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Zweiter Teil





 

Der Priester sprach sein Gebet an die aufgehende Sonne und bat den Gott des Sturmes und die Göttin der Tiere um Barmherzigkeit für die Toren. Jemand hatte ihm am Morgen erzählt, daß Elia den Sohn der Witwe aus dem Reich der Toten zurückgeholt hatte.

Die Stadt war in hellem Aufruhr vor Schreck und Erregung. Alle glaubten, daß der Israelit seine Macht von den Göttern des Fünften Berges erhalten habe und es nun noch schwieriger sein werde, ihn zu töten.»Doch die Zeit wird kommen«, tröstete sich der Priester.

Die Götter würden ihnen schon Gelegenheit geben, mit Elia Schluß zu machen. Der göttliche Zorn aber hatte einen anderen Grund, und die Assyrer am Taleingang waren ein Zeichen dafür. Warum war der jahrhundertealte Friede plötzlich gefährdet? Er wußte die Antwort: die Erfindung von Byblos.

Sein Land hatte eine Form der Schrift erfunden, die allen zugänglich war, selbst denen, die noch unfähig waren, sie zu benutzen. Jeder konnte sie in kurzer Zeit lernen – und das bedeutete das Ende der Zivilisation.

Der Priester wußte, daß von allen Waffen des Menschen die schrecklichste und mächtigste das Wort war. Dolche und Lanzen ließen blutige Spuren zurück. Pfeile konnten von fern gesehen werden. Gifte konnten letztlich erkannt und vermieden werden.

Doch das Wort konnte zerstören, ohne Spuren zu hinterlassen.

Sobald die heiligen Rituale unkontrolliert verbreitet werden konnten, würden viele Menschen sie benutzen, um das Universum zu verändern, und die Götter würden sich empören.

Bis zu diesem Augenblick hatte nur die Priesterkaste zu den altehrwürdigen Überlieferungen und Riten Zugang, die immer nur mündlich überliefert wurden, mit der Auflage strengster Geheimhaltung. Man brauchte Jahre des Studiums, um die Schriftzeichen zu entziffern, die die Ägypter über die ganze Welt verbreitet hatten. Daher konnten nur die Gebildetsten – Schreiber und Priester – schriftlich Informationen austauschen.

Andere Kulturen hatten ihre eigenen uralten Formen der Geschichtsaufzeichnung, doch die waren so kompliziert, daß niemand sich außerhalb der Gebiete, in denen sie benutzt wurden, die Mühe machte, sie zu erlernen. Die Erfindung von Byblos hingegen war hochgefährlich. Sie konnte in jedem Land, unabhängig von der jeweiligen Sprache, benutzt werden. Selbst die Griechen, die gemeinhin alles ablehnten, was nicht in ihren eigenen Städten entstanden war, hatten bereits die Schrift von Byblos für ihre Handelsgeschäfte übernommen. Da sie Spezialisten im Übernehmen von Neuheiten waren, hatten sie der Erfindung von Byblos bereits einen griechischen Namen gegeben: Alphabet.

Die jahrhundertelang gehüteten Geheimnisse liefen Gefahr, ans Licht zu kommen. Im Vergleich dazu war die Gotteslästerung des Elia – jemanden vom anderen Ufer des Todes, wie die Ägypter sagten, wieder zurückzuholen – gar nichts.

>Wir werden bestraft, weil wir nicht mehr sorgfältig hüten können, was heilig ist<, dachte der Priester. >Die Assyrer stehen vor unseren Toren, werden das Tal durchqueren und die Zivilisation unserer Vorfahren zerstören.< Und sie würden der Schrift ein Ende bereiten. Der Priester wußte, daß die Anwesenheit des Feindes kein Zufall war.

Das war der Preis, der zu zahlen war. Die Götter hatten alles so gut geplant, daß niemand bemerkte, daß sie dahintersteckten.

Sie hatten einen Stadthauptmann an die Macht gebracht, der sich mehr um den Handel als das Heer kümmerte, sie hatten die Gier der Assyrer erregt, hatten es immer weniger regnen lassen und einen Fremden in die Stadt gebracht, um sie zu entzweien. Bald schon würde die endgültige Schlacht geschlagen werden. Akbar würde weiter bestehen – doch die gefährlichen Byblos‑Schriftzeichen würden auf ewig vom Angesicht der Erde getilgt.

Der Priester reinigte sorgfältig den Stein, der den Ort bezeichnete, an dem vor vielen Generationen der fremde Pilger den ihm vom Himmel gezeigten Ort gefunden hatte, an dem er dann die Stadt gründete. >Wie schön er doch ist<, dachte der Priester. Die Steine waren ein Bild der Götter – hart und widerstandsfähig, unter allen Umständen überlebensfähig und einfach da. Eine mündlich überlieferte Legende besagte, daß die Mitte der Welt durch einen Stein markiert sei, und als Kind hatte der Priester in die Welt hinausziehen wollen, um ihn zu suchen. Dieser Wunsch war eigentlich erst erstorben, als die Assyrer am Taleingang auftauchten; da hatte er begriffen, daß er diesen Traum niemals würde verwirklichen können.

»Sei's drum. Das Schicksal will offenbar, daß meine Generation dafür büßen muß, daß sie die Götter erzürnt hat. Es gibt in der Geschichte der Welt Unabwendbares, und wir müssen es akzeptieren.«Er gelobte sich, den Göttern zu gehorchen: Er würde den Krieg nicht zu verhindern suchen.

»Vielleicht sind wir am Ende der Zeiten angelangt. Die Krisen werden immer größer und lassen sich nicht länger umschiffen.«Der Priester nahm seinen Stab und trat aus dem kleinen Tempel heraus. Er war mit dem Kommandanten der Garnison verabredet.

Er war schon fast an der Südmauer angelangt, als ihn Elia ansprach.

»Der Herr hat einen Jungen von den Toten erweckt«, sagte der Israelit.»Die Stadt glaubt an meine Macht.«»Der Junge wird nicht tot gewesen sein«, entgegnete der Priester.»Dies ist schon häufiger geschehen. Das Herz bleibt stehen, und dann beginnt es plötzlich wieder zu schlagen.

Heute redet die ganze Stadt darüber, doch schon morgen werden sie sich daran erinnern, daß die Götter nah sind und hören können, was sie sagen. Dann werden sie wieder verstummen. Ich muß jetzt gehen, denn die Assyrer bereiten sich zur Schlacht.«»Hört, was ich Euch zu sagen habe: Nach dem Wunder von gestern abend habe ich außerhalb der Stadtmauern geschlafen, denn ich brauchte etwas Ruhe. Da erschien mir wieder der Engel, den ich schon oben auf dem Fünften Berg gesehen hatte. Und er sagte zu mir: Akbar wird vom Krieg zerstört werden.«»Städte können zerstört werden«, sagte der Priester.»Sie werden siebenundsiebzig Mal wieder aufgebaut, denn die Götter wissen, wohin sie sie gebaut haben, und wollen sie an diesem bestimmten Ort haben.«Der Stadthauptmann kam von einer Gruppe Höflingen begleitet heran und fragte:»Was sagt Ihr da?«»Ihr sollt den Frieden suchen«, antwortete Elia.

»Wenn Ihr Angst habt, so geht doch dahin zurück, woher Ihr gekommen seid«, entgegnete der Priester barsch.

»Isebel und ihr König warten auf die geflohenen Propheten, um sie zu töten«, sagte der Stadthauptmann.»Doch ich möchte gern, daß Ihr mir berichtet, wie es Euch gelungen ist, auf den Fünften Berg zu steigen, ohne vom Feuer vernichtet zu werden.«Der Priester mußte diese Unterhaltung unterbrechen. Der Stadthauptmann schien mit den Assyrern verhandeln und Elia für seine Zwecke benutzen zu wollen.

»Hört nicht auf ihn«, sagte er.»Gestern, vor Gericht, sah ich ihn vor Angst weinen.«»Meine Tränen galten dem Bösen, das ich meinte, über Euch gebracht zu haben. Ich fürchte nur zweierlei: den Herrn und mich selbst. Ich bin nicht aus Israel geflohen und bin bereit, dorthin zurückzukehren, sobald es mir der Herr gestattet. Dann werde ich dem Treiben der schönen Prinzessin ein Ende bereiten, und der Glaube Israels ist gerettet.«»Man muß ein steinernes Herz haben, um dem Zauber Isebels zu widerstehen«, höhnte der Priester.»Und sonst schicken wir Euch eben eine noch schönere Frau, so wie wir es schon vor Isebel getan haben.«Der Priester hatte recht. Vor zweihundert Jahren hatte eine Prinzessin aus Sidon den weisesten aller Herrscher Israels, den König Salomo, verführt. Sie hatte ihn dazu gebracht, einen Altar zu Ehren der Göttin Astarte zu errichten.

