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St. Patricks Loch
In die letzten Worte hinein, die ich soeben in John Dees Tagebuch gelesen habe, schrillt draußen die Flurglocke. Ich öffne. Ein halbwüchsiger Bote Lipotins übergibt mir einen Brief. Ich liebe Störungen unter der Arbeit nicht und habe deshalb ein Nationalverbrechen begangen: ich vergaß im Unmut das Trinkgeld! Wie soll ich das wieder gutmachen? So selten mir Lipotins gelegentliche Mitteilungen durch Boten zukommen läßt: regelmäßig ist es wieder ein anderer, der sie mir bringt. Lipotin muß unter der streunenden Großstadtjugend zahllose dienstwillige Freunde haben.
Nun also das Billet. Lipotin schreibt mir: "1. Mai. Am Tage des heiligen Socius. Michael Arangelowitsch ist dankbar für den Arzt. Fühlt Erleichterung. Apropos, ich vergaß: er bittet Sie, das silberne Kästchen mit tunlichster Genauigkeit in die Richtung des Ortsmeridians zu stellen. Und zwar derart, daß der über das Kästchen oben längs sich hinziehende ziselierte Ornamentstreifen, der das stilisierte chinesische Wellenmuster zeigt, mit dem Meridian parallel läuft. Wozu das dienen soll, kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, denn Michael Arangelowitsch bekam einen neuen Anfall von Bluthusten, als er mir diesen Auftrag an Sie gegeben hatte, und ich konnte ihn um Näheres nicht mehr befragen. Offenbar hatte der alte Silberkasten das Bedürfnis, mit dem Meridian parallel zu stehen, und fühlt sich in dieser Lage am wohlsten, tun Sie ihm also möglichst den Gefallen! Das mag einigermaßen verrückt klingen, entschuldigen Sie, – wer aber, wie ich, sein Leben lang mit alten, greisenhaften Dingen Umgang gehabt hat, der kennt ein wenig ihre Gewohnheiten, und er bekommt ein Fingerspitzengefühl für die geheimen Anliegen und Hypochondrien solche altjüngferlicher Gegenstände. – Unsereiner nimmt darauf keine Rücksicht.
Sie meinen: so zartfühlend habe man sich weder im gegenwärtigen noch in unserm ehemaligen Rußland veranlagt gezeigt? – Ja, Menschen, die bekanntlich ohne jeden seelischen Wert sind, die mißhandelt man selbstverständlich. Aber alte schöne Dinge sind empfindsam.
Es ist Ihnen übrigens bekannt, daß das erwähnte chinesische Wellenband auf dem Tulakasten das alte, taoistische Symbol der Unendlichkeit, in gewissen Fällen sogar das der Ewigkeit bedeutet? – Das ist nur so ein Einfall von mir. In Ergebenheit Lipotin." Ich warf Lipotins Brief in den Papierkorb. – – Hm, das "Geschenk" des sterbenden Barons Stroganoff fängt an, mir fürchterlich zu werden. Ich bin gezwungen, meinen Kompaß hervorzukramen und umständlich den Meridianverlauf festzustellen: – natürlich steht mein Schreibtisch verquer. Dieses brave Möbel, so ehrwürdig es ist, hat sich noch niemals zu dem Anspruch aufgeschwungen, im Meridian stehen zu müssen, weil das zu seinem Wohlbefinden erforderlich sei!
Wie anmaßlich ist im geheimen doch alles, was aus dem guten Osten kommt! – – – – Ich habe das Tulakästchen also in den Meridian gerückt. – Und da gibt es noch Narren – ich zum Beispiel –, die behaupten, der Mensch sei Herr über seinen Willen! – Was aber ist die Folge meiner Gutmütigkeit? Alles auf dem Schreibtisch, dieser selbst, das ganze Zimmer mitsamt seiner ihm innewohnenden Ordnung, alles, alles kommt mir jetzt schief vor; der wertgeschätzte Meridian und nicht mehr ich scheint tonangebend geworden zu sein! – Oder der Tulakasten. Alles steht, liegt, hängt schief, schief, schief zu dem verdammten Produkt aus Asien! Ich schaue vom Schreibtisch aus zum Fenster hinaus, und was sehe ich? Die ganze Gegend draußen steht – "schief".
