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Geburah 12 page
Artephius
Ich gelangte in einen unterirdischen Saal, spärlich erleuchtet, mit Wänden in Rocaille wie die Brunnen im Park. In einer Ecke entdeckte ich eine Öffnung, ähnlich dem Trichter eines gemauerten Schachts, und schon von weitem hörte ich Geräusche daraus hervorkommen. Ich trat näher, und die Geräusche wurden klarer unterscheidbar, bis ich einzelne Sätze verstand, deutlich artikuliert, als würden sie neben mir gesprochen. Ein Horchrohr, ein Ohr des Dionysios! Das Rohr führte offensichtlich zu einem der oberen Säle, und so hörte ich die Reden derer, die an seiner Mündung vorbeikamen. »Gnädige Frau, ich will Ihnen sagen, was ich noch niemandem gesagt habe. Ich bin müde... Ich habe mit Zinnober und mit Quecksilber experimentiert, ich habe alle Arten von Spiritus sublimiert, Fermente, Eisen‑und Stahlsalze und ihre Schlacken, und ich habe den Stein nicht gefunden. Dann habe ich Scheidewasser bereitet, ätzende Wasser, brennende Wasser, aber das Ergebnis war immer dasselbe. Ich habe Eierschalen, Schwefel, Vitriol und Arsen benutzt, Salmiak, Glassalz, Alkalisalz, Kochsalz, Steinsalz, Salpeter, Natronsalz, Attincarsalz, Weinsteinsalz, Alembrotsalz, aber glauben Sie mir, hüten Sie sich vor all diesen Stoffen. Meiden Sie die unvollkommenen Rotmetalle, sonst werden Sie so getäuscht, wie ich getäuscht worden bin. Ich habe alles probiert: das Blut, die Haare, die Seele Saturns, die Markasiten, das Aes ustum, den Mars‑Safran, die Späne und Schlacken des Eisens, das Bleioxyd, das Antimon – nichts. Ich habe mit allen Mitteln versucht, das Öl und das Wasser aus dem Silber zu kriegen, ich habe das Silber mit präpariertem Salz und ohne Salz kalziniert, auch mit Aquavit, und habe nur ätzende Öle gewonnen. Ich habe Milch, Wein und Lab verwendet, das Sperma der Sterne, das auf die Erde fällt, das Schellkraut, die Plazenta und eine Unzahl anderer Dinge, ich habe das Quecksilber mit den Metallen vermischt und sie zu Kristallen reduziert, ich habe sogar in der Asche gesucht... Schließlich... « »Schließlich?« »Nichts auf dieser Welt erfordert mehr Vorsicht als die Wahrheit. Sie zu sagen ist, wie wenn man sich einen Aderlass am Herzen macht... « »Genug, genug, Sie erregen mich... « »Nur Ihnen wage ich mein Geheimnis anzuvertrauen. Ich bin aus keiner Epoche und keinem Ort. Außerhalb der Zeit und des Raumes lebe ich meine ewige Existenz. Es gibt Menschen, die keine Schutzengel mehr haben: ich bin einer von ihnen... « »Aber warum haben Sie mich hierhergeführt?« Eine andere Stimme mischte sich ein:»Lieber Balsamo, spielen wir immer noch mit dem Unsterblichkeitsmythos?« »Dummkopf! Die Unsterblichkeit ist kein Mythos. Sie ist eine Tatsache.« Ich wollte gerade weitergehen, gelangweilt von dem Geschwätz, da hörte ich den Signor Salon. Er redete leise und aufgeregt, als hielt er jemanden am Arm zurück. Ich erkannte die Stimme von Pierre. »Also hören Sie«, sagte Salon,»Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, auch Sie wären hier wegen dieser alchimistischen Posse. Und sagen Sie nicht, Sie wären hergekommen, um frische Luft im Garten zu schnappen. Wissen Sie, daß Salomon de Caus, nachdem er in Heidelberg war, eine Einladung des Königs von Frankreich angenommen hatte, um sich mit der Säuberung von Paris zu befassen?« »Les façades?