Wegen dieser Gotteslästerung hatte der Herr die Heere aller benachbarten Völker sich erheben lassen, und Salomo war entthront worden.

>Dasselbe wird mit Ahab, dem Ehemann von Isebel, geschehen<, dachte Elia, denn er selbst würde dafür sorgen, sobald der Herr die Stunde für gekommen hielt. Was brachte es schon, diese beiden Männer zu überzeugen? Sie waren wie jene, die er vergangene Nacht auf dem Boden im Hause der Witwe hatte knien und die Götter des Fünften Berges loben sehen. Sie würden niemals umdenken lernen, die Tradition war stärker.

»Schade, daß wir das Gesetz der Gastfreundschaft respektieren müssen«, sagte der Stadthauptmann, der Elias Bemerkungen über den Krieg scheinbar vergessen hatte.

»Sonst würden wir Isebel helfen, den Propheten den Garaus zu machen.«»Dies ist nicht der Grund, weshalb Ihr mein Leben schont. Ihr wißt, daß ich eine wertvolle Ware bin, und Ihr wollt Isebel Gelegenheit geben, mich eigenhändig zu töten. Dennoch – seit gestern schreibt mir das Volk magische Kräfte zu. Es denkt, ich hätte die Götter dort oben auf dem Fünften Berg getroffen. Ihr würdet zwar nicht zögern, Eure Götter zu beleidigen, wollt aber die Einwohner nicht beunruhigen.«Der Stadthauptmann und der Priester ließen Elia allein weiterreden und setzten ihren Weg Richtung Stadtmauer fort.

Dies war der Augenblick, als der Priester beschloß, den Israeliten bei der ersten besten Gelegenheit zu töten. Was bisher nur eine Tauschware gewesen war, hatte sich zur Bedrohung ausgewachsen.

Elia blickte ihnen nach. Was könnte er tun, fragte er sich verzweifelt, um dem Herrn zu dienen? Plötzlich begann er mitten auf dem Platz zu rufen:»Volk von Akbar! Gestern abend bin ich auf den Fünften Berg gestiegen und habe dort mit den Göttern gesprochen. Kaum war ich wieder zurück, konnte ich einen Jungen aus dem Reich der Toten zurückholen!«Die Leute umringten ihn. Die Geschichte war bereits stadtbekannt. Der Stadthauptmann und der Priester blieben auf halbem Weg stehen und machten kehrt, um zu sehen, was geschah. Der israelitische Prophet erzählte, er habe gesehen, wie die Götter des Fünften Berges einen höheren Gott anbeteten.

»Ich lasse ihn umbringen«, sagte der Priester.

»Damit sich das Volk gegen uns erhebt?!«entgegnete der Stadthauptmann, der wissen wollte, was der Fremde sagte.»Es ist besser, wir warten, bis er einen Fehler macht.«»Bevor ich vom Berg herabstieg, haben mich die Götter damit beauftragt, dem Stadthauptmann zu helfen, mit den Assyrern fertig zu werden!«fuhr Elia fort.»Ich weiß, er ist ein ehrenhafter Mann und möchte mich anhören, doch es gibt Leute, die mich bewußt von ihm fernhalten, weil sie an einem Krieg interessiert sind.«»Der Israelit ist ein heiliger Mann«, sagte ein Alter zum Stadthauptmann.»Niemand kann auf den Fünften Berg steigen, ohne vom Feuer des Himmels erschlagen zu werden, doch diesem Mann ist es gelungen – und jetzt erweckt er sogar Tote zum Leben.«»In Tyrus, Sidon und allen anderen phönizischen Städten herrscht die Tradition des Friedens«, sagte ein anderer Alter.

»Wir haben schon andere, schlimmere Bedrohungen erlebt und durchgestanden.«Einige Kranke und Krüppel kamen heran und bahnten sich einen Weg durch die Menge, berührten Elias Kleider und baten ihn, sie von ihren Leiden zu heilen.

»Bevor Ihr dem Stadthauptmann Ratschläge erteilt, heilt erst einmal die Kranken«, sagte der Priester,»dann werden wir glauben, daß die Götter des Fünften Berges mit Euch sind.«Elia erinnerte sich an die Worte des Engels in der Nacht: Nur die Kraft gewöhnlicher Menschen würde ihm gestattet sein.

»Die Kranken bitten um Hilfe«, beharrte der Priester.»Wir warten alle.«»Zuvor laßt uns den Krieg verhindern. Es wird noch mehr Gebrechliche und Kranke geben, wenn uns das nicht gelingt.«Da schaltete sich der Stadthauptmann ein.

»Elia wird mit uns gehen. Er ist von den Göttern erleuchtet.«Obwohl er nicht glaubte, daß es Götter auf dem Fünften Berg gab, brauchte der Stadthauptmann einen Verbündeten, der ihm dabei half, das Volk davon zu überzeugen, daß ein Friede mit den Assyrern der einzige Weg war.

Auf dem Weg zum Kommandanten meinte der Priester zu Elia:»Ihr glaubt nichts von dem, was Ihr gesagt habt.«»Ich glaube, daß der Friede der einzige Weg ist. Doch ich glaube nicht, daß auf dem Gipfel des Berges Götter wohnen.

Ich war dort.«»Und was habt Ihr gesehen?«»Einen Engel des Herrn. Ich habe diesen Engel schon zuvor an anderen Orten, durch die ich gekommen bin, gesehen«, entgegnete Elia.»Und es gibt nur einen Gott.«Der Priester lachte.

»Soll das heißen, daß Eurer Meinung nach derselbe Gott den Sturm und das Getreide geschaffen hat, obwohl dies vollkommen verschiedene Dinge sind?«»Seht Ihr den Fünften Berg?«fragte Elia.»Von allen Seiten sieht er anders aus, obwohl es immer derselbe Berg ist. So ist es mit allem, was geschaffen wurde: viele Gesichter des einen Gottes.«Sie stiegen auf die Stadtmauer hinauf, von wo aus man in der Ferne das feindliche Lager sah. Im wüstenartigen Tal sprangen die weißen Zelte ins Auge.

Vor einiger Zeit, als die Wachen die Anwesenheit der Assyrer am Taleingang meldeten, hatten Späher gesagt, es seien nur Kundschafter. Der Kommandant hatte vorgeschlagen, sie gefangenzunehmen und als Sklaven zu verkaufen. Der Stadthauptmann hatte sich für eine andere Strategie entschieden – nichts zu tun. Er setzte darauf, daß sich ein neuer Markt für die in Akbar hergestellten Glaswaren erschließen würde, wenn man gute Beziehungen zu ihnen aufbauen könnte. Selbst wenn sie nur dort waren, um einen Krieg vorzubereiten, so wußten die Assyrer durchaus, daß die kleinen Städte immer auf der Seite der Sieger waren. Daher lag den assyrischen Generälen nur daran, auf dem Weg nach Tyrus und Sidon ungehindert durchzumarschieren. Denn das waren die Städte, welche Schätze und Wissen bargen.

Die Patrouillen hatten am Taleingang kampiert, und ganz allmählich war Verstärkung nachgerückt. Der Priester behauptete zu wissen warum: Die Stadt besaß einen Brunnen, den einzigen Brunnen im Umkreis mehrerer Tagesreisen durch die Wüste. Wenn die Assyrer Tyrus und Sidon erobern wollten, dann brauchten sie dieses Wasser für ihre Soldaten.

Am Ende des ersten Monats hätte man sie noch vertreiben können; am Ende des zweiten Monats hätte man sie noch leicht besiegen und einen ehrenvollen Rückzug mit den assyrischen Truppen aushandeln können.

Sie warteten auf die Schlacht, doch niemand griff an. Am Ende des fünften Monats hätte man die Assyrer noch zurückwerfen können. >Sie werden bald angreifen, denn sie haben sicher Durst<, dachte der Stadthauptmann. Er bat den Kommandanten, eine Abwehrstrategie auszuarbeiten und seine Leute kampfbereit zu halten, damit sie auf einen Überraschungsangriff reagieren könnten.

Doch er selbst konzentrierte sich auf die Vorbereitung des Friedens.

Ein halbes Jahr war bereits verstrichen, und das assyrische Heer hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Die Anspannung in Akbar, die während der ersten Wochen der Besetzung gewachsen war, hatte ganz und gar nachgelassen. Die Leute kehrten zu ihrem gewohnten Leben zurück, die Bauern gingen auf ihre Felder, die Handwerker machten Wein, Glas und Seife, die Kaufleute verkauften und kauften ihre Waren. Da Akbar seine Feinde nicht angriff, glaubten alle, daß die Krise schon bald mit Verhandlungen behoben würde. Alle wußten, daß der Stadthauptmann von den Göttern bestimmt worden war und immer wußte, was am besten zu tun sei.

