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Tifereth 22 page





Es gab keinen vernünftigen Grund für diese meine Vermutung. Ein guter Grund – sagte ich mir –, sie ernst zu nehmen. Nach allem.

So ging ich mein Auto holen und bin hierhergefahren.

Niemand war da, nicht einmal die alte Verwandte der Canepas oder Hausmeisterin oder was sie gewesen sein mochte. Vielleicht ist auch sie inzwischen gestorben. Das Haus ist leer. Ich bin durch die Zimmer gegangen, es riecht nach Feuchtigkeit, ich hatte sogar daran gedacht, den»Priester«in einem der Schlafzimmer anzuzünden. Aber es ist Unsinn, im Juni das Bett zu wärmen, sobald man die Fenster öffnet, kommt die laue Abendluft herein.

Nach Sonnenuntergang war noch kein Mond zu sehen. Wie vorgestern Nacht in Paris. Er ist erst sehr spät aufgegangen, ich sehe die schmale Sichel – noch schmaler als in Paris – erst jetzt, wo sie langsam über die flacheren Hügel steigt, in einer Senke zwischen dem Bricco und einem anderen gelblichen, vielleicht schon abgeernteten Buckel.

Angekommen bin ich so gegen sechs, es war noch hell. Ich hatte mir nichts zu essen mitgebracht, aber in der Küche fand ich eine Salami an einem Haken hängen. Mein Abendessen bestand aus Salami und frischem Wasser, das war so gegen zehn. Jetzt habe ich Durst, ich habe mir eine große Karaffe Wasser in Onkel Carlos Arbeitszimmer geholt und trinke alle zehn Minuten ein Glas, dann gehe ich runter und fülle sie wieder auf. Es muß inzwischen bald drei sein. Aber ich habe das Licht gelöscht und kann die Uhr kaum noch lesen. Ich denke nach und sehe dabei aus dem Fenster. An den Hängen der Hügel sind winzige Lichter zu sehen, wie Glühwürmchen oder Sternschnuppen. Die Scheinwerfer vereinzelter Autos, die ins Tal fahren oder hinauf zu den höher gelegenen Dörfern. Als Belbo klein war, kann es diesen Anblick noch nicht gegeben haben. Es gab weder diese Autos noch diese Straßen, und nachts war Ausgangssperre.

Gleich nach meiner Ankunft hatte ich den bewussten Wandschrank geöffnet. Borde und Fächer voller Papiere, von den Schulaufsätzen des Grundschülers bis zu Heften und Bündeln voller Gedichte und Prosa des Heranwachsenden. Jeder hat als Heranwachsender Gedichte geschrieben, die wahren Dichter haben sie dann vernichtet, die schlechten haben sie veröffentlicht. Belbo war zu nüchtern, um sie aufzuheben, und zu schwach, um sie zu vernichten. So begrub er sie in Onkel Carlos Schrank.

Ich las einige Stunden lang. Und weitere lange Stunden, bis zu diesem Moment, habe ich über den letzten Text nachgedacht, den Text, den ich schließlich gefunden hatte, als ich die Suche gerade aufgeben wollte.

Ich weiß nicht, wann ihn Belbo geschrieben hat. Es sind Seiten und Seiten, auf denen sich verschiedene Handschriften überschneiden, oder es ist dieselbe Handschrift zu verschiedenen Zeiten. Als hätte er den Text sehr früh geschrieben, mit sechzehn oder siebzehn Jahren, ihn dann weggelegt und mit zwanzig wieder hervorgeholt, und mit dreißig wieder und womöglich später noch einmal. Bis er dann auf das Schreiben verzichtete und erst mit Abulafia wieder anfing, aber ohne zu wagen, diese Zeilen wieder hervorzuholen und sie der elektronischen Demütigung auszusetzen.

Beim Lesen schien mir, als setzten sie eine bekannte Geschichte fort: die Ereignisse in *** von 1943 bis 1945, mit Onkel Carlo, den Partisanen, dem Oratorium, Cecilia und der Trompete. Den Prolog kannte ich, das waren die obsessiven Themen des romantischen, betrunkenen, enttäuschten und leidenden Belbo. Memoirenliteratur, das wusste auch er, ist die letzte Zuflucht der Canaillen.