« »Er war nicht Malraux. Ich vermute, es handelte sich um die Kanalisation. Interessant, nicht wahr? Dieser Herr erfand symbolträchtige Orangenhaine und Obstgärten für die Kaiser, aber was ihn wirklich interessierte, waren die Untergründe von Paris. Zu jener Zeit gab es in Paris noch kein richtiges Kanalnetz. Es war nur eine Mischung aus offenen und gedeckten Gräben, über die man sehr wenig wusste. Die alten Römer wussten schon seit der republikanischen Zeit alles über ihre Cloaca Maxima, und fünfzehnhundert Jahre später weiß man in Paris nichts von dem, was unter der Erde vorgeht. Und de Caus nimmt die Einladung des Königs an, weil er mehr darüber wissen möchte. Was wollte er herausfinden? Nach de Caus schickte Colbert zur Reinigung der gedeckten Kanäle – das war der Vorwand, doch bedenken Sie, wir sind jetzt in der Zeit der Eisernen Maske! – Sträflinge in die Kloaken, aber die wateten durch den Kot und folgten dem Strom bis zur Seine und fuhren auf einem Boot davon, ohne daß jemand wagte, sie zurückzuhalten, diese entsetzlich stinkenden Kreaturen, eingehüllt in Wolken von Fliegen... Daraufhin postierte Colbert Gendarmen an den Ausgängen zur Seine, und die Sträflinge verreckten in den Stollen. In drei Jahrhunderten sind in Paris kaum drei Kilometer Kanäle abgedeckt worden. Aber im achtzehnten Jahrhundert hat man sechsundzwanzig Kilometer geschafft, und das am Vorabend der Revolution. Sagt Ihnen das nichts?« »Oh, vous savez, ça...« »Der Grund ist, daß jetzt neue Leute an die Macht kamen, die etwas wussten, was die früheren nicht gewusst hatten. Napoleon schickte Arbeitstrupps unter die Erde, die in der Dunkelheit vorrückten, zwischen den menschlichen Abfällen der Metropole. Ich sage Ihnen, wer damals den Mut hatte, dort unten zu arbeiten, konnte viel finden. Ringe, Gold, Halsketten, Juwelen – was war nicht alles seit wer‑weiß‑wann in jene Gräben gefallen! Es genügten Leute, die den Magen hatten, das Zeug zu verschlucken, um dann herauszukommen, ein Abführmittel zu nehmen und reich zu werden. Man hat auch entdeckt, daß viele Häuser einen unterirdischen Gang hatten, der direkt zu den Kloaken führte.« »Ça alors...« »Wozu wohl, in einer Zeit, als man den Nachttopf einfach aus dem Fenster entleerte? Und warum gibt es seit damals Kanäle mit einer Art Gehsteig daneben und mit Eisenringen in den Mauern, an denen man sich festhalten kann? Diese Gänge entsprachen genau jenen tapis francs, in denen die kriminelle Unterwelt – la pègre, wie man sie damals nannte – ihre Versammlungen abhielt: Orte, wo man geschützt und sicher war, und wenn die Polizei erschien, konnte man verschwinden und anderswo wieder auftauchen.« »C'est du roman‑feuilleton...« »Ach ja? Wen wollen Sie damit decken? Tatsache ist: unter Napoleon III. verpflichtete Baron Haussmann alle Pariser Haushalte per Gesetz, eine eigene Sickergrube zu bauen, und von da einen unterirdischen Gang zu den allgemeinen Kloaken... Einen Tunnel von zwei Meter dreißig Höhe und einem Meter dreißig Breite. Stellen Sie sich das vor! Jedes Haus in Paris durch einen unterirdischen Gang mit den Kanälen verbunden. Und wissen Sie, wie lang die Pariser Kanäle heute sind? Zweitausend Kilometer, auf mehreren Ebenen. Und all das hat angefangen mit dem, der in Heidelberg diese Gärten entworfen hat... « »Et alors?« »Ich sehe, Sie wollen partout nicht reden. Aber Sie wissen etwas, das Sie mir nicht sagen wollen.« » S’il vous plait, laissez moi, es ist spät, man erwartet mich für eine Réunion.«Geräusch von Schritten. Ich begriff nicht, worauf Salon hinauswollte. Ich sah mich um, eingeengt zwischen der Muschelwand und der Ohrmuschel, und fühlte mich im Untergrund, auch ich unter einem Gewölbe, und mir schien, als wäre die Mündung dieses Horchkanals nichts anderes als der Eingang zu einem Abstieg in finstere Gänge, hinunter ins Zentrum der Erde, ins Reich der Nibelungen. Mich fröstelte. Gerade wollte ich gehen, als ich erneut eine Stimme hörte:»Kommen Sie mit. Wir fangen gleich an. Im geheimen Saal. Rufen Sie die andern.«