Als Elia in die Stadt kam, hatte der Stadthauptmann Gerüchte über den Fluch ausstreuen lassen, den der Fremde mit sich brachte. So konnte er, im Falle einer akuten Kriegsgefahr, den Fremden zum Sündenbock für alles Unheil machen, das über die Stadt hereinbrach. Die Bewohner Akbars wären bestimmt leicht davon zu überzeugen, daß mit dem Tod des Israeliten das Universum wieder ins Gleichgewicht kam. Der Stadthauptmann brauchte dann nur zu erklären, daß es nun zu spät sei, die Assyrer zum Abzug zu bewegen, Elia töten zu lassen und seinem Volk zu erklären, daß der Friede die beste Lösung sei. Die Kaufleute, die ebenfalls den Frieden wollten, würden das Volk auf ihre Seite bringen.

Die ganzen Monate hatte er sich gegen den Priester und den Kommandanten gestemmt, die einen umgehenden Angriff forderten. Die Götter des Fünften Berges hatten ihn indes noch nie verlassen. Jetzt, nach der Wiedererweckung der vorangegangenen Nacht, war Elias Leben wichtiger als seine Hinrichtung.

»Was hat dieser Fremde an Eurer Seite zu suchen?«fragte der Kommandant.

»Er wurde von den Göttern erleuchtet«, antwortete der Stadthauptmann.»Und er wird uns helfen, die beste Lösung zu finden.«Schnell wechselte er das Thema.

»Es scheinen heute noch mehr Zelte zu sein.«»Und morgen noch viel mehr«, sagte der Kommandant.

»Hätten wir sie vernichtet, als es nur eine Patrouille war, wären sie wahrscheinlich nie zurückgekommen.«»Ihr irrt. Einer von ihnen wäre uns bestimmt entwischt, und dann wären sie wiedergekommen, um sich zu rächen.«»Wenn wir die Ernte aufschieben, verfaulen die Früchte«, beharrte der Kommandant.»Wenn wir aber die Probleme aufschieben, wachsen sie immer weiter.«Der Stadthauptmann erklärte, daß nunmehr seit drei Jahrhunderten Friede in Phönizien herrschte und das Volk sehr stolz darauf sei. Was würden kommende Generationen sagen, wenn er diese Ära des Wohlstandes abbrach?

»Schickt einen Emissär, um mit ihnen zu verhandeln«, sagte Elia.»Der beste Krieger ist der, dem es gelingt, sich seinen Feind zum Freund zu machen.«»Wir wissen nicht genau, was sie vorhaben. Wir wissen nicht einmal, ob sie unsere Stadt erobern wollen. Wie sollen wir da verhandeln?«»Es gibt bedrohliche Anzeichen. Ein Heer vertut nicht seine Zeit damit, fern seiner Heimat militärische Übungen zu machen.«Jeden Tag kamen mehr Soldaten – und der Stadthauptmann überlegte sich, wieviel Wasser all diese Männer wohl brauchten. In kürzester Zeit würde die Stadt dem feindlichen Heer schutzlos ausgeliefert sein.

»Können wir jetzt angreifen?«fragte der Priester den Kommandanten.

»Ja, das können wir. Wir werden viele Männer verlieren, doch die Stadt wird gerettet werden. Aber wir müssen uns schnell entscheiden.«»Das sollten wir nicht tun, Stadthauptmann. Die Götter des Fünften Berges haben mir gesagt, daß uns noch Zeit bleibt, um eine friedliche Lösung zu finden«, rief Elia. Und der Stadthauptmann tat so, als gebe er ihm recht und als ginge ihn die Auseinandersetzung zwischen dem Priester und dem Israeliten nichts an. Ihm war es gleichgültig, ob Sidon und Tyrus von Phöniziern, den Kanaanitern oder Assyrern regiert wurden.

Wichtig war allein, daß die Stadt weiterhin ihre Erzeugnisse verkaufen konnte.

»Greifen wir an«, beharrte der Priester.

»Einen Tag noch«, bat der Stadthauptmann.»Vielleicht findet sich noch eine Lösung.«Er würde schnell entscheiden müssen, wie der Bedrohung durch die Assyrer am besten zu begegnen war. Er stieg von der Mauer herab und bat den Israeliten, ihn zum Palast zurückzubegleiten.

Unterwegs beobachtete er das Volk um ihn herum: die Hirten, die ihre Schafe in die Berge führten, die Bauern, die auf die Felder gingen, wo sie dem trockenen Boden Nahrung für sich und ihre Familien abzutrotzen versuchten. Soldaten übten mit ihren Lanzen, und einige vor kurzem eingetroffene Kaufleute boten ihre Waren auf dem Marktplatz feil. So unglaublich es auch scheinen mochte: Die Assyrer hatten die Straße nicht geschlossen, die das ganze Tal durchschnitt. Die Kaufleute waren immer noch mit ihren Waren unterwegs und zahlten der Stadt Wegzoll.

»Warum schließen sie die Straße nicht, obwohl sie eine gewaltige Streitmacht zusammengezogen haben?«wollte Elia wissen.

»Das assyrische Reich braucht die Erzeugnisse, die in den Häfen von Sidon und Tyrus ankommen«, antwortete der Stadthauptmann.»Die Lieferungen würden unterbrochen, wenn die Kaufleute bedroht werden. Und die Folgen wären schlimmer als eine militärische Niederlage. Es muß eine Möglichkeit geben, den Krieg zu verhindern.«»Ja«, sagte Elia.»Wenn sie Wasser haben wollen, könnten wir es verkaufen.«Der Stadthauptmann sagte nichts. Doch er begriff, daß er den Israeliten als Waffe gegen die benutzen konnte, die den Krieg wollten. Er war auf den Gipfel des Fünften Berges gestiegen und hatte den Göttern getrotzt. Und wenn der Priester weiter darauf beharren würde, gegen die Assyrer zu kämpfen, wäre Elia der einzige, der ihm die Stirn bieten könnte. Er schlug vor, miteinander einen Spaziergang zu machen, damit sie sich etwas unterhielten.

Der Priester blieb oben stehen und beobachtete den Feind.

»Was können die Götter tun, um die Invasoren aufzuhalten?«fragte der Kommandant.

»Ich habe vor dem Fünften Berg Opfer gebracht. Ich habe gebeten, sie möchten uns ein mutigeres Oberhaupt schicken.«»Wir sollten es halten wie Isebel und die Propheten töten. Ein einfacher Israelit, der gestern noch zum Tode verurteilt war, wird heute vom Stadthauptmann dazu benutzt, das Volk von der Notwendigkeit eines Friedens zu überzeugen.«Der Kommandant blickte auf den Berg.

»Wir könnten jemanden dingen, der Elia tötet. Und meine Krieger dazu benutzen, den Stadthauptmann aus den Regierungsgeschäften zu vertreiben.«»Ich werde befehlen, Elia zu töten«, antwortete der Priester.

»Was den Stadthauptmann betrifft, sind uns die Hände gebunden: Seine Familie ist seit Generationen an der Macht.

Sein Großvater war unser Stadthauptmann, der die Macht der Götter an seinen Vater weitergegeben hat, der sie wiederum an seinen Sohn weitergab.«»Nur weil die Tradition uns untersagt, einen fähigeren Mann an seine Stelle zu setzen?«»Die Tradition ist dazu da, die Ordnung der Welt zu erhalten.

Wenn wir daran rühren, endet die Welt.«Der Priester blickte um sich. Himmel und Erde, Berge und Tal, jedes Ding erfüllte, was für es bestimmt war. Manchmal zitterte der Boden, ein andermal – wie jetzt ‑regnete es lange nicht.

Doch die Sterne blieben an ihrem Platz, und die Sonne war den Menschen nicht auf den Kopf gefallen. Alles weil seit der Sintflut die Menschen gelernt hatten, daß an die Ordnung der Schöpfung nicht gerührt werden durfte.

Einstmals hatte es nur den Fünften Berg gegeben. Menschen und Götter hatten zusammengelebt, waren in den schönen Gärten des Paradieses gelustwandelt, hatten miteinander geredet und gelacht. Doch die Menschen hatten gesündigt und die Götter hatten sie von dort vertrieben. Da es nichts gab, wohin sie sie schicken konnten, hatten sie rings um den Berg die Erde erschaffen, wo sie sie aussetzen, überwachen und dafür sorgen konnten, daß sie nie vergaßen, daß sie den Bewohnern des Fünften Berges weit unterlegen waren.