Aber ich war kein Literaturkritiker, ich war einmal mehr Sam Spade, auf der Suche nach der letzten Spur.

Und so fand ich den Schlüsseltext. Er bildet vermutlich das letzte Kapitel von Belbos Geschichte in ***. Danach kann nichts mehr geschehen sein.

 

119

 

 

Dann sobald das Laubwerck oder Krantz am Rohr angezündet wurde, sahe ich zu oberst das Loch eröffnen und ein hellen Feuerstriemen durch das Rohr hinabschießen und in den Leichnam fahren. Darauf wurde das Loch wider verdecket und die Posaun weggeraumbt.

Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, 6, p. 126

 

Der Text hat Lücken, Überlappungen, unklare Stellen, Streichungen. Ich rekonstruiere ihn mehr, als dass ich ihn lese, ich lebe ihn nach.


Es muß gegen Ende April 45 gewesen sein. Die deutsche Wehrmacht war geschlagen, die Faschisten zerstreuten sich, auf jeden Fall war *** bereits fest in der Hand der Partisanen. Nach der letzten Schlacht, derjenigen, von der uns Jacopo in diesem Hause erzählt hatte (vor fast zwei Jahren), hatten sich mehrere Partisanenbrigaden in *** versammelt, um dann in die Provinzhauptstadt zu marschieren. Sie warteten auf ein Signal von Radio London, sie sollten aufbrechen, wenn Mailand zum Aufstand bereit war.

Auch die kommunistischen Garibaldiner waren gekommen, befehligt von Ras, einem Riesen mit schwarzem Bart, der im Ort sehr beliebt war. Sie trugen Fantasieuniformen, alle voneinander verschieden, nur die Halstücher und der Stern auf der Brust waren immer gleich, beide rot, und sie waren bewaffnet, wie's gerade kam, der eine mit einem alten Karabiner, der andere mit einer vom Feind erbeuteten MP. Ganz anders dagegen die Badoglianer mit ihren blauen Halstüchern, in Khaki‑Uniformen ähnlich denen der Engländer und mit brandneuen Stens. Die Alliierten unterstützten die Badoglianer durch großzügige Nachschublieferungen, die nachts mit Fallschirmen abgeworfen wurden, nachdem pünktlich um elf, wie er's allabendlich seit zwei Jahren tat, der mysteriöse»Pippetto«vorbeigeflogen war, ein englischer Aufklärer, bei dem niemand kapierte, was der da aufklären mochte, denn Lichter waren über Kilometer und Kilometer keine zu sehen.

Es gab Spannungen zwischen Garibaldinern und Badoglianern, angeblich hatten die Badoglianer sich am Abend der Schlacht mit dem Ruf»Vorwärts Savoyen!«auf den Feind gestürzt, aber einige von ihnen sagten, das sei nur aus Gewohnheit gewesen, was solle man denn sonst beim Angriff rufen, das heiße noch lange nicht, dass sie Monarchisten seien, sie wüssten selber, dass der König beträchtliche Mitschuld habe. Worauf die Garibaldiner grienten, man könne wohl»Vorwärts Savoyen!«brüllen, wenn man auf offenem Feld mit aufgepflanztem Bajonett voranstürme, aber nicht, wenn man mit der Sten in der Hand hinter eine Hausecke hechte. Tatsache ist, dass die Badoglianer sich an die Engländer verkauft hatten.

Trotzdem kam man zu einem Modus vivendi. Für den Angriff auf die Provinzhauptstadt brauchte man ein gemeinsames Oberkommando, und die Wahl fiel auf Terzi, der die am besten ausgerüstete Brigade kommandierte. Er war der älteste, er hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht, er war ein Held und genoss das Vertrauen der Alliierten.

Nach ein paar Tagen, ich glaube, es war noch vor dem Aufstand in Mailand, waren sie losgezogen, um die Provinzhauptstadt zu nehmen. Gute Nachrichten trafen ein, die Operation war gelungen, die Brigaden kehrten siegreich nach *** zurück, aber es hatte Verluste gegeben, es hieß, Ras sei gefallen und Terzi sei verwundet.

Dann, eines Nachmittags, hörte man das Brummen der Lastwagen, Siegesgesänge, die Leute liefen auf die Piazza, von der Landstraße kamen die ersten Einheiten, erhobene Fäuste, Fahnen, freudig geschwenkte Waffen aus den Autofenstern und auf den offenen Lastwagen. Schon längs der Straße waren die Partisanen mit Blumen überschüttet worden.