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Dieses Goldene Vlies wird bewacht von einem dreiköpfigen Drachen, dessen erster Kopf aus dem Wasser stammt, der zweite aus der Erde und der dritte aus der Luft. Es ist unabdingbar, daß diese drei Köpfe in einem einzigen übermächtigen Drachen enden, der alle anderen Drachen verschlingen wird. Jean d’Espagnet, Arcanum Hermeticae Pilosophiae Opus, 1623, 138
Ich fand meine Gruppe wieder und sagte Agliè, ich hätte jemanden von einer Versammlung reden hören. »Ah, wir sind neugierig!«sagte Agliè.»Aber ich verstehe Sie. Wer sich in die hermetischen Geheimnisse vorwagt, der will alles darüber wissen. Nun denn, heute Abend soll, soviel ich weiß, die Initiation eines neuen Mitglieds des Alten und Angenommenen Rosenkreuzordens stattfinden.« »Kann man das sehen?«fragte Garamond. »Man kann nicht. Man darf nicht. Man dürfte nicht. Man könnte nicht. Aber machen wir's wie jene Personen des griechischen Mythos, die sahen, was sie nicht sehen durften, und stellen wir uns dem Zorn der Götter. Ich erlaube Ihnen, einen Blick darauf zu werfen.«Er führte uns eine Treppe hinunter in einen dunklen Gang, hob einen Vorhang hoch, und durch eine Scheibe sahen wir in den tiefer liegenden Saal, der von etlichen Kohlebecken erleuchtet wurde. Die Wände waren mit Damast tapeziert und mit Lilien bestickt, im Hintergrund erhob sich ein Thron unter einem vergoldeten Baldachin. Rechts und links neben dem Thron leuchteten, aus Karton oder Plastik geschnitten und auf Dreifüße gestellt, eine Sonne und ein Mond, eher grob ausgeführt, aber mit Stanniolpapier oder Blech überzogen, natürlich gold‑und silberglänzend und nicht ohne einen gewissen Effekt, denn jedes Himmelslicht wurde direkt von den Flammen eines Kohlebeckens angestrahlt. Über dem Baldachin hing ein enormer Stern von der Decke, glitzernd von Edelsteinen oder Glasimitationen. Die Decke war mit blauem Damast bespannt, auf dem große silberne Sterne glänzten. Vor dem Thron stand ein langer Tisch, dekoriert mit Palmwedeln, auf dem ein Degen lag, und direkt vor dem Tisch erhob sich ein ausgestopfter Löwe mit aufgerissenem Rachen. Jemand musste ihm eine rote Lampe in den Kopf getan haben, denn die Augen glühten feuerrot, und der Rachen schien Flammen zu speien. Ich dachte sofort an die Handwerkskunst des Signor Salon und begriff endlich, auf welche kuriosen Kunden er damals in München angespielt hatte. Am Tisch saß Professor Bramanti, angetan mit einer roten Tunika und gestickten grünen Paramenten, einem weißen Umhang mit goldenem Saum, einem schimmernden Kreuz auf der Brust und einem Hut in Form einer Mitra, geschmückt mit einem rot‑weißen Federbusch. Vor ihm, in hieratischer Haltung, etwa zwanzig Personen, gleichfalls in roter Tunika, doch ohne Paramente. Alle trugen etwas Goldenes auf der Brust, das mir irgendwie bekannt vorkam. Es erinnerte mich an ein Renaissanceporträt, an eine große Habsburgernase, an jenes seltsame Lamm mit herunterhängenden Beinen, das an der Taille aufgehängt ist. Ja, das war's, diese Leute schmückten sich mit einer akzeptablen Imitation des Goldenen