Sie sahen jedoch davon ab, den Menschen die Tür auf ewig zu verschließen. Wenn die Menschheit auf dem Pfad der Tugend wandelte, würde sie eines Tages wieder auf den Gipfel des Berges zurückkehren. Damit dieser Gedanke nicht vergessen wurde, beauftragten die Götter die Priester und die Regierenden damit, sie in der Vorstellung lebendig zu erhalten.

Alle Völker teilten denselben Glauben: Wenn die von den Göttern gesalbten Familien sich von der Macht entfernten, waren die Folgen katastrophal. Niemand erinnerte sich mehr daran, weshalb diese Familien erwählt worden waren, doch alle wußten, daß sie mit den göttlichen Familien verwandt waren.

Akbar bestand schon Hunderte von Jahren, und immer hatte die Familie des Stadthauptmanns regiert. Es war oftmals eingenommen und von Diktatoren und Barbaren beherrscht worden, doch immer waren die Invasoren mit der Zeit entweder von selbst wieder gegangen oder vertrieben worden. Die alte Ordnung wurde wiederhergestellt, und die Menschen führten ihr Leben weiter wie zuvor.

Es war die Pflicht der Priester, diese Ordnung aufrechtzuerhalten: Die Welt besaß ein Schicksal und unterlag Gesetzen. Die Zeit, in der man versuchte, die Götter zu verstehen, war längst vorüber. Jetzt herrschte das Zeitalter, in dem sie respektiert wurden und alles getan wurde, was sie wollten. Sie waren launisch und leicht zu erzürnen.

Ohne die Ernterituale gab die Erde keine Früchte. Ohne die entsprechenden Opfer wurde die Stadt von tödlichen Krankheiten heimgesucht. Wenn man den Wettergott reizte, hörten Getreide und Menschen auf zu wachsen.

»Sieh den Fünften Berg«, sagte der Priester zum Kommandanten.»Von seinem Gipfel aus beherrschen die Götter das Tal und beschützen uns. Sie haben einen ewigen Plan für Akbar. Der Fremde wird getötet werden oder in sein Land zurückkehren, der Stadthauptmann wird eines Tages sterben, und sein Sohn wird weiser sein als er. Was wir jetzt erleben, geht vorüber.«»Wir brauchen einen neuen Stadthauptmann«, sagte der Kommandant.»Verbleiben wir in den Händen dieses Mannes, werden wir alle zerstört werden.«Der Priester wußte, daß dies der Götter Wille war, um der Bedrohung durch die Schrift von Byblos ein Ende zu bereiten.

Doch er sagte nichts. Er freute sich, weil er wieder einmal feststellte, daß die Regierenden immer das Schicksal des Universums erfüllten – ob sie wollten oder nicht.

Elia spazierte durch die Stadt, erklärte dem Stadthauptmann seine Friedenspläne und wurde zu dessen Helfer ernannt. Als sie in der Mitte des Platzes angelangt waren, näherten sich erneut Kranke, doch er sagte, daß die Götter vom Fünften Berge ihm untersagt hätten, zu heilen. Gegen Abend kehrte er in das Haus der Witwe zurück. Das Kind spielte mitten auf der Straße, und er dankte dafür, das Werkzeug für ein Wunder des Herrn gewesen zu sein.

Sie erwartete ihn zum Abendessen. Zu seiner Überraschung stand Wein auf dem Tisch.

»Die Leute haben Geschenke für Euch gebracht, um Euch eine Freude zu machen«, sagte sie.»Und ich möchte Euch um Vergebung bitten, daß ich so ungerecht war.«»Inwiefern ungerecht?«wunderte sich Elia.»Seht Ihr denn nicht, daß alles zum Ratschluß Gottes gehört?«Die Witwe lächelte, ihre Augen leuchteten, und er bemerkte, wie schön sie war. Sie war mindestens zehn Jahre älter als er, doch er empfand eine tiefe Zärtlichkeit für sie. Es war ein ungewohntes Gefühl und es machte ihm angst. Er erinnerte sich an Isebels Augen und seine Bitte an Gott, ihm eine Libanesin zur Frau zu geben.

»Obwohl mein Leben unnütz war, habe ich zumindest meinen Sohn. Und seine Geschichte wird nie vergessen werden, denn er kam aus dem Reich der Toten zurück«, sagte die Frau.

»Euer Leben ist nicht unnütz. Ich kam auf Geheiß des Herrn nach Akbar, und Ihr habt mich aufgenommen. Wenn die Geschichte Eures Sohnes nicht vergessen werden wird, so wird gewiß auch Eure Geschichte nicht vergessen werden.«Die Frau füllte die beiden Gläser. Sie tranken auf die Sonne, die sich verbarg, und auf die Sterne am Himmel.

»Ihr kamt aus einem fernen Land, folgtet den Zeichen eines Gottes, den ich nicht kannte. Doch jetzt ist Er auch mein Herr.

Mein Sohn ist aus einem fernen Land zurückgekommen, und er wird seinen Enkeln eine schöne Geschichte zu erzählen haben.

Die Priester werden seine Worte aufnehmen und sie an die kommenden Generationen weitergeben.«Die Städte kannten ihre Geschichte, ihre Eroberungen, ihre alten Götter, die Krieger, die das Land mit ihrem Blut verteidigt hatten, aus der Überlieferung der Priester. Auch wenn es jetzt neue Formen gab, um die Vergangenheit festzuhalten, war die Erinnerung der Priester das einzige, an das die Bewohner von Akbar glaubten. Jeder kann schreiben, was er will, doch niemand kann sich an etwas erinnern, das es nie gegeben hat.

»Und was werde ich zu erzählen haben?«fuhr die Frau fort.

»Ich habe weder Isebels Macht noch ihre Schönheit. Mein Leben gleicht den anderen. Meine Heirat wurde von meinen Eltern arrangiert, als ich noch ein Kind war. Die Hausarbeit, als ich erwachsen wurde, die Riten an den heiligen Tagen, der Ehemann, der immer anderweitig beschäftigt war. Solange er lebte, haben wir nie über etwas Wichtiges gesprochen. Er lebte für seine Geschäfte, und ich kümmerte mich um den Haushalt, und so haben wir die besten Jahre unseres Lebens verbracht.

Nach seinem Tode blieben mir nur die Armut und die Erziehung meines Sohnes. Wenn er erwachsen ist, wird er über die Meere fahren, und ich werde für niemanden mehr wichtig sein. Ich habe weder Haß noch Groll, ich bin mir nur meiner Nutzlosigkeit bewußt.«Elia schenkte sich ein zweites Glas ein. Sein Herz begann Alarmsignale auszusenden. Es gefiel ihm, bei dieser Frau zu sein. Die Liebe konnte eine erschreckendere Erfahrung sein, als vor einem Soldaten Ahabs zu stehen, der mit einem Pfeil auf sein Herz zielte. Wenn der Pfeil ihn traf, war er tot. Wenn ihn jedoch die Liebe träfe, müßte er die Folgen tragen.

>Ich habe mich immer nach Liebe gesehnt<, dachte er. Doch jetzt, wo er sie vor sich hatte – und er hatte sie vor sich, alles was er tun mußte, war, nicht vor ihr Reißaus zu nehmen –, überlegte er nur, wie er sie so schnell wie möglich vergessen könnte.

Seine Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, an dem er in Akbar angekommen war. Nach seinem Exil am Bach Krith war er so müde und durstig gewesen, daß er sich an nichts erinnern konnte außer an den Augenblick, als er aus seiner Ohnmacht erwachte und sie sah, wie sie seine Lippen mit Wasser benetzte. Sein Gesicht war ihrem sehr nah gewesen, so nah wie nie zuvor in seinem Leben dem Gesicht einer Frau. Ihm war aufgefallen, daß sie die gleichen grünen Augen wie Isebel hatte, nur daß ihr Glanz anders war, als könnten sie die Zedern widerspiegeln, den Ozean, von dem er immer geträumt und den er noch nie gesehen hatte, ja sogar seine eigene Seele.

>Ich würde ihr das so gern sagen<, dachte er. >Doch ich weiß nicht wie. Es ist einfacher, von der Liebe Gottes zu sprechen.< Elia trank noch ein wenig. Sie bemerkte, daß etwas, was sie gesagt hatte, ihm nicht gefallen hatte, und beschloß daher das Thema zu wechseln.

»Ihr seid auf den Fünften Berg gestiegen?«Er nickte.

Sie hätte ihn gern gefragt, was er dort oben gesehen hatte und wie es ihm gelungen war, dem himmlischen Feuer zu entgehen.

Doch er fühlte sich sichtlich unbehaglich.

>Er ist ein Prophet. Er liest in meinem Herzens dachte sie.