Auf einmal rief jemand»Ras! Ras!«, und da saß er, vorn auf dem Kotflügel eines Dodge, mit seinem struppigen Bart und seinem schwarzen Haar auf der verschmitzten Brust unter dem offenen Hemd, und er grüßte lachend die Menge.

Neben Ras stieg auch Rampini vom Dodge, ein kurzsichtiger Junge, der in der Blaskapelle spielte, er war nicht viel älter als die anderen, und seit drei Monaten war er verschwunden gewesen, es hieß, er sei zu den Partisanen gegangen. Und nun stand er da mit dem roten Tuch um den Hals, in einer Khaki‑Jacke und einem Paar blauer Hosen. Es war die Uniform von Don Ticos Blaskapelle, aber er trug jetzt einen breiten Gürtel mit einem Holster und einer Pistole darin. Durch seine dicken Brillengläser, die ihm soviel Spott von seinen alten Spielkameraden eingebracht hatten, sah er auf die Mädchen, die ihn umjubelten, als ob er Flash Gordon wäre. Und Jacopo fragte sich, ob Cecilia wohl in der Menge sein mochte.

Nach einer halben Stunde wimmelte der Platz von Partisanen, und die Menge rief laut nach Terzi, er solle eine Rede halten.

Terzi erschien auf dem Balkon des Rathauses, blass, auf seine Krücke gestützt, und versuchte mit der freien Hand die Menge zu beruhigen. Jacopo wartete gespannt auf die Rede, denn seine ganze Kindheit war, wie die seiner Altersgenossen, von den großen historischen Reden des Duce geprägt gewesen, deren bedeutendste Stellen man in der Schule auswendig lernte, was in der Praxis hieß, dass man alles auswendig lernte, denn jeder Satz war eine bedeutende Stelle.

Als die Menge endlich schwieg, begann Terzi zu sprechen, mit einer rauen Stimme, die kaum zu hören war. Und er sagte:»Mitbürger, Freunde. Nach so vielen leidvollen Opfern... da sind wir wieder. Ehre den für die Freiheit Gefallenen.«

Das war alles. Er ging wieder hinein.

Und die Menge jubelte, und die Partisanen hoben ihre MPs, ihre Stens, ihre Karabiner, ihre Einundneunziger hoch und feuerten in die Luft, die Hülsen regneten nur so herunter, und die Jungs schlüpften zwischen den Beinen der Bewaffneten und der Zivilisten hindurch, denn eine so fette Ernte würden sie nie wieder machen, es bestand die Gefahr, dass der Krieg noch im selben Monat zu Ende ging.

Aber es hatte auch Tote gegeben, zwei junge Männer. Durch einen grausamen Zufall stammten sie beide aus San Davide, einem Dorf oberhalb von ***, und ihre Familien wünschten, dass sie auf dem dortigen Friedhof begraben würden.

Das Partisanenkommando beschloss, es solle ein feierliches Begräbnis werden, mit angetretenen Kompanien, geschmücktem Leichenwagen, der kommunalen Musikkapelle und dem Dompropst. Und mit Don Ticos Blaskapelle.


Don Tico war sofort einverstanden. Vor allem, wie er sagte, weil er immer antifaschistisch empfunden habe. Sodann auch, wie die Spieler flüsterten, weil er seit einem Jahr zwei Trauermärsche mit ihnen eingeübt hatte, die er irgendwann einmal vorführen musste. Und schließlich, wie die Lästerzungen im Städtchen sagten, um die Geschichte mit Giovinezza wiedergutzumachen.

Die Geschichte mit Giovinezza ging so.

Monate vorher, ehe die Partisanen kamen, war Don Ticos Kapelle eines Tages losgezogen, um zum Fest ich weiß nicht welches Heiligen aufzuspielen, und war unterwegs von den Schwarzen Brigaden angehalten worden.»Spielen Sie Giovinezza, Herr Pfarrer!«hatte der Hauptmann befohlen, und seine Finger trommelten auf der MP. Was tun, wie man später sagen lernte? Don Tico sagte: Jungs, versuchen wir's halt, man hat nur ein Leben. Und er schlug den Takt mit seiner Stimmpfeife, und eine wüste Horde von Kakofonikern überzog *** mit einem Getöse, das nur die desperateste Hoffnung auf Endsieg hätte für die Faschistenhymne Giovinezza halten können. Es war eine Schande für alle. Eine Schande, weil sie eingewilligt hatten, sagte Don Tico hinterher, aber vor allem, weil sie so hundsmiserabel gespielt hatten. Priester ja, und Antifaschist, aber Kunst ist Kunst.