Vlieses. Bramanti sprach mit erhobenen Armen, als rezitierte er eine Liturgie, und die Anwesenden respondierten im Chor. Nach einer Weile hob Bramanti den Degen, und alle zogen etwas wie ein Stilett oder einen Brieföffner aus der Tunika und hielten es hoch. In diesem Moment ließ Agliè den Vorhang fallen. Wir hatten schon zu viel gesehen. Wir entfernten uns leise (auf Pink Panthers Pfoten, wie Diotallevi präzisierte, erstaunlich gut informiert über die Perversionen der modernen Welt) und fanden uns draußen im Garten wieder, ein wenig außer Atem. Garamond war bestürzt.»Sind das... Freimaurer?« »Oh«, sagte Agliè,»was heißt Freimaurer? Es sind die Adepten eines Ritterordens, der sich auf die Rosenkreuzer beruft und indirekt auf die Templer.« »Dann hat das alles gar nichts mit Freimaurerei zu tun?«fragte Garamond noch einmal. »Wenn es eine Gemeinsamkeit gibt zwischen dem, was Sie gesehen haben, und der Freimaurerei, dann die Tatsache, daß auch Bramantis Ritus ein Hobby für Provinzhonoratioren und Politikaster ist. Aber so war's von Anfang an, die Freimaurerei war noch nie etwas anderes als eine schwächliche Anknüpfung an die Templerlegende. Und dies hier ist die Karikatur einer Karikatur. Nur daß diese Herren sie fürchterlich ernst nehmen. Leider! Die Welt wimmelt von Rosenkreuzern und Templern wie denen, die Sie heute Abend hier gesehen haben. Nicht von ihnen dürfen Sie eine Offenbarung erwarten, auch wenn gerade sie es sind, unter denen man einen glaubwürdigen Initiierten antreffen könnte.« »Aber schließlich«, fragte Belbo, und er fragte es ganz ohne Ironie, ohne Argwohn, als beträfe die Frage ihn persönlich,»schließlich verkehren doch Sie hier. An wen glauben Sie... Pardon: glaubten Sie unter all diesen hier?« »An niemanden selbstverständlich. Sehe ich aus wie ein gläubiger Mensch? Ich betrachte sie mit dem kühlen Blick, dem Verständnis und dem Interesse, mit welchen ein Theologe die neapolitanischen Massen betrachten kann, die voller Erregung auf das Wunder von San Gennaro warten. Diese Massen bezeugen einen Glauben, ein tiefes Bedürfnis nach Gläubigkeit, und der Theologe bewegt sich unter diesen schwitzenden und schreienden Leuten, weil er unter ihnen den unbekannten Heiligen antreffen könnte, den Träger einer höheren Wahrheit, der eines Tages imstande sein könnte, ein neues Licht auf das Mysterium der allerheiligsten Trinität zu werfen. Doch die allerheiligste Trinität ist nicht San Gennaro.« Er war nicht zu packen. Ich wusste nicht, wie ich seine Haltung definieren sollte, diesen hermetischen Skeptizismus, diesen liturgischen Zynismus, diese höhere Ungläubigkeit, die ihn dazu brachte, die Würde jedes von ihm verachteten Aberglaubens anzuerkennen. »Es ist doch ganz einfach«, sagte er zu Belbo.»Wenn die Templer, ich meine die wahren, ein Geheimnis hinterlassen und eine Kontinuität gestiftet haben, dann muß man nach ihren Erben suchen, und das in denjenigen Kreisen, in denen sie sich am besten verbergen könnten, wo sie womöglich selber Riten und Mythen erfinden, um sich unbemerkt bewegen zu können wie Fische im Wasser. Was macht die Polizei, wenn sie den genialen Ausbrecher sucht, das Genie des Bösen? Sie wühlt in den bas fonds, im Bodensatz der Gesellschaft, in den Spelunken, wo sich die kleinen Strolche herumtreiben, die niemals soweit gelangen werden, die grandiosen Verbrechen des Gesuchten auch nur zu konzipieren. Was macht der Stratege des Terrorismus, um seine künftigen Anhänger zu rekrutieren, um sich mit den Seinen zu treffen und sie zu erkennen? Er geht in die Lokale der Pseudo‑Aussteiger, wo viele, die nie wirklich aussteigen werden, weil sie viel zu schwach dazu sind, ostentativ die vermeintlichen Verhaltensweisen ihrer Idole mimen. Wo sucht man das verlorene Licht? In den Bränden sucht man es, oder im Unterholz, wo nach dem Brand die Flammen weiterschwelen unter den toten Wurzeln, dem Fettschlamm, dem halbverbrannten Laub. Und wo könnte sich der wahre Templer besser verbergen als in der Menge seiner Karikaturen?«