Seit der Israelit in ihr Leben getreten war, hatte sich alles verändert. Sogar die Armut war leichter zu ertragen, denn dieser Fremde hatte etwas in ihr geweckt, das sie zuvor nicht gekannt hatte: die Liebe. Als ihr Sohn krank geworden war, hatte sie gegen ihre ganze Nachbarschaft gekämpft, um den Fremden bei sich im Haus zu behalten.

Sie wußte, daß für ihn von allem, was unter dem Himmel geschah, der Herr am wichtigsten war. Ihr war bewußt, daß er ein unerreichbarer Traum war, denn dieser Mann vor ihr konnte jeden Moment weggehen, Isebels Blut vergießen und niemals zurückkehren, um ihr zu berichten, was geschehen war.

Dennoch würde sie ihn weiter lieben, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren hatte, was Freiheit war. Sie konnte ihn lieben, selbst wenn er es niemals erfahren sollte. Sie brauchte nicht seine Erlaubnis, um sich nach ihm zu sehnen, den ganzen Tag an ihn zu denken, ihn zum Abendessen zu erwarten und sich zu ängstigen, was für ein Komplott wohl gegen ihn im Gange war.

Dies war die Freiheit: fühlen, was ihr Herz begehrte, egal was die anderen davon halten mochten. Sie hatte schon mit Freunden und Nachbarn über die Anwesenheit des Fremden in ihrem Hause gekämpft. Gegen sich selbst brauchte sie nicht zu kämpfen.

Elia trank etwas Wein, entschuldigte sich und ging in sein Zimmer. Sie trat hinaus, freute sich an ihrem Sohn, der vor dem Hause spielte, und beschloß, einen kurzen Spaziergang zu machen.

Sie war frei, denn die Liebe befreit.

Elia starrte lange auf die Wand in seinem Zimmer. Dann endlich beschloß er, seinen Engel anzurufen.

»Meine Seele ist in Gefahr«, sagte er.

Der Engel schwieg. Elia wußte nicht recht, ob er das Gespräch fortsetzen sollte, doch nun war es bereits zu spät: Er konnte ihn nicht grundlos anrufen.

»Wenn ich vor dieser Frau stehe, fühle ich mich nicht wohl.«»Ganz im Gegenteil«, antwortete der Engel.»Und das macht dich unsicher. Du könntest sie am Ende lieben.«Elia schämte sich, weil der Engel seine Seele kannte.

»Die Liebe ist gefährlich«, sagte er.

»Sehr gefährlich«, antwortete der Engel.»Und wenn schon!«Dann verschwand er.

Sein Engel war nicht von den Zweifeln geplagt, die seine Seele bestürmten. Ja, er kannte die Liebe. Er hatte gesehen, wie der König von Israel seinen Gott wegen Isebel aufgegeben hatte, wegen einer Prinzessin aus Sidon, die sein Herz erobert hatte.

Die Tradition berichtete, daß König Salomo seinen Thron wegen einer fremdländischen Frau verloren hatte. König David hatte einen seiner besten Freunde in den Tod geschickt, weil er sich in seine Frau verliebt hatte.

Dalilas wegen war Samson gefangengenommen worden und hatten die Philister ihm die Augen ausgestochen.

Wie konnte er da die Liebe nicht kennen? Die Geschichte war voll von tragischen Beispielen, auch unter seinen Freunden – und den Freunden seiner Freunde –, die nächtelang gewartet und gelitten hatten. Hätte er in Israel eine Frau, so hätte er seine Stadt kaum verlassen, als es ihm der Herr befahl, und er wäre jetzt tot.

>Ich kämpfe eine nutzlose Schlacht<, dachte er. >Die Liebe wird diesen Kampf gewinnen, und ich werde sie bis ans Ende meiner Tage lieben. Herr, schick mich wieder zurück nach Israel, damit ich dieser Frau niemals sagen muß, was ich für sie empfinde. Denn sie liebt mich nicht und wird mir sagen, daß ihr Herz mit dem ihres heldenhaften Mannes begraben wurde.< Am folgenden Tag traf sich Elia wieder mit dem Kommandanten. Er erfuhr, daß noch einige Zelte mehr aufgebaut worden waren.

»Wie groß ist jetzt die Anzahl der Krieger?«fragte er.»Einem Feind von Isebel gebe ich keine Auskunft.«»Ich bin Berater des Stadthauptmanns«, entgegnete Elia.»Er hat mich gestern nachmittag zu seinem Gehilfen ernannt, und Ihr wißt es, und daher schuldet Ihr mir eine Antwort.«Der Kommandant hatte nicht übel Lust, dem Leben des Fremden ein Ende zu bereiten.

»Auf zwei Soldaten der Assyrer kommt einer von uns«, antwortete er schließlich.

Elia wußte, daß der Feind eine viel größere Übermacht brauchte.

»Wir nähern uns dem idealen Augenblick, um die Friedensverhandlungen zu beginnen«, sagte er.»Sie werden uns für großmütig halten, und wir werden bessere Bedingungen aushandeln können. Jeder General weiß, daß zur Eroberung einer Stadt fünf Angreifer auf einen Verteidiger nötig sind.«»Sie werden diese Zahl noch erreichen, wenn wir nicht sofort angreifen.«»Selbst ihrer Versorgungseinheit gelingt es nicht, ausreichend Wasser für so viele Männer zu beschaffen. Und da kommt der Moment, in dem wir unsere Unterhändler losschicken können.«»Und wann genau ist das?«»Wir werden die Anzahl der assyrischen Krieger noch etwas anwachsen lassen. Wenn die Lage unerträglich wird, sind sie gezwungen anzugreifen, doch dann wird auf drei oder vier von ihnen ein Soldat von uns kommen. Und sie wissen, daß sie geschlagen werden. Dann werden unsere Emissäre den Frieden, den freien Durchzug und den Verkauf von Wasser anbieten. So stellt es sich der Stadthauptmann vor.«Der Kommandant sagte nichts und ließ den Fremden gehen.

Selbst wenn Elia tot war, konnte der Stadthauptmann auf dieser Idee beharren, und der Kommandant schwor sich, den Stadthauptmann dann zu töten. Danach würde er Selbstmord begehen, um dem Zorn der Götter zu entgehen.

Einstweilen würde er es auf gar keinen Fall zulassen, daß sein Volk vom Geld verraten würde.

»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte Elia immer und immer wieder, wenn er nachmittags durch das Tal wanderte.

»Laß nicht zu, daß mein Herz hier in Akbar gefangengehalten wird.«Einem Brauch der Propheten folgend, den er aus seiner Kindheit kannte, geißelte er sich jedesmal, wenn er an die Witwe dachte. Von der Peitsche waren seine Schultern bald nur noch rohes Fleisch, und er fiel zwei Tage lang in ein fiebriges Delirium. Als er wieder erwachte, war das erste, was er sah, das Gesicht der Frau. Sie behandelte seine Wunden, rieb sie mit Olivenöl ein. Da er zu schwach war, um in den Wohnraum hinunterzusteigen, brachte sie ihm sein Essen hinauf.

Sobald er wieder gesund war, nahm er seine Wanderungen im Tal wieder auf.

»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte er erneut.»Mein Herz ist schon in Akbar gefangen, doch mein Körper kann die Reise noch antreten.«Der Engel erschien. Es war nicht der Engel des Herrn, den er oben auf dem Berg gesehen hatte, sondern sein Schutzengel, an dessen Stimme er schon gewohnt war.

»Der Herr erhört die Gebete derer, die den Haß vergessen wollen. Doch sein Ohr ist taub für die, die der Liebe entrinnen wollen.«Sie nahmen das Abendessen immer zu dritt ein. Wie der Herr versprochen hatte, mangelte es nie an Mehl im Topf und an Öl im Krug.

Während der Mahlzeiten wurde nur selten gesprochen. An einem Abend jedoch fragte der Junge:»Was ist ein Prophet?«»Jemand, der immer dieselben Stimmen hört, die er schon als Kind gehört hat. Und der noch an sie glaubt. So kann er erfahren, was die Engel denken.«»Ja, ich weiß, wovon Ihr redet«, sagte der Junge.»Ich habe Freunde, die niemand sonst sieht.«»Vergiß sie nie, auch wenn die Erwachsenen sagen, daß dies Unsinn sei. So wirst du immer wissen, was Gott will.«»Ich werde die Zukunft kennen wie die Weissager von Babylon«, sagte der Junge.

»Die Propheten kennen die Zukunft nicht. Sie geben nur die Worte wieder, die ihnen der Herr im Augenblick eingibt.

Deshalb bin ich hier, ohne zu wissen, wann ich in mein Land zurückkehre. Er wird es mir nicht sagen, bevor es notwendig ist.«Die Augen der Frau trübten sich. Ja, eines Tages würde er gehen.