Jacopo war an dem Tag nicht dabei gewesen. Er hatte Mandelentzündung gehabt. Es waren nur Annibale Cantalamessa und Pio Bo da gewesen, und ihre exklusive Präsenz muß entscheidend zum Zusammenbruch des Nazifaschismus beigetragen haben. Aber für Belbo war das Problem noch ein anderes, jedenfalls als er darüber schrieb: Er hatte eine weitere Gelegenheit versäumt, herauszufinden, ob er den Mut zum Neinsagen hätte. Vielleicht ist er deshalb am Pendel gestorben.

Wie auch immer, das Begräbnis war dann für Sonntag Vormittag angesetzt worden. Auf dem Domplatz waren sie alle da. Terzi mit seinen Mannen, Onkel Carlo und einige Honoratioren der Stadt mit ihren Orden aus dem Ersten Weltkrieg, und es spielte keine Rolle, wer von ihnen Faschist gewesen war und wer nicht, es ging nur darum, die Helden zu ehren. Da waren der Klerus, die Männer der kommunalen Kapelle in dunklen Anzügen, der prächtige Leichenwagen, gezogen von schabrackenbedeckten Pferden mit Zaumzeug in Cremeweiß, Silber und Schwarz. Der Kutscher war aufgeputzt wie ein Marschall Napoleons, mit Zweispitz, Cape und weitem Mantel in denselben Farben wie das Zaumzeug. Und da war Don Ticos Kapelle, mit Schirmmützen, Khaki‑Jacken und blauen Hosen, goldglänzend das Blech, schwarz glänzend das Holz und funkelnd das Becken über der Großen Trommel.

Von *** bis San Davide waren es fünf bis sechs Kilometer, in Serpentinen den Hügel hinauf. Ein Weg, den die Rentner sonntags bocciaspielend zurücklegten, eine Partie, eine Pause, ein paar Fläschchen Wein, die nächste Partie, und so weiter bis rauf zur Kapelle.

Ein paar Kilometer Steigung sind nichts, wenn man Boccia spielt, und vielleicht ist es auch nur ein Klacks, sie in Marschformation zu überwinden, die Waffe geschultert, den Blick geradeaus, die frische Frühlingsluft atmend. Aber man probiere es einmal blasend, mit prallen Backen, wenn einem der Schweiß von der Stirn rinnt und die Luft wegbleibt. Die Männer von der kommunalen Kapelle taten ihr ganzes Leben lang nichts anderes, aber für die Jungs vom Oratorium war's eine harte Prüfung. Sie hielten heroisch durch, Don Tico schlug den Takt mit seiner Stimmpfeife in die Luft, die Klarinetten jaulten erschöpft, die Saxophone blökten asthmatisch, das Bombardon und die Trompeten krächzten mit letzten Kräften, aber sie schafften es bis zum Dorf, bis zum Fuß des steilen Weges, der zum Friedhof hinaufführte. Seit geraumer Zeit hatten Annibale Cantalamessa und Pio Bo nur noch so getan, als ob sie bliesen, aber Jacopo spielte wacker weiter seine Rolle als Hirtenhund unter Don Ticos verständnisinnigen Blicken. Verglichen mit der kommunalen Kapelle hatten sie keine schlechte Figur gemacht, und das sagten nun auch Terzi und die anderen Kommandanten der Brigaden: Bravo, Jungs, großartig habt ihr gespielt.