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Wir betrachten als druidische Gesellschaften per definitionem diejenigen Gesellschaften, die sich als druidisch in ihrem Namen oder in ihren Zielen bezeichnen und Initiationen gewähren, die sich auf das Druidentum berufen. M. Raoult, Les druides. Les sociétés initiatiques celtes cont poraines, Paris, Rocher, 1983, p. 18
Mitternacht rückte näher, und nach Agliès Programm erwartete uns die zweite Überraschung des Abends. Wir verließen die palatinischen Gärten und machten uns erneut auf die Fahrt durch die Hügel. Nach einer Dreiviertelstunde ließ Agliè die beiden Wagen am Rand einer Waldung halten. Wir müssten jetzt ein Gestrüpp durchqueren, sagte er, um zu einer Lichtung zu gelangen, und es gebe dorthin weder Straßen noch Wege. Wir stapften auf einem leicht ansteigenden Trampelpfad durch das Unterholz. Es war nicht feucht, aber die Sohlen rutschten auf einer Schicht fauliger Blätter und glitschiger Wurzeln. Agliè knipste ab und zu eine Taschenlampe an, um gangbare Wege zu finden, aber er machte sie jedes Mal gleich wieder aus, weil es – wie er sagte – nicht nötig sei, daß unser Kommen den Zelebranten signalisiert werde. Einmal setzte Diotallevi zu einem Kommentar an, ich weiß nicht mehr genau, was er sagte, vielleicht war es etwas von Rotkäppchen und dem Wolf, doch Agliè bat ihn mit einer gewissen Strenge zu schweigen. Schon als wir aus den Autos gestiegen waren, hatten wir ferne Stimmen gehört. Endlich gelangten wir an den Rand der Lichtung, die nun von diffusen Lichtern beleuchtet erschien, von kleinen Fackeln oder Funzeln, die am Boden glommen, ein mattes Silbergefunkel, als glühte da eine gasförmige Substanz mit chemischer Kälte in Seifenblasen, die über den Grasboden tanzten. Agliè hieß uns stehen bleiben, wo wir standen, noch im Schutz des Gebüschs, und dort zu warten, ohne uns bemerkbar zu machen. »In Kürze werden die Priesterinnen erscheinen. Besser gesagt, die Druidinnen. Es geht um eine Beschwörung der großen kosmischen Jungfrau Mikil – Sankt Michael ist eine volkstümlich‑christliche Adaptation von ihr, nicht zufällig ist er ein Engel, mithin androgyn, so daß er den Platz einer weiblichen Gottheit einnehmen konnte... « »Wo kommen die her?«flüsterte Diotallevi. »Aus verschiedenen Gegenden, aus der Normandie, aus Norwegen, Irland... Es handelt sich um ein ziemlich singuläres Ereignis, und dies hier ist ein besonders geeigneter Ort für den Ritus.« »Warum?«fragte Garamond. »Manche Orte sind eben magischer als andere.« »Aber was für Leute sind das... im Leben?« »Nun, Leute eben. Sekretärinnen, Versicherungsagentinnen, Dichterinnen. Leute, denen Sie morgen auf der Straße begegnen könnten, ohne sie wiederzuerkennen.