Das wird auf die Dauer so nicht weitergehen; Unordnung macht mich nervös. Entweder das Kästchen muß vom Schreibtisch verschwinden, oder – – um Gottes willen! – ich kann doch nicht meine ganze Wohnung umstellen im Verhältnis zu diesem Ding und seinem Meridian!! Ich sitze, starre den silbernen Tulakobold an und seufze: Es ist – bei St. Patricks Loch! – nicht anders: das Kästchen ist "geordnet", es hat "Richtung"; und mein Schreibtisch, mein Zimmer, meine ganze Existenz liegt planlos drum herum, – hat keine sinnvolle Orientierung, und ich habe das bis heute nicht gewußt! – – Aber das ist ja Gedankenquälerei!
Um der wachsenden Zwangsvorstellung zu entfliehen, ich müsse noch in dieser Stunde vom Schreibtisch aus, wie ein Stratege, meine ganze Wohnung umzugruppieren und sie in eine neue Richtung bringen, greife ich hastig nach Rogers Papieren. Und da fällt mir ein Notizzettel in die Hand, der seine steilen Schriftzüge trägt, und ich lese das Exzerpt; es ist überschrieben:
"St. Patricks Loch." Was wuchert da in meiner Seele, daß ich vor wenigen Augenblicken noch eben mir diese heute gänzlich unbekannte Schwurformel zwischen den Lippen gehabt habe?! Sie legte sich mir auf die Zunge, und dabei hatte ich keine Ahnung, woher mir das kam! – – Halt! – In diesem Moment blitzt es wieder auf: das ist – das hat – ich blättere hastig in dem vor mir liegenden Manuskript zurück – da steht doch im Tagebuch John Dees: "John, ich beschwöre dich bei 'St. Patricks Loch', geh in dich! – Du mußt dich bessern, mußt wiedergeboren werden im Geist, wenn dir noch weiter an meiner Kameradschaft gelegen ist", ruft dort der Junker seinem Spiegelbild zu, – "bei St. Patricks Loch, geh in dich!" Sonderbar. Mehr als sonderbar. Bin ich denn John Dees Spiegelbild? Oder gar mein eigenes, und starre ich mir entgegen aus der Verwahrlosung, Unsauberkeit und Nebeln des Rausches? – Ist denn schon Besoffenheit, wenn – wenn man seine Wohnung nicht – im – Meridian – – stehen hat?! – – Was sind das für Träume und Phantastereien am hellen Tage! Der Moderduft aus John Rogers Dokumentenbündel macht mir den Kopf benommen! Also was ist es mit St. Patricks Loch? Ich greife in das Dokumentenbündel und halte – es überläuft mich kalt – als Erklärung in der Hand ein Notizblatt John Rogers, meines Vetters. Es besagt nach einer alten Legende: "Der heilige Bischof Patrick bestieg, ehe er von Schottland nach Irland kehrte, daselbst einen Berg, um zu fasten und zu beten. Da sah er weit hinaus und bemerkte, daß das Land voll Schlangen und giftigem Gewürm war. Und er hob seinen Krummstab und bedrohte damit das Gezückt also, daß es geifernd und zischend entwich. Danach kamen Leute zu ihm herauf, seiner zu spotten. Da sprach er vor tauben Ohren und bat Gott um ein Zeichen, davon die Menschen erschreckt würden, und stieß mit seinem Stab auf den Felsen, der glich einem kreisrunden Loch und ließ Rauch und Feuer ausgehen. Und der Abgrund öffnete sich bis in das Herz der Erde und das Geschrei von Flüchen, die sind das Hosiannah der Verdammten, drang aus dem Loch hervor. Da entsetzten sich die, so das mitansahen, und erkannten, daß ihnen St. Patrick die Hölle aufgetan hatte.