Ein Kommandant mit blauem Halstuch und einem Regenbogen von Ordensbändern aus beiden Weltkriegen sagte:»Herr Pfarrer, lassen Sie die Jungs sich erst mal hier im Dorf ausruhen, sie können nicht mehr. Geht nachher rauf, am Ende. Da wird dann ein Pritschenwagen kommen, der bringt euch zurück nach ***.«

Sie stürmten in die Osteria, und die Männer von der kommunalen Kapelle, alte Hasen, gestählt durch unzählige Beerdigungen, stürzten sich hemmungslos auf die Tische und bestellten Kutteln und Wein in rauen Mengen. Sie würden da zechend bis zum Abend bleiben. Die Jungs von Don Tico versammelten sich am Tresen, wo der Wirt Granita di Menta servierte, grün wie ein chemisches Experiment. Das Eis flutschte durch die Kehle und rief einen Schmerz in der Mitte der Stirn hervor, wie bei einer Nebenhöhlenentzündung.

Dann waren sie zum Friedhof hinaufgestiegen, wo der Pritschenwagen schon auf sie wartete. Sie waren lärmend auf die Ladefläche geklettert und standen dicht gedrängt, einander mit den Instrumenten anstoßend, als aus dem Friedhof der Kommandant mit den vielen Ordensbändern kam und sagte:»Herr Pfarrer, für die Schlusszeremonie brauchten wir rasch noch eine Trompete, Sie wissen schon, die üblichen Signale. Eine Sache von fünf Minuten.«

»Trompeter!«rief Don Tico. Und der unselige Inhaber des begehrten Titels, inzwischen ganz verklebt von pfefferminzgrüner Granita und begierig auf das heimische Mahl, ein träger Bauernlümmel ohne jedes Gespür für ästhetischen Schauder und höhere Ideale, begann zu jammern, es wäre schon spät, er wolle nach Hause, er hätte gar keine Spucke mehr und so weiter und so fort, und der arme Don Tico stand ganz blamiert vor dem Kommandanten.

Da sagte Jacopo, der in der Glorie des Mittags das süße Bildnis Ceciliens erspähte:»Wenn er mir die Trompete gibt, gehe ich.«

Dankbares Leuchten in den Augen Don Ticos, Erleichterung in dem verschwitzten Gesicht des offiziellen Trompeters. Austausch der Instrumente, wie zwei Wachen.

Und Jacopo schritt in den Friedhof hinein, geführt von dem Psychopompos mit den Ordensbändern aus Addis Abeba. Alles ringsum war weiß, die Mauer im blendenden Sonnenlicht, die Gräber, die blühenden Bäume an der Umfriedung, das Chorhemd des Probstes, der zum Segnen bereitstand, alles außer dem verblichenen Braun der Fotos auf den Grabsteinen. Und außer dem großen Farbfleck der vor den zwei offenen Gräbern angetretenen Formationen.

»Junge«, sagte der Kommandant,»stell dich hier neben mich, und auf mein Kommando bläst du das Attenti. Danach, wieder auf mein Kommando, das Riposo. Ist doch ganz leicht, oder?«

Kinderleicht. Nur hatte Jacopo noch nie ein Habt‑acht und noch nie ein Rührt‑euch geblasen.

Er hielt die Trompete im angewinkelten rechten Arm, an die Rippen gedrückt, den Trichter ein wenig nach unten gerichtet, als wär's ein Karabiner, und wartete, Kopf hoch, Bauch rein, Brust raus.

Terzi hielt eine kleine Rede mit lauter sehr kurzen Sätzen. Jacopo überlegte: Beim Blasen würde er die Augen zum Himmel heben müssen, und dann würde ihn die Sonne blenden. Aber so stirbt ein Trompeter, und da man nur einmal stirbt, tut man's lieber gleich richtig.

Dann flüsterte der Kommandant ihm zu:»Jetzt!«Und begann laut:»Aaa... «Und Jacopo wusste nicht, wie man ein At‑ten‑ti bläst.

Die Tonfolge musste sehr viel komplexer sein, aber in diesem Augenblick war er nur fähig, C‑E‑G‑C zu blasen, und jenen rauen Kriegsmännern schien das auch zu genügen. Bevor er zum abschließenden C ansetzte, holte er tief Luft, damit er den Ton lange aushallen konnte, so lange, dass ihm Zeit genug blieb –, schrieb Belbo –, die Sonne zu erreichen.

Die Partisanen salutierten in Habachtstellung. Die Lebenden regungslos wie die Toten.