Elia rief den Herrn nicht mehr an. Er hatte beschlossen, daß er die Witwe und ihren Sohn mit sich nehmen würde, wenn der Augenblick kam, Akbar zu verlassen. Er würde nichts darüber sagen, bis die Stunde gekommen war.

Vielleicht wollte sie ja gar nicht weggehen. Vielleicht hatte sie gar nicht gespürt, was er für sie empfand – schließlich hatte er selbst lange gebraucht, es zu begreifen. In dem Fall könnte er sich ganz der Vertreibung Isebels und dem Aufbau Israels widmen. Seine Gedanken wären viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß er an Liebe denken könnte.

»Der Herr ist mein Hirte«, sagte er, indem er sich an das alte Gebet König Davids erinnerte.»Er führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Und er wird mich den Sinn meines Lebens nicht verlieren lassen«, schloß er mit eigenen Worten.

Eines Nachmittags, als er früher als gewohnt nach Hause kam, traf er die Witwe auf der Schwelle des Hauses sitzend an.

»Was tut Ihr?«»Ich habe nichts zu tun«, antwortete sie.

»Dann lernt etwas. Zur Zeit haben viele Menschen ihr Leben aufgegeben. Sie langweilen sich nicht, sie weinen nicht, sie lassen nur die Zeit verstreichen. Sie nehmen die Herausforderungen des Lebens nicht an, und das Leben fordert sie nicht mehr heraus. Ihr lauft diese Gefahr. Tut etwas, stellt Euch dem Leben, gebt Euch nicht auf.«»Mein Leben hat wieder einen Sinn erhalten«, sagte sie, und blickte zu Boden.»Seit Ihr gekommen seid.«Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er, daß er ihr sein Herz öffnen konnte. Doch er beschloß, es nicht zu riskieren – sie meinte sicher etwas ganz anderes.

»Tut etwas, unternehmt etwas«, sagte er, indem er das Thema wechselte.»So wird die Zeit zu Eurem Verbündeten und nicht zu Eurem Feind.«»Was könnte ich lernen?«Elia überlegte kurz.

»Die Schrift von Byblos. Sie wird nützlich sein, wenn Ihr eines Tages reisen müßt.«Die Frau beschloß, sich mit Herz und Seele diesem Studium zu verschreiben. Sie hatte nie daran gedacht, Akbar zu verlassen, doch so wie er redete, könnte es bedeuten, daß er sie mit sich nehmen wollte.

Sie fühlte sich abermals frei. Wieder erwachte sie im Morgengrauen und ging lächelnd durch die Straßen der Stadt.

»Elia lebt immer noch«, sagte zwei Monate später der Kommandant zum Priester.»Du hast es nicht geschafft, ihn umzubringen.«»Es gibt in ganz Akbar keinen Mann, der sich dafür hergibt. Der Israeli! hat die Kranken getröstet, die Gefangenen besucht, die Hungernden gespeist. Wenn jemand einen Streit mit dem Nachbarn hat, kommt er zu ihm, und alle nehmen seinen Richtspruch an, weil er gerecht ist. Der Stadthauptmann benutzt ihn im stillen, um seine eigene Beliebtheit zu vergrößern.«»Die Kaufleute wollen keinen Krieg. Wenn der Stadthauptmann weiterhin so beliebt ist und es ihm sogar gelingt, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ein Frieden vorzuziehen ist, gelingt es uns niemals, die Assyrer von hier zu vertreiben. Daher muß Elia sterben.«Der Priester wies auf den Fünften Berg, dessen Gipfel wie immer in Wolken gehüllt war.

»Die Götter werden nicht zulassen, daß ihr Land von einer fremden Macht erniedrigt wird. Sie werden schon etwas tun: Es wird irgend etwas geschehen, und das werden wir uns zunutze machen.«»Was denn?«»Ich weiß es nicht. Aber ich werde die Zeichen aufmerksam beobachten. Gebt keine genauen Informationen über die Zahl der fremden Soldaten heraus. Wenn Euch jemand fragt, sagt einfach, das Verhältnis sei immer noch vier zu eins. Und laßt Eure Truppen weiter üben.«»Warum soll ich das tun? Wenn das Verhältnis fünf zu eins steht, sind wir verloren.«»Nein: Wir wären gleich stark. Wenn die Schlacht stattfinden sollte, werdet Ihr nicht gegen einen unterlegenen Feind kämpfen, und man wird Euch nicht für einen Feigling halten, der die Schwächeren mißbraucht. Das Heer von Akbar wird sich einem Gegner stellen, der genauso mächtig ist wie es selbst.

Und es wird die Schlacht gewinnen, weil sein Kommandant die bessere Strategie entwickelt haben wird.«Bei seiner Eitelkeit gepackt, willigte der Kommandant in den Vorschlag ein. Und von diesem Augenblick an begann er dem Stadthauptmann und Elia Informationen zu verheimlichen.

Weitere zwei Monate vergingen. Eines Morgens hatte das assyrische Heer das Verhältnis von fünf zu eins erreicht. Es konnte jeden Augenblick angreifen.

Seit einiger Zeit schon hatte Elia das ungute Gefühl, daß der Kommandant log, was die Kräfte des feindlichen Heeres betraf, doch letztlich würde sich das zu seinen Gunsten auswirken: Wenn das Verhältnis seinen kritischen Punkt erreicht haben würde, wäre es einfach, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß der Friede die einzige Lösung sei.

Er dachte darüber nach, als er sich zu der Stelle des Marktplatzes begab, an dem er einmal in der Woche den Bewohnern half, ihre Streitigkeiten zu schlichten. Im allgemeinen waren es Nichtigkeiten: Streit zwischen Nachbarn, alte Leute, die keine Steuern mehr zahlen wollten, Kaufleute, die glaubten, bei ihren Geschäften benachteiligt zu werden.

Der Stadthauptmann war auch anwesend. Er pflegte hin und wieder zu erscheinen, um ihm zuzuschauen. Die Abneigung, die Elia gegen ihn gehegt hatte, war gewichen, und der Stadthauptmann entpuppte sich als ein weiser Mann, dem daran gelegen war, Konflikte schon im Vorfeld zu lösen – wenngleich er nicht an die spirituelle Welt glaubte und sich sehr davor fürchtete zu sterben. Mehr als einmal hatte er seine Autorität ins Spiel gebracht, um einer Entscheidung von Elia die Kraft eines Urteils zu verleihen. Manchmal war er auch mit einem Richtspruch nicht einverstanden gewesen, und im nachhinein hatte Elia dem Stadthauptmann recht geben müssen.

Akbar wurde allmählich zu einer phönizischen Musterstadt. Der Stadthauptmann hatte ein gerechteres Steuersystem geschaffen, die Straßen in der Stadt verbessert, er wußte die Einnahmen, die die Stadt aus den Steuern auf die Waren erhielt, klug zu verwalten. Es gab eine Zeit, da hatte ihn Elia gebeten, das Trinken von Wein und Bier zu verbieten, weil die meisten Streitigkeiten, die er zu schlichten hatte, von Betrunkenen ausgelöst worden waren. Der Stadthauptmann hatte jedoch eingewandt, so etwas gehöre zum Leben einer Stadt und es hätte immer geheißen, daß die Götter sich freuten, wenn die Menschen sich nach einem Arbeitstag vergnügten, und daß sie die Betrunkenen beschützten. Zudem sei die Region berühmt dafür, weltweit einen der besten Weine herzustellen. Und die Fremden würden mißtrauisch werden, wenn man in Akbar den eigenen Wein verschmähte.

Elia respektierte die Entscheidung des Stadthauptmanns und stimmte mit ihm darin überein, daß fröhliche Menschen mehr produzieren.

»Ihr braucht Euch nicht so sehr zu mühen«, sagte der Stadthauptmann, bevor Elia sich an die Arbeit dieses Tages machte.»Ein Helfer hilft der Regierung nur mit seiner Meinung.«»Ich habe Heimweh und möchte gern in mein Land zurück.

Doch solange ich mich hier nützlich mache, kann ich vergessen, daß ich hier fremd bin«, entgegnete er. >Und ich kann meine Liebe zu ihr besser unter Kontrolle behalten<, dachte er bei sich.

Das Gericht des Volkes hatte ein zahlreiches und aufmerksames Publikum bekommen. Die Leute strömten herbei: Viele alte Leute waren darunter, die nicht mehr draußen auf den Feldern arbeiten konnten und nun herkamen, um die Richtsprüche Elias abwechselnd zu beklatschen und auszubuhen; andere waren am Schiedsspruch direkt interessiert, weil er entweder Profit oder einen Verlust für sie bedeutete; auch Frauen und Kinder fanden sich ein, die keine Arbeit hatten und so die Zeit totschlugen.