Und St. Patrick sprach: wer darein gehe, dem sei keine andere Buße mehr not, und so etwas an ihm von gediegenem Golde wäre, das schmelze der Glutofen aus einem vom Morgen zum andern. Und gingen nochmals Viele hinein, kam aber selten Einer wieder. Denn das Feuer des Schicksals läutert oder verbrennt einen Jeden nach seiner Beschaffenheit. Und das ist St. Patricks Loch, daran mag ein Jeglicher vernehmen, was an ihm ist, und ob er die Taufe des Teufels bestehen möge im ewigen Leben. – – – Unter dem Volk aber geht bis heutigen Tags das Geraune, das Loch sei immer noch offen, doch sehen könne es nur einer, der dazu gerichtet und geordnet ist und geboren am ersten Mai als Sohn einer Hexe oder Hure. Und wenn die schwarze Scheibe des Neumonds senkrecht über dem Loche stünde, dann stiegen zu ihr die Flüche der Verdammten aus dem Herzen der Erde empor wie ein inbrünstiges Gebet der Teuflischen aus der Verkehrtheit und fielen herab auf das Land wie ein Tropfen, und sobald sie die Scholle berührten, würden schwarze gespenstische Katzen daraus." Meridian – sage ich mir vor – Wellenband! – Chinesisches Ewigkeitssymbol! – Unordnung in meinem Zimmer! – St. Patricks Loch! – Warnung meines Urahns, John Dee, an seinen Spiegelkameraden, falls er auf seine Freundschaft künftig noch Wert lege! – Und "es gingen Viele in St. Patricks Loch, kam aber selten Einer wieder"! – Schwarze gespenstische Katzen! –: das alles geht drüber und drunter in meinen aufgescheuchten Gedanken und erzeugt einen sinnlosen Wirbel von Vorstellungen und Gefühlen in meinem Kopf. Dennoch: es blinzelt daraus ein spitzer, schmerzender Sinn hervor, wie Sonnenstrahl hinter jagendem Gewölk. Versuche ich aber, diesen Sinn zur Formel zu verdichten, so fühle ich Lähmung und muß es aufgeben. – – –
Also ja, ja, ja, in Gottes Namen, morgen werde ich mein Zimmer "in den Meridian rücken", wenn es schon so sein soll, damit ich endlich Ruhe bekomme. Eine nette Räumerei wird das geben! – Verdammter Tulakasten!
Wieder krame ich in dem Nachlaß: Vor mir liegt ein dünnes Buch, in giftgrünes Safianleder gebunden. Der Einband ist frühestens aus dem späten siebzehnten Jahrhundert. Die Schrift, die er einschließt, muß Handschrift des John Dee selbst sein; die Charaktere und der Duktus stimmen überein mit dem Tagebuch. Das Bändchen ist von Brandspuren verunstaltet, zum Teil ist die Handschrift dadurch völlig zerstört. Auf dem leeren Blatt des Vorsatzpapiers finde ich eine winzige geschriebene Bemerkung. Aber von fremder Hand!! Sie lautet übersetzt: "Zu verbrennen, wenn die schwarze Isaïs aus dem abnehmenden Mond hervorspäht. Beim Heil deiner Seele! – dann verbrenne!" Es muß diese Warnung einmal einen späteren unbekannten (!) Besitzer des Buches sehr nahe angegangen sein, fühle ich. – Es muß ihn vielleicht die "schwarze Isaïs" aus dem abnehmenden Mond hervor angeschaut haben, darum wohl warf er das Büchlein ins Feuer, um es loszuwerden. Das würde die Brandspuren erklären. – – Wer, wer wohl mag es daraus wieder hervorgezogen haben, ehe es gänzlich verkohlte? Wer war der, dem es zuvor in den Fingern brannte? Kein Zeichen, keine Nachschrift meldet davon. Die Warnung selbst stammt sicherlich nicht von John Dees Hand. Ein Erbe also muß die Warnung als das Ergebnis eigener, böser Erfahrung niedergeschrieben haben. Was von dem grünen Saffianband leserlich erhalten ist, das folgt hier als Rogers Notiz: Diarium John Dees, datiert von 1553, – als 3 bis 4 Jahre später als das "Tagebuch". Date: 2015-09-05; view: 307; Нарушение авторских прав |