Es bewegten sich nur die Totengräber, man hörte das Rumpeln der Särge, die in die Gräber hinuntergelassen wurden, und das Scharren der Seile, die sich am Holz rieben, als sie hinaufgezogen wurden. Aber das war nur eine schwache Bewegung, wie das Tanzen eines Lichtreflexes auf einer Kugel, das nur die reglose Ruhe der Kugel des Seins unterstreicht.

Dann das trockene Klacken eines Präsentiert‑das‑Gewehr. Der Probst murmelte die Aspersionsformeln, während er das Weihwasser auf die Gräber sprengte, die Kommandanten traten an die Gruben und warfen jeder eine Handvoll Erde hinunter. Plötzlich ein kurzer Befehl, eine Salve krachte in die Luft, ta‑ta‑ta ta‑pum, und tschilpend flog ein Schwarm kleiner Vögel aus den blühenden Bäumen auf. Aber auch das war nicht eigentlich Bewegung, es war eher, als präsentierte sich immer derselbe Augenblick in verschiedenen Perspektiven, und einen Augenblick immerfort zu betrachten heißt nicht, ihn zu betrachten, während die Zeit vergeht.

Deshalb war Jacopo regungslos stehen geblieben, unbeirrt sogar von den Patronenhülsen, die ihm vor die Füße kullerten, und hatte auch die Trompete nicht abgesetzt, sondern hielt sie noch immer am Mund, die Finger auf den Ventilen, starr in Habachtstellung, das Instrument schräg nach oben gerichtet. Er blies noch immer.

Sein langer Schlusston hatte keinen Augenblick ausgesetzt. Unhörbar für die Anwesenden kam er noch immer aus dem Trompetentrichter, wie ein leichter Atem, ein dünner Luftstrom, den Jacopo weiterhin in das Mundstück blies, die Zunge zwischen den kaum geöffneten Lippen, ohne sie gegen das Metall zu drücken. Das Instrument blieb vorgestreckt, ohne sich auf den Mund zu stützen, allein durch die Anspannung der Ellenbogen und Schultern.

Und Jacopo fuhr fort, diesen Hauch von Ton zu blasen, da er spürte, dass er in diesem Augenblick einen Faden ausspann, der die Sonne festhielt. Das Gestirn war stehen geblieben in seinem Lauf, fixiert in einem Mittag, der eine Ewigkeit hätte andauern können. Und alles hing von Jacopo ab, er brauchte nur abzusetzen, den Faden zu lockern, und die Sonne wäre davongesprungen wie ein Ball, und mit ihr der Tag und das Ereignis dieses Tages, diese phasenlose Aktion, diese Abfolge ohne Vorher und Nachher, die bewegungslos ablief, nur weil er die Macht hatte, es so zu wollen und so zu tun.

Hätte er abgesetzt, um einen neuen Ton zu blasen, es hätte wie ein scharfer Riss geklungen, viel lauter als die Salven, die ihn betäubten, und die Uhren hätten wieder angefangen, tachykardisch zu ticken.

Jacopo wünschte sich von ganzem Herzen, dass der Mann neben ihm nie das Kommando Rührt‑euch geben würde. Ich könnte mich widersetzen, dachte er, und für immer so bleiben. Blas weiter, so lange du kannst.

Ich glaube, er war in jenen Zustand der Benommenheit und des Taumels eingetreten, der einen Taucher erfaßt, wenn er versucht, nicht aufzutauchen, sondern die Trägheit, die ihn auf den Grund sinken lässt, noch länger hinauszuziehen. Denn in seinem Bemühen um Ausdruck dessen, was er empfand, lässt Belbo hier seine Sätze im Leeren abbrechen, sich asyntaktisch verdrehen und rachitisch mit Ellipsen durchsetzen. Aber es ist klar, dass er in jenem Moment – nein, er sagt es nicht so, aber mir scheint, es ist ganz klar: dass er in jenem Moment Cecilia besaß.

Ich meine, dass Jacopo Belbo damals noch nicht begriffen haben konnte – und auch nicht begriffen hatte, als er über sein unbewusstes Selbst schrieb –, dass er in jenem Augenblick ein für allemal seine chymische Hochzeit feierte – mit Cecilia, mit Lorenza, mit Sophia, mit der Erde und mit dem Himmel. Als einziger vielleicht unter den Sterblichen war er im Begriff, endlich das Große Werk zu vollenden.