Elia legte kurz die Fälle dar, die an diesem Morgen anstanden: Der erste Fall war der eines Hirten, der von einem Schatz träumte, welcher in der Nähe der Pyramiden versteckt lag, und der Geld brauchte, um dahin zu gelangen. Elia war nie in Ägypten gewesen, doch er wußte, daß es weit weg lag, und sagte dem Hirten, daß er die Mittel für die Reise kaum zusammenbekommen würde – es sei denn, er verkaufte seine Schafe und bezahlte den Preis für seinen Traum: Dann würde er ganz gewiß finden, was er suchte. Anschließend kam eine Frau, die die magischen Künste Israels lernen wollte. Elia sagte, er sei kein Meister der Magie, sondern nur ein Prophet.

Er war gerade dabei, eine gütliche Lösung für einen Streit zwischen zwei Bauern zu finden, von denen der eine die Frau des anderen verflucht hatte, als ein Soldat sich durch die Menge drängte und sich schweißgebadet an den Stadthauptmann wandte:»Einer Patrouille ist es gelungen, einen Spion zu fangen«, keuchte der Soldat.»Er wird gerade hierhergeführt.«Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Es war das erste Mal, daß sie einen solchen Prozeß miterleben würden.

»Tötet ihn«, rief jemand.»Tod dem Feind!«Johlender Beifall von allen Seiten. In Windeseile hatte sich die Nachricht in der ganzen Stadt verbreitet, und alles strömte auf den Platz. Die nächsten Fälle konnten nicht mehr richtig angehört und behandelt werden. Ständig gab es Zwischenrufe, die forderten, man möge den Fremden sogleich vorführen.

»Über solch einen Fall kann ich nicht richten«, verwahrte sich Elia.»Das ist Sache der Behörden von Akbar.«»Was wollen die Assyrer hier eigentlich?«rief einer.»Sehen die denn nicht, daß wir hier seit vielen Generationen in Frieden leben?«»Warum wollen sie unser Wasser haben?«rief ein anderer.

»Warum bedrohen sie unsere Stadt?«Seit Monaten wagte niemand mehr, öffentlich über die Anwesenheit des Feindes zu sprechen. Obwohl alle sahen, wie die Zelte am Horizont immer mehr wurden, obwohl die Kaufleute drängten, die Friedensverhandlungen sofort zu beginnen, weigerte sich das Volk von Akbar zu glauben, daß ihnen eine Invasion drohte. Kriege – vereinzelte harmlose Scharmützel mit unbedeutenden Stämmen ausgenommen – gab es nur in der Erinnerung der Priester. Sie sprachen von einem Land namens Ägypten, in dem es Pferde und Kampfwagen und Götter in Tiergestalt gab. Doch dies war alles vor langer Zeit geschehen, Ägypten war kein bedeutendes Land mehr, und die dunkelhäutigen Krieger mit ihrer fremdartigen Sprache waren in ihre Heimat zurückgekehrt. Jetzt beherrschten die Bewohner von Tyrus und Sidon die Meere und dehnten ihr Reich auf die ganze Welt aus; obwohl sie erfahrene Krieger waren, hatten sie eine neue Art des Kampfes entdeckt: den Handel.

»Warum sind sie so erregt?«fragte der Stadthauptmann Elia.

»Weil sie begreifen, daß sich etwas verändert hat. Ihr wißt genausogut wie ich, daß die Assyrer nun jeden Augenblick angreifen können. Ihr wißt genausogut wie ich, daß uns der Kommandant in bezug auf die Stärke der feindlichen Truppen die ganze Zeit belogen hat.«»Aber er wird doch nicht so verrückt sein, dies jemandem zu erzählen. Er würde Panik hervorrufen.«»Jeder Mensch spürt, wann er in Gefahr ist. Er reagiert ganz eigen darauf, er hat Vorahnungen, fühlt, daß etwas in der Luft liegt. Und er versucht, sich etwas vorzumachen, weil er nicht glaubt, der Situation gewachsen zu sein. Bis eben noch haben alle versucht, sich etwas vorzumachen, doch irgendwann kommt der Augenblick, in dem man der Wahrheit ins Gesicht blicken muß.«Der Priester kam heran.

»Laßt uns zum Palast gehen und den Rat von Akbar einberufen. Der Kommandant ist schon auf dem Weg.«»Tut es nicht«, flüsterte Elia dem Stadthauptmann warnend zu.

»Sie werden Euch zwingen zu tun, was Ihr nicht wollt.«»Laßt uns gehen«, sagte der Priester zum zweiten Mal.»Ein Spion wurde gefangen, und es müssen dringende Maßnahmen getroffen werden.«»Laß ihn vor dem Volke richten«, flüsterte Elia.»Sie werden Euch helfen, denn sie wollen den Frieden, obwohl sie den Krieg fordern.«»Bringt diesen Mann hierher«, verlangte der Stadthauptmann.

Die Menge brach in Freudengeschrei aus. Zum ersten Mal würden sie eine Sitzung des Rates erleben.

»Das können wir nicht tun!«sagte der Priester.»Dies ist eine heikle Angelegenheit, die in Ruhe vonstatten gehen muß.«Einige Buhrufe. Viele Protestrufe.

»Bringt ihn hierher«, wiederholte der Stadthauptmann.»Und ihm wird hier inmitten des Volkes der Prozeß gemacht werden.

Wir arbeiten alle zusammen daran, Akbar zu einer blühenden Stadt zu machen – und wir werden gemeinsam über das befinden, was uns bedroht.«Der Beschluß wurde mit Applaus begrüßt. Eine Gruppe von Soldaten aus Akbar näherte sich, die einen blutüberströmten, halbnackten Mann mit sich schleppten. Er mußte zuvor heftig geschlagen worden sein.

Der Lärm verstummte, und eine drückende Stille legte sich auf das Publikum, unterbrochen nur vom Grunzen der Schweine und vom Lachen der Kinder, die am anderen Ende des Platzes spielten.

»Warum habt Ihr das mit dem Gefangenen gemacht?«herrschte der Stadthauptmann sie an.

»Er hat sich gewehrt«, antwortete einer der Wächter.»Er sagte, er sei kein Spion, sondern hierhergekommen, um mit Euch zu sprechen.«Der Stadthauptmann ließ drei Stühle aus seinem Palast bringen. Seine Diener brachten den Richtermantel, den er anlegte, wenn der Rat von Akbar zusammentrat.

Er und der Priester setzten sich. Der dritte Stuhl war für den Kommandanten bestimmt.

»Hiermit erkläre ich feierlich das Gericht von Akbar für eröffnet.

Die Ältesten mögen näher treten.«Eine Gruppe betagter Männer trat zu den beiden und stellte sich im Halbkreis hinter die drei Stühle. Das war der Ältestenrat. Einstmals war ihr Ratschluß befolgt worden, inzwischen jedoch war ihre Rolle rein formell und bestand darin, die Entscheidungen des Stadthauptmanns zu bestätigen.

Der Stadthauptmann brachte zuerst die rituellen Formalitäten hinter sich – die Götter vom Fünften Berg wurden angerufen, die Namen der legendären Helden von Akbar feierlich verlesen –, dann wandte er sich an den Gefangenen.

»Was wollt Ihr?«fragte er.

Der Gefangene gab keine Antwort, musterte ihn nur unverhohlen, wie von gleich zu gleich.

»Was wollt Ihr?«beharrte der Stadthauptmann.

Der Priester berührte seinen Arm.

»Wir brauchen einen Dolmetscher. Er spricht unsere Sprache nicht.«Einer der Wächter wurde beauftragt, einen Kaufmann zu holen, der für sie dolmetschen sollte. Die Kaufleute nahmen nie an Elias Sitzungen teil, da sie zu sehr mit ihren Geschäften beschäftigt waren und damit, ihren Gewinn zu zählen.

Während sie warteten, flüsterte der Priester dem Stadthauptmann zu:»Sie haben den Gefangenen geschlagen, weil sie sich fürchteten. Erlaubt, daß ich diese Verhandlung führe, und sagt nichts. Panik macht nur alle aggressiv, und wenn wir nicht die nötige Autorität zeigen, könnte uns die Situation entgleiten.«Der Stadthauptmann schwieg. Auch er fürchtete sich. Er suchte Elia mit den Augen, doch von dort, wo er saß, konnte er ihn nicht sehen.

Ein Kaufmann wurde gewaltsam von einem Wächter herbeigeführt. Er beschwerte sich beim Gericht, er sei sehr beschäftigt und könne hier nicht seine Zeit vertun. Doch der Priester blickte ihn nur streng an und gebot ihm, ruhig zu sein und das Gespräch zu übersetzen.

»Was wollt Ihr hier?«fragte der Stadthauptmann.