« Wir sahen jetzt eine kleine Schar in die Mitte der Lichtung strömen. Ich begriff, daß die kalten Lichter, die ich gesehen hatte, kleine Lampen waren, die die Priesterinnen in der Hand trugen, und daß sie mir deshalb so flach über dem Boden schwebend erschienen waren, weil die Lichtung auf dem Gipfel eines Hügels lag und ich die Druidinnen an den Rändern des Hochplateaus hatte auftauchen sehen. Sie trugen weiße Gewänder, die im leichten Wind flatterten. Sie ordneten sich zu einem Kreis, und drei von ihnen traten in die Mitte. »Das sind die drei hallouines von Lisieux, von Clonmacnois und von Pino Torinese«, flüsterte Agliè. Belbo fragte, warum gerade die, aber Agliè straffte die Schultern und sagte:»Still, warten Sie ab. Ich kann Ihnen nicht in drei Worten das Ritual und die Hierarchie der nordischen Magie erklären. Begnügen Sie sich mit dem, was ich Ihnen sage. Wenn ich nicht mehr sage, liegt es daran, daß ich nicht mehr weiß... oder nicht mehr sagen darf. Ich muß einige Diskretionsregeln beachten... « Im Zentrum der Lichtung lag ein Haufen Steine, der vage an einen Dolmen erinnerte. Vermutlich war die Lichtung gerade deswegen ausgesucht worden. Eine Priesterin stieg auf den Dolmen und blies in eine Trompete. Das Instrument glich noch mehr als das, welches wir vor ein paar Stunden gesehen hatten, einer Fanfare im Triumphmarsch der Aida. Doch es erklang ein weicher und dunkler Ton, der von sehr weither zu kommen schien. Belbo fasste mich am Arm:»Das ist das Ramsinga, das Alphorn der Thugs beim heiligen Banyan... « Ich war taktlos. Ich begriff nicht, daß er den Scherz nur gemacht hatte, um damit andere Analogien zu verdrängen, und stieß das Messer in die Wunde:»Sicher war's mit dem Baryton nicht so suggestiv.« Belbo nickte.»Die sind genau deswegen hier, weil sie kein Baryton wollen«, sagte er. Ich frage mich, ob es nicht an jenem Abend war, daß er eine Verbindung zu sehen begann, einen Zusammenhang zwischen seinen Träumen und dem, was in jenen Monaten mit ihm geschah. Agliè hatte unseren Dialog nicht verfolgt, uns aber flüstern hören.»Es handelt sich weder um eine Warnung noch um einen Appell«, sagte er.»Es ist eine Art Ultraschallsignal, um Kontakt mit den unterirdischen Wellen herzustellen. Sehen Sie, jetzt halten sich die Druidinnen alle im Kreis an den Händen. Sie bilden eine Art lebendigen Akkumulator, um die Erdvibrationen aufzufangen und zu bündeln. Jetzt müsste die Wolke erscheinen... « »Welche Wolke?«flüsterte ich. »Die Tradition nennt sie grüne Wolke. Warten Sie... « Ich erwartete keinerlei grüne Wolke. Aber fast jählings erhob sich aus der Erde ein weicher Dunst – ein Nebel, hätte ich gesagt, wenn es eine uniforme Masse gewesen wäre. Es war eine flockige Masse, die sich an einem Punkt zusammenklumpte und dann, vom Wind getrieben, wie ein Gewölle aus Zuckerwatte aufstob, um durch die Luft zu schweben und sich an einem anderen Punkt der Lichtung niederzulassen. Der Effekt war einzigartig, bald tauchten die Bäume im Hintergrund auf, bald vermischte sich alles in einem weißlichen Dunst, bald wirbelte das Geflocke ins Zentrum der Lichtung, nahm uns die Sicht auf das, was geschah, ließ aber sowohl die Ränder frei als auch den Himmel, an dem der Mond weiterhin schien. Die Flocken bewegten sich ruckartig, unerwartet, als gehorchten sie den Stößen einer launischen Brise. Ich dachte zuerst an einen chemischen Kunstgriff, dann überlegte ich: Wir befanden uns auf etwa sechshundert Meter Höhe, es konnten durchaus echte Nebelschwaden sein. Waren sie im Ritus vorgesehen, womöglich von ihm evoziert? Nein, das wohl nicht, aber die Priesterinnen hatten damit gerechnet, daß sich auf dieser Höhe, unter günstigen Umständen, solche über den Boden irrenden Schwaden