Niemand hatte ihm bisher gesagt, dass der Gral ein Kelch, aber auch ein Speer ist, und doch war seine als Kelch erhobene Trompete zugleich eine Waffe, ein Instrument der zartesten Herrschaft, ein Pfeil, der zum Himmel flog und die Erde mit dem Mystischen Pol verband. Mit dem einzigen Festen Punkt, den das Universum je gehabt hatte: dem, den er, nur für diesen Augenblick, mit seinem Atem erschuf.

Diotallevi hatte ihm noch nicht gesagt, dass man in Jessod sein kann, der Sefirah des Fundaments, dem Zeichen des Bundes des hohen Bogens, der sich spannt, um Pfeile abzusenden auf Malchuth, sein Ziel. Jessod ist der Tropfen, der aus dem Pfeil quillt, um den Baum und die Frucht zu erzeugen, Jessod ist die Seele der Welt, denn es ist der Moment, in dem die männliche Kraft als zeugende alle Seinszustände miteinander verbindet.

Wer diesen Venusgürtel zu weben weiß, der macht den Fehler des Demiurgen wett.

Wie kann man ein Leben lang nach der GELEGENHEIT suchen, ohne zu merken, dass der entscheidende Augenblick, derjenige, der Geburt und Tod rechtfertigt, schon vorbei ist? Er kommt nicht wieder, aber er ist da gewesen, unaustilgbar, rund und voll, glänzend und generös wie jede Offenbarung.

An jenem Tag hatte Jacopo Belbo der Wahrheit ins Auge gesehen. Der einzigen, die ihm jemals vergönnt sein sollte, denn die Wahrheit, die er damals erfuhr, war, dass die Wahrheit sehr kurz ist (hinterher ist alles nur Kommentar). Darum versuchte er, die Ungeduld der Zeit zu bändigen.

Damals hatte er das ganz sicher noch nicht begriffen. Und wohl auch nicht, als er dann später darüber schrieb, oder als er beschloss, nicht mehr zu schreiben.

Ich habe es heute Abend begriffen: der Autor muß sterben, damit der Leser sich seiner Wahrheit innewird.

Die Obsession des Foucaultschen Pendels, die Jacopo Belbo sein ganzes Erwachsenenleben lang verfolgt hatte, war – wie die verlorenen Adressen in seinem Traum – das Bild jenes anderen Moments gewesen, jenes damals registrierten und dann verdrängten Augenblicks, als er wirklich das Dach der Welt berührt hatte. Und dieser Augenblick, als er Raum und Zeit hatte erstarren lassen, indem er seinen Zenonschen Pfeil abschoss, das war kein Zeichen gewesen, kein Symptom, keine Anspielung, keine Figur, keine Signatur, kein Rätsel: es war, was es war, es stand nicht für etwas anderes, es war der Moment, in dem es keinen Weiterverweis mehr gibt und die Konten beglichen sind.

Jacopo Belbo hatte nicht begriffen, dass er seinen Moment gehabt hatte und dass ihm dieser Moment für das ganze Leben hätte genügen müssen. Er hatte es nicht erkannt oder nicht anerkannt, denn er hatte sein ganzes restliches Leben damit verbracht, nach etwas anderem zu suchen, bis er sich selbst verdammte. Oder vielleicht hatte er es geahnt, sonst wäre er nicht so oft auf die Trompete zurückgekommen. Aber er hatte sie als etwas Verlorenes in Erinnerung, und dabei hatte er sie gehabt.

Ich glaube, ich hoffe, ich bete, dass Jacopo Belbo in dem Augenblick, als er am Pendel schwingend starb, dies endlich begriffen und Frieden gefunden hat.

Dann war das Rührt‑euch gekommen. Er hätte ohnehin aufgeben müssen, da ihm die Luft ausging. Er setzte ab, setzte neu an und blies einen einzigen hohen Ton, den er in einem sanften Decrescendo abschwellen ließ, um die Welt an die Melancholie zu gewöhnen, die auf sie wartete.

Der Kommandant sagte:»Bravo, junger Mann. Kannst jetzt gehen. Hast schön geblasen.«

Der Probst eilte davon, die Partisanen marschierten zu einem Hinterausgang, wo ihre Lastwagen warteten, die Totengräber gingen, nachdem sie die Gruben zugeschüttet hatten. Jacopo ging als letzter. Er konnte sich nicht losreißen von diesem Ort des Glücks.