»Ich bin kein Spion«, sagte der Mann.»Ich bin einer der Generäle des Heeres. Ich bin gekommen, um mit Euch zu sprechen.«Das Publikum, das zuerst totenstill gewesen war, begann hemmungslos zu schreien, sobald der Satz übersetzt worden war. Sie bezichtigten den Assyrer der Lüge und forderten die sofortige Todesstrafe.

Der Priester bat um Ruhe und wandte sich an den Gefangenen.

»Was wolltet Ihr bereden?«»Es heißt, der Stadthauptmann sei ein weiser Mann«, sagte der Assyrer.»Wir wollen diese Stadt nicht zerstören. Wir sind an Tyrus und Sidon interessiert. Doch Akbar liegt auf halbem Weg und kontrolliert dieses Tal. Wenn wir kämpfen müssen, werden wir Zeit und Männer verlieren. Ich bin gekommen, um einen Vertrag abzuschließen.«>Der Mann spricht die Wahrheit<, dachte Elia. Er bemerkte, daß er von einer Gruppe Soldaten umzingelt war, die ihm die Sicht auf die Stelle versperrten, an der der Stadthauptmann saß.»Er denkt genau wie wir. Der Herr hat ein Wunder getan und wird dieser gefährlichen Lage ein Ende bereiten.«Der Priester erhob sich und rief dem Volk zu:»Seht ihr? Sie wollen uns kampflos vernichten!«»Fahrt fort«, sagte der Stadthauptmann.

Wieder schaltete sich der Priester ein:»Unser Stadthauptmann ist ein guter Mann, der kein Blut vergießen will. Doch wir befinden uns im Krieg, und der Gefangene, der hier vor euch steht, ist ein Feind!«»Er hat recht!«schrie jemand aus dem Publikum.

Elia merkte, daß er sich geirrt hatte. Der Priester wiegelte das Publikum auf, während der Stadthauptmann nur Recht sprechen wollte. Er versuchte sich zu nähern – doch ein Soldat stieß ihn an und packte ihn am Arm.

»Ihr wartet hier. Schließlich war das ja Eure Idee.«Elia blickte sich um: Es war der Kommandant, und er lächelte.

»Wir können auf Euren Vorschlag nicht eingehen«, fuhr der Priester fort, während er sein Gefühl in Gesten und Worte fließen ließ.»Wenn wir uns zu Verhandlungen bereit erklären, zeigen wir nur, daß wir Angst haben. Und das Volk von Akbar ist mutig. Es kann jeder Invasion widerstehen.«»Dieser Mann will Frieden«, sagte der Stadthauptmann, indem er sich an die Menge wandte.

Jemand sagte:»Die Kaufleute wollen Frieden. Die Priester wollen Frieden. Die Regierenden verwalten den Frieden. Doch das Heer will nur eins: Krieg!«»Seht ihr denn nicht, daß wir der religiösen Bedrohung durch Israel ohne Krieg begegnen?«rief der Stadthauptmann aus.

»Wir schicken keine Soldaten, keine Schiffe, sondern Isebel.

Jetzt beten sie Baal an, ohne daß wir einen einzigen Mann an der Kriegsfront opfern mußten.«»Die Assyrer haben keine schöne Frau geschickt, sondern ihre Krieger!«rief der Priester noch lauter.

Das Volk verlangte den Tod des Assyrers. Da packte der Stadthauptmann den Priester am Arm.

»Setzt Euch«, sagte er.»Ihr geht zu weit.«»Die Idee mit dem öffentlichen Richtspruch war Eure Idee.

Oder besser gesagt, die Idee des verräterischen Israeliten, der hier anstelle des Stadthauptmanns von Akbar zu bestimmen scheint.«»Um ihn kümmere ich mich später. Jetzt müssen wir erfahren, was der Assyrer will. Viele Generationen hindurch haben die Menschen versucht, ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen. Sie sagten, was sie wollten, es war ihnen gleichgültig, was das Volk dachte, und alle diese Reiche wurden am Ende zerstört. Unser Volk ist gewachsen, weil es gelernt hat zuzuhören. Indem wir hörten, was der andere wollte, und alles daransetzten, um es ihm zu verschaffen, haben wir den Handel entwickelt. Und das Ergebnis ist der Gewinn.«Der Priester wiegte das Haupt.

»Eure Worte erscheinen weise, doch gerade dadurch sind sie gefährlich. Wenn Ihr Unsinn geredet hättet, wäre es einfach zu beweisen, daß Ihr Unrecht habt. Doch Eure Behauptungen sind irreführend.«Nun mischten sich die Leute in der ersten Reihe in den Streit ein. Bis zu jenem Augenblick hatte der Stadthauptmann immer auf die Meinung des Rates gehört, und Akbar hatte einen ausgezeichneten Ruf. Tyrus und Sidon hatten Botschafter geschickt, die sich ansehen sollten, wie die Stadt verwaltet wurde. Sein Name kam sogar dem König zu Ohren, und mit ein wenig Glück würde er seine Tage als Minister bei Hofe beenden.

Seine Autorität war öffentlich in Frage gestellt worden, und wenn er sich nicht wehrte, verlöre er die Achtung des Volkes und könnte dann wichtigere Entscheidungen erst recht nicht durchsetzen.

»Fahrt fort«, sagte er zum Gefangenen; geflissentlich übersah er die wütenden Blicke des Priesters und befahl dem Dolmetscher, seine Frage zu übersetzen.

»Ich bin gekommen, um Euch einen Handel vorzuschlagen«, sagte der Assyrer.»Ihr laßt uns durchziehen und wir werden gegen Tyrus und Sidon marschieren. Wenn diese Städte geschlagen sind – und das werden sie ganz sicher, weil der größte Teil ihrer Krieger sich auf den Schiffen befindet und sich um den Handel kümmert –, werden wir uns Akbar gegenüber großzügig zeigen. Und werden Euch als Stadthauptmann belassen.«»Seht Ihr?«sagte der Priester und erhob sich wieder.»Sie denken, unser Stadthauptmann würde die Ehre Akbars für ein Amt aufs Spiel setzen!«Ein zorniges Murren ging durch die Menge. Dieser halbnackte, verwundete Gefangene wollte ihnen seinen Willen aufzwingen!

Ein geschlagener Mann schlug der Stadt vor, sich zu ergeben!

Einige Männer erhoben sich und bewegten sich drohend auf ihn zu. Die Wachen hatten alle Mühe, sie in ihre Schranken zu weisen.

»Wartet!«sagte der Stadthauptmann und versuchte, die anderen zu überschreien.»Vor uns steht ein schutzloser Mann, der uns keine angst machen kann. Wir haben ein ausgezeichnet gerüstetes Heer und tapfere Krieger. Wir müssen niemandem etwas beweisen. Wenn wir beschließen zu kämpfen, gewinnen wir die Schlacht auch, doch nur unter großem Verlust.«Elia schloß die Augen und betete darum, daß es dem Stadthauptmann gelingen möge, das Volk zu überzeugen.

»Unsere Vorfahren haben uns vom ägyptischen Großreich erzählt. Doch diese Zeit ist längst vorbei«, fuhr er fort.»Jetzt kehren wir ins Goldene Zeitalter zurück. Warum sollten wir mit dieser Tradition brechen? Die modernen Kriege werden auf der Ebene des Handels geführt und nicht mehr auf den Schlachtfeldern.«Ganz allmählich beruhigte sich die Menge. Es sah aus, als hätte der Stadthauptmann es geschafft. Als der Lärm verebbte, wandte er sich an den Assyrer.

»Was Ihr vorschlagt, reicht nicht. Ihr müßt die Steuern zahlen, die auch die Kaufleute zahlen, wenn sie durch unser Land ziehen.«»Glaubt mir, Stadthauptmann: Ihr habt keine Wahl«, entgegnete der Gefangene.»Wir haben genügend Männer, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen und alle Bewohner zu töten. Ihr lebt seit langem schon im Frieden und wißt nicht mehr, wie man kämpft, während wir gerade die Welt erobern.«Das zornige Murren schwoll wieder an. >Jetzt nur keine Unsicherheit zeigen<, hoffte Elia inständig. Doch es war schwierig, mit dem Assyrer zu verhandeln, der selbst als Gefangener noch seine Bedingungen stellte. Ständig kamen mehr Menschen herbei. Elia bemerkte, daß die Kaufleute ihre Arbeit liegenlassen und sich zu den Zuschauern gesellt hatten; besorgt verfolgten sie, wie sich die Dinge entwickelten. Der Prozeß hatte eine gefährliche Wendung genommen.

Date: 2015-09-25; view: 205; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ; Ïîìîùü â íàïèñàíèè ðàáîòû --> ÑÞÄÀ...



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