bilden könnten. Es war schwer, sich dem Zauber der Szenerie zu entziehen, auch weil die weißen Gewänder der Priesterinnen mit dem Weiß der Schwaden verschmolzen und ihre Gestalten aus der milchigen Dunkelheit aufzutauchen und wieder in sie zu versinken schienen, als würden sie von ihr erzeugt. Es gab einen Moment, in dem die Wolke das ganze Zentrum der Wiese erfüllte und einige Streifen, die zerfasernd aufstiegen, fast den Mond verdeckten, wenn auch nicht so sehr, daß sie die ganze Lichtung verdunkelten, denn an den Rändern blieb sie immer noch hell. In diesem Moment sahen wir eine Druidin aus der Wolke hervorkommen und direkt auf uns zulaufen, schreiend, mit vorgestreckten Armen, so daß ich schon dachte, sie hätte uns entdeckt und schleudere uns Flüche entgegen. Doch als sie dicht vor uns angelangt war, änderte sie ihre Richtung und begann, im Kreis um die Wolke zu laufen, verschwand nach links im weißlichen Dunst, um nach ein paar Minuten von rechts wieder zu erscheinen und uns erneut sehr nahe zu kommen, so daß ich ihr Gesicht sehen konnte. Es war das Gesicht einer Wahrsagerin mit großer dantesker Nase über einem schmalen, schlitzdünnen Mund, der sich öffnete wie eine unterseeische Blüte, zahnlos bis auf zwei Schneidezähne und einen asymmetrischen Eckzahn. Der Blick war beweglich, adlerscharf, stechend. Ich hörte, oder glaubte zu hören, oder glaube jetzt, mich zu erinnern, gehört zu haben – und lege über diese Erinnerung andere Erinnerungsbilder – zusammen mit einer Reihe von Worten, die ich damals für gälisch hielt, einige Beschwörungen in einer Art von Latein, etwas wie:» O pegnia (oh, e oh! intus) et eee uluma!!! «, und mit einem Schlag war der Nebel so gut wie verschwunden, die Lichtung klärte sich wieder, und ich sah, daß sie von einem Rudel Schweine erfüllt worden war, Schweine mit Ketten aus sauren Äpfeln um die gedrungenen Hälse. Die Druidin, die vorhin die Trompete geblasen hatte, zückte, immer noch auf dem Dolmen stehend, ein Messer. »Gehen wir«, sagte Agliè trocken.»Es ist zu Ende.« Die Wolke war plötzlich über uns und hüllte uns ein, so daß ich meine Nachbarn kaum noch sehen konnte. »Was heißt zu Ende?«protestierte Garamond.»Mir scheint, das Beste fangt gerade erst an!« »Zu Ende ist das, was Sie sehen konnten. Mehr gibt es nicht. Respektieren wir den Ritus. Gehen wir.« Wir traten zurück in den Wald, dessen Feuchtigkeit uns sofort umfing. Wir bewegten uns fröstelnd, stolpernd und rutschend auf faulendem Laub, keuchend und ungeordnet wie eine Armee auf der Flucht. Schließlich fanden wir uns auf der Straße wieder. Wir könnten in knapp zwei Stunden in Mailand sein, sagte Agliè. Bevor er zu Garamond in den Mercedes stieg, verabschiedete er sich mit den Worten:»Verzeihen Sie bitte, wenn ich das Schauspiel unterbrochen habe. Ich wollte Ihnen etwas zeigen, jemanden, der um uns lebt und für den im Grunde auch Sie mittlerweile arbeiten. Aber mehr gab es nicht zu sehen. Als ich über dieses Ereignis informiert wurde, musste ich versprechen, die Zeremonie nicht zu stören. Unsere Anwesenheit hätte die folgenden Phasen negativ beeinflusst« »Aber was ist mit den Schweinen? Und was passiert jetzt?«fragte Belbo. »Was ich sagen konnte, habe ich gesagt.«
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»Woran erinnert dich dieser Fisch?«»An andere Fische.«»Woran erinnern dich die anderen Fische?«»An andere Fische.« Joseph Heller, Catch22, New York, Simon & Schuster, 1961, XXVII
