibt, und ich habe den Beweis, er heißt Giulio, in diesem Moment spielt er wahrscheinlich gerade auf einer Bergwiese und zieht eine Ziege am Schwanz. Es kann nicht alles sein, denn Belbo hat zweimal nein gesagt.

Das erste Nein hatte er zu Abulafia gesagt und zu jedem, der Abulafias Geheimnis zu knacken versuchte.»Hast du das Passwort?«hieß die Frage. Und die Antwort, der Schlüssel zum Wissen, war»Nein«. Darin lag eine Wahrheit: Nicht nur gibt es das Zauberwort nicht, sondern wir müssen auch zugeben, dass wir es nicht kennen. Doch wer zugeben kann, dass er es nicht kennt, kann etwas erfahren, zumindest so viel, wie ich dann erfahren habe.

Das zweite Nein hatte Belbo am Samstag Abend gesagt, als er die angebotene Rettung ablehnte. Er hätte irgendeine Weltkarte erfinden können, er hätte eine von denen angeben können, die ich ihm gezeigt hatte – so wie das Pendel hing, hätte dieser Haufen Irrer das Zeichen für den Nabel der Welt ohnehin nie gefunden, und wenn doch, hätten sie weitere Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht das richtige war. Aber nein, Belbo wollte sich nicht beugen, er wollte lieber sterben.

Und es war nicht die Gier nach Macht, der er sich nicht beugen wollte, er wollte sich nicht dem Un‑Sinn beugen. Das aber heißt, dass er irgendwie gewusst haben muß, dass es trotz aller Zerbrechlichkeit des Seins, trotz aller End‑und Ziellosigkeit unserer Befragung der Welt doch etwas gibt, was mehr Sinn hat als der Rest.

Was war es, was Belbo geahnt hatte, vielleicht erst in jenem Moment, was hatte ihm erlaubt, den verzweifelten Worten in seinem letzten file zu widersprechen und sein Schicksal nicht in die Hände derer zu legen, die ihm irgendeinen Plan garantierten? Was hatte er begriffen – endlich –, das ihm nun erlaubte, sein Leben zu opfern, als hätte er alles, was er wissen musste, schon vor langer Zeit entdeckt, ohne sich dessen bis zu diesem Moment bewusst gewesen zu sein, und als wäre angesichts dieses seines einzigen, wahren, absoluten Geheimnisses alles, was da im Conservatoire geschah, heillos dumm – so dumm, dass es dumm gewesen wäre, unbedingt weiterleben zu wollen?

Mir fehlte etwas, ein Glied der Kette. Ich glaubte nun alle Heldentaten Belbos zu kennen, vom Leben bis zum Tode, außer einer.

Bei der Ankunft in Mailand, als ich nach meinem Pass suchte, fand ich in einer Jackentasche den Schlüssel zu diesem Haus. Ich hatte ihn am letzten Donnerstag zusammen mit Belbos Wohnungsschlüssel eingesteckt. Bei seinem Anblick fiel mir jener Tag ein, als wir nach *** gekommen waren und Belbo uns den großen Wandschrank gezeigt hatte, der, wie er uns sagte, seine gesammelten Jugendwerke enthielt. Vielleicht hatte Belbo etwas geschrieben, was nicht in Abulafia zu finden war, und dieses Etwas lag in dem Wandschrank begraben?







Date: 2015-12-13; view: 436; Нарушение авторских прав



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