Auf dem Dorfplatz war kein Pritschenwagen mehr da.

Wie konnte das sein, fragte sich Jacopo, Don Tico hätte ihn doch nicht einfach so allein gelassen. Im nachhinein ist die wahrscheinlichste Antwort, dass es ein Missverständnis gegeben hatte, wahrscheinlich hatte jemand Don Tico gesagt, der Junge würde von den Partisanen ins Tal gebracht werden. Aber in jenem Augenblick dachte Jacopo – und nicht ohne Grund –, dass zwischen dem Attenti und dem Riposo zu viele Jahrhunderte vergangen waren, die Jungs hatten bis ins Greisenalter auf ihn gewartet, bis in den Tod, ihr Staub hatte sich zerstreut, um jenen leichten Dunst zu bilden, der jetzt die Weite der Hügel vor seinen Augen bläulich färbte.

Jacopo war allein. Hinter ihm lag ein leerer Friedhof, in seinen Händen lag die Trompete, vor ihm lagen die Hügel, die immer blauer einer hinter dem andern im Quittenmus des Unendlichen verschwammen, und rächend schien über seinem Kopf die befreite Sonne.

Da beschloss er zu weinen.

Doch plötzlich war dann der Leichenwagen erschienen, mit dem prächtigen Kutscher, der wie ein General des Kaisers angetan war, ganz in Cremeweiß und Schwarz und Silber, und die Pferde verhüllt mit barbarischen Masken, die nur die Augen freiließen, und mit Tüchern verhängt wie Bahren, und auf dem Wagen die gewundenen Säulen, die das Dach mit dem ägyptisch‑griechisch‑assyrischen Tympanon trugen, alles in Weiß und Gold. Der Mann mit dem Zweispitz hielt einen Augenblick vor dem einsamen Trompeter auf dem Dorfplatz, und Jacopo fragte ihn:»Bringen Sie mich nach Hause?«

Der Mann nickte gutmütig. Jacopo kletterte neben ihn auf den Bock, und so begann auf dem Totenwagen die Rückkehr in die Welt der Lebenden. Schweigend lenkte der nunmehr dienstfreie Charon seine funebren Rösser zu Tal, Jacopo saß aufrecht und feierlich da, die Trompete unter den Arm geklemmt, den glänzenden Mützenschirm über die Augen gezogen, durchdrungen von seiner neuen, unverhofften Rolle.

Sie fuhren die Serpentinen hinunter, in jeder Kurve öffnete sich eine neue Aussicht auf blaugrüne Weinberge, alle in einem blendenden Licht, und nach einer unbestimmbaren Zeit kamen sie in *** an. Sie überquerten die rings mit Arkaden gesäumte Piazza, die menschenleer war, wie es nur die Plätze im Monferrat an einem Sonntagnachmittag um zwei sein können. Ein Schulkamerad an der Ecke der Piazza hatte Jacopo auf dem Kutschbock sitzen sehen, die Trompete unterm Arm, die Augen geradeaus ins Unendliche, und hatte ihm bewundernd zugewinkt.

Dann war Jacopo nach Hause gekommen, er wollte nichts essen und nichts erzählen. Er hockte sich auf die Terrasse und begann Trompete zu spielen, leise, als hätte er einen Dämpfer, um die Stille der Siesta nicht zu stören.

Sein Vater war herausgekommen und hatte freundlich, mit der Ruhe dessen, der die Gesetze des Lebens kennt, zu ihm gesagt:»In einem Monat, wenn alles läuft, wie es laufen sollte, geht's wieder nach Hause. Es ist leider nicht möglich, dass du in der Stadt Trompete spielst. Der Hausherr würde uns kündigen. Also fang schon mal an, sie zu vergessen. Wenn's dich wirklich zur Musik hinzieht, lassen wir dich Klavierstunden nehmen.«Und dann, als er Jacopos Augen feucht werden sah:»Na komm schon, Dummerchen. Merkst du nicht, dass die schlimmen Tage vorbei sind?«

Am nächsten Tag brachte Jacopo die Trompete zu Don Tico zurück. Zwei Wochen später verließ die Familie ***, um sich in die Zukunft zu wenden.

 

 







Date: 2015-12-13; view: 383; Нарушение авторских прав



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