Ich kam mit vielen Gewissensbissen aus Piemont zurück. Aber kaum sah ich Lia wieder, vergaß ich alle Begierden, die mich gestreift hatten. Allerdings hatte der Ausflug andere Spuren in mir hinterlassen, und ich finde es jetzt beunruhigend, daß sie mich damals nicht beunruhigt hatten. Ich war dabei, die Bilder für die Geschichte der Metalle Kapitel für Kapitel definitiv zu ordnen, und es gelang mir nicht mehr, mich dem Dämon der Ähnlichkeit zu entziehen, wie seinerzeit in Rio. Worin unterschieden sich dieser zylindrische Ofen von Reaumur, 1750, dieser Brutkasten zum Eierausbrüten und dieser barocke Athanor, ein Mutterleib, ein obskurer Uterus zum Ausbrüten von wer weiß was für mystischen Metallen? Es war, als hätte man das Deutsche Museum in jenem piemontesischen Schloss installiert, das ich eine Woche zuvor besucht hatte. Es fiel mir immer schwerer, die Welt der Magie von dem zu trennen, was wir heute das Universum der Präzision und Exaktheit nennen. Ich fand Personen wieder, die mir in der Schule als Träger des Lichts der Mathematik und Physik inmitten der Finsternis des Aberglaubens nahegebracht worden waren, und entdeckte, daß sie bei ihrer Arbeit im Laboratorium mit einem Fuß in der Kabbala gestanden hatten. War ich womöglich dabei, die ganze Geschichte mit den Augen unserer Diaboliker neu zu lesen? Ich riss mich zusammen, aber dann fand ich unverdächtige Texte, die mir erzählten, wie die positivistischen Physiker, sobald sie abends die Universität verließen, eiligst hingingen, um sich in telepathische Séancen und astrologische Tafelrunden zu stürzen, und wie Newton zu den Gesetzen der universalen Gravitation gelangt war, weil er an die Existenz okkulter Kräfte glaubte (was mich an seine Ausflüge in die rosenkreuzerische Kosmologie erinnerte). Ich hatte mir die Ungläubigkeit zu einer wissenschaftlichen Pflicht gemacht, aber nun musste ich auch den Meistern misstrauen, die mich gelehrt hatten, ungläubig zu werden. Ich bin wie Amparo, sagte ich mir: ich glaube nicht daran, aber ich falle darauf herein. Und ich ertappte mich beim Nachdenken darüber, daß die Höhe der Großen Pyramide im Grunde ja wirklich ein Milliardstel der Entfernung Erde‑Sonne betrug, oder daß es ja tatsächlich Analogien zwischen keltischer und indianischer Mythologie gab. Und so begann ich, alles und jedes, was mich umgab, zu befragen, die Häuser, die Firmenschilder, die Wolken am Himmel und die Abbildungen in den Büchern, um ihnen nicht ihre eigene Geschichte, sondern eine andere zu entlocken, eine, die sie gewiss verbargen, aber die sie letztlich gerade aufgrund und kraft ihrer mysteriösen Ähnlichkeiten enthüllten. Es rettete mich Lia, jedenfalls für den Moment. Ich hatte ihr alles (oder fast alles) von unserem Ausflug nach Piemont erzählt, und jeden Abend kam ich mit neuen kuriosen Entdeckungen heim, um sie in meine Kartei der Querverweise einzutragen.»Iss, du bist dünn wie ein Nagel«, lautete ihr Kommentar. Eines Abends setzte sie sich seitlich neben mich an den Schreibtisch, teilte die Mähne in der Mitte der Stirn, um mir gerade in die Augen zu sehen, und legte die Hände in den Schoß, wie es Hausfrauen tun. So hatte sie sich noch nie hingesetzt: die Beine gespreizt, so daß der Rock sich über den Knien spannte. Nicht sehr anmutig, dachte ich. Aber dann sah ich in ihr Gesicht, und es schien mir zu leuchten, übergossen von einer zarten Färbung. Und ich hörte ihr – noch ohne zu wissen warum – mit Respekt zu. Date: 2015-12-13; view: 393; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ |