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Tifereth 15 page





»Ingeniöse Erklärung. Aber sie taugt soviel wie die Konjektur von Ardenti.«

»Bis hierher, ja. Aber nun stell dir vor, du machst mehr als nur eine Konjektur, und alle zusammen stützen sich gegenseitig. Dann bist du doch schon viel sicherer, dass du richtig geraten hast, oder? Ich bin von einem Verdacht ausgegangen. Die Wörter, die Ingolf hier zum Chiffrieren benutzt hat, sind nicht die, die Trithemius vorschlägt. Sie sind zwar im selben assyrisch‑babylonisch‑kabbalistischen Stil gehalten, aber es sind nicht dieselben. Dabei hätte Ingolf, wenn er nach Wörtern mit den für seine Zwecke nötigen Anfangsbuchstaben suchte, bei Trithemius so viele gefunden, wie er wollte. Warum hat er andere gewählt?«

»Warum?«

»Vielleicht brauchte er auch bestimmte Buchstaben an der zweiten, dritten, vierten Stelle im Wort. Vielleicht wollte unser ingeniöser Ingolf eine multicodierte Botschaft konstruieren, vielleicht wollte er besser sein als Trithemius. Trithemius schlägt vierzig größere Kryptosysteme vor; in dem einem zählen nur die Anfangsbuchstaben, im andern der erste und der letzte, im dritten abwechselnd der erste und der letzte und so weiter, so dass du mit ein bisschen gutem Willen auch noch hundert andere Systeme erfinden kannst. Was nun die zehn kleineren Kryptosysteme angeht, hatte der Oberst nur das erste berücksichtigt, das einfachste von allen. Aber die anderen funktionieren alle nach dem Prinzip des zweiten, von dem ich dir hier eine Kopie gemacht habe, schau her. Du musst dir den inneren Alphabetkreis als eine drehbare Scheibe vorstellen, die du so drehen kannst, dass das A mit jedem beliebigen Buchstaben des äußeren Kreises zusammentrifft. Du hast also ein System, in dem das A mit X wiedergegeben wird, das B mit Z und so weiter, ein anderes, in dem das A mit U wiedergegeben wird, das B mit X und so weiter... Bei zweiundzwanzig Buchstaben in jedem Kreis kommst du nicht bloß auf zehn, sondern auf einundzwanzig Chiffriersysteme, und unbrauchbar ist nur das zweiundzwanzigste, in dem das A mit dem A zusammentrifft... «

 

Chiffrierscheiben

 

aus Trithemius, Clavis Steganographiae, Frankfurt a. M. 1606

 

»Jetzt sag mir nicht, du hättest für jeden einzelnen Buchstaben jedes einzelnen Wortes alle einundzwanzig Systeme durchprobiert!«

»Ich hab eben Grips im Kopf und Glück gehabt. Da die kürzesten Wörter sechs Buchstaben haben, können nur die ersten sechs wichtig sein, und der Rest steht bloß zur Verschönerung da. Warum sechs Buchstaben? Ich hab mir gedacht, vielleicht hat Ingolf jeweils den ersten chiffriert, dann einen übersprungen und den dritten chiffriert, dann zwei übersprungen und den sechsten chiffriert. Wenn er zum Chiffrieren der ersten Buchstaben das erste System genommen hat, wie wir ja wissen, hat er vielleicht das zweite für die dritten genommen, also hab ich die Drehscheibe Nummer zwei bei den dritten probiert, und es hat einen Sinn ergeben. Dann habe ich die Drehscheibe Nummer drei für die jeweils sechsten Buchstaben probiert, und es hat gleichfalls einen Sinn ergeben. Ich schließe nicht aus, dass Ingolf noch weitere Buchstaben chiffriert hat, aber drei Beweise genügen mir, wenn du willst, kannst du's ja weiter probieren.«

»Jetzt spann mich nicht so auf die Folter. Was ist herausgekommen?«

»Schau dir den Text noch mal an, ich hab die Buchstaben, auf die es ankommt, unterstrichen, also in jedem Wort den ersten, dritten und sechsten.«

Kuabris Defrabox Rexulon Ukkazaal Ukzaab Urpaefel Taculbain Habrak Hacoruin Maquafel Tebrain Hmcatuin Rokasor Himesor Argaabil Kaquaan Docrabax Reisaz Reisabrax Decaiquan Oiquaquil Zaitabor Quaxaop Dugraq Xaelobran Disaeda Magisuan Raitak Huidal Uscolda Arabaom Zipreus Mecrim Cosmae Duquifas Rocarbis

»Also, die erste Botschaft kennen wir schon, es ist die mit den sechsunddreißig Unsichtbaren in sechs Gruppen. Jetzt hör zu, was rauskommt, wenn man die jeweils dritten Buchstaben mit Hilfe der Drehscheibe Nummer zwei ersetzt: chambre des desmoiselles, l'aiguille creuse. «

»Aber das kenne ich, das ist... «

» En aval d'Etretat – La Chambre des Desmoiselles – Sous le Fort du Fréfossé – Aiguille Creuse. Das ist die Botschaft, die Arsene Lupin entziffert, als er das Geheimnis der ›Hohlen Nadel‹ entdeckt. Du erinnerst dich: bei Etretat am Ärmelkanal ragt aus dem Meer die Aiguille Creuse, eine ausgehöhlte, innen bewohnbare Felsenspitze, eine natürliche Festung, die Geheimwaffe Cäsars, als er Gallien eroberte, und später der Könige von Frankreich. Die Quelle der ungeheuren Macht des Meisterdiebes Arsene Lupin. Und du weißt, dass die Lupinologen ganz närrisch sind wegen dieser Geschichte, sie pilgern nach Etretat, sie suchen nach anderen geheimen Gängen, sie anagrammatisieren jedes Wort von Leblanc... Ingolf war ein Lupinologe, so wie er ein Rosicruciologe war, und folglich hat er chiffriert, was das Zeug hält.«

»Aber meine Diaboliker könnten immer noch sagen, die Templer hätten eben das Geheimnis der Hohlen Nadel gekannt, und folglich sei die Botschaft in Provins im vierzehnten Jahrhundert geschrieben worden.«

»Sicher, ich weiß. Aber jetzt kommt die dritte Botschaft. Drehscheibe Nummer drei auf die sechsten Buchstaben angewandt. Hör zu, was rauskommt – merde i'en ai marre de cette steganographie. (Scheiße, ich hab genug von dieser Steganographie.) Und das ist modernes Französisch, die Templer sprachen nicht so. So hat Ingolf gesprochen, der, nachdem er sich erst damit abgeplagt hatte, seine Spinnereien zu chiffrieren, sich nun damit amüsierte, seine ganze Chiffriererei – chiffriert – zum Teufel zu jagen. Und dass er nicht ohne Witz war, siehst du auch daran, dass alle drei Botschaften genau sechsunddreißig Buchstaben haben. Tja, mein armer Pim, Ingolf hat genauso gespielt wie ihr, und dieser Blödmann von Oberst hat ihn ernst genommen.«

»Und wieso ist Ingolf dann verschwunden?«

»Wer sagt dir, dass er umgebracht worden ist? Vielleicht hatte er's satt, in Auxerre zu leben, immer nur den Apotheker und seine altjüngferliche Tochter zu sehen, die den ganzen Tag lang am Jammern war. Vielleicht ist er nach Paris gegangen, hat eins von seinen alten Büchern günstig verkauft, hat eine nette kleine Witwe getroffen und ein neues Leben begonnen. Wie diese Ehemänner, die bloß mal eben Zigaretten holen gehen, und die Frau sieht sie nie wieder.«

»Und der Oberst?«

»Hast du nicht gesagt, dass nicht mal dieser Kriminalkommissar sicher war, dass er umgebracht worden ist? Vielleicht hatte er irgendein faules Ding gedreht, seine Opfer hatten ihn erkannt, und da musste er sich aus dem Staub machen. Vielleicht verkauft er in diesem Moment gerade den Eiffelturm an einen amerikanischen Touristen und nennt sich Dupont.«

Ich konnte mich nicht auf allen Fronten geschlagen geben.»Na schön, wir sind von einer Wäscheliste ausgegangen, aber dann waren wir um so bravouröser. Wir wussten selber, dass wir erfanden. Wir haben gedichtet, wir waren Poeten.«

»Euer Plan ist nicht poetisch. Er ist grotesk. Es kommt den Leuten nicht in den Sinn, nach Troja zurückzukehren und es noch einmal anzuzünden, weil sie Homer gelesen haben. Mit Homer ist der Brand von Troja etwas geworden, was nie gewesen war und nie sein wird und doch immer fortbestehen wird. Die Ilias hat so viele Bedeutungen, weil sie ganz klar ist, ganz durchsichtig. Deine Rosenkreuzer‑Manifeste waren weder klar noch durchsichtig, sie waren ein dunkles Gemurmel und versprachen ein Geheimnis. Deswegen haben so viele versucht, sie wahr werden zu lassen, und jeder hat in ihnen gefunden, was er wollte. Bei Homer gibt es kein Geheimnis. Euer Plan ist voll von Geheimnissen, weil er voll von Widersprüchen ist. Deswegen könntest du Tausende von Unsicheren finden, die sofort bereit wären, sich in ihm wiederzuerkennen. Werft den ganzen Plunder weg. Homer hat nicht simuliert. Ihr habt simuliert. Wehe, wenn du simulierst, alle glauben dir. Die Leute haben Semmelweis nicht geglaubt, als er den Ärzten sagte, sie sollten sich die Hände waschen, bevor sie die Gebärenden anfassen. Er sagte zu simple Sachen. Die Leute glauben dem, der Haarwuchsmittel für Glatzköpfige anpreist. Sie spüren zwar instinktiv, dass er Wahrheiten zusammenkleistert, die nicht zusammenhalten, dass er nicht logisch ist und nicht seriös. Aber man hat ihnen gesagt, Gott sei komplex und unergründlich, und daher empfinden sie Inkohärenz als etwas Gottähnliches. Das Unwahrscheinliche ist dem Wunder am ähnlichsten. Ihr habt ein Haarwuchsmittel für Glatzköpfige erfunden. Das gefällt mir nicht, es ist ein hässliches Spiel.«

Nicht dass diese Geschichte unseren Urlaub in den Bergen ruiniert hätte. Wir haben schöne Spaziergänge gemacht, ich habe seriöse Bücher gelesen, ich war noch nie so viel mit dem Kind zusammen. Aber zwischen Lia und mir war etwas ungesagt geblieben. Einerseits hatte sie mich in die Enge getrieben, und es hatte ihr keinen Spaß gemacht, mich zu demütigen, andererseits war sie nicht überzeugt, mich überzeugt zu haben.

Tatsächlich empfand ich eine gewisse Sehnsucht nach dem Großen Plan, ich wollte ihn nicht wegwerfen, wir hatten zu lange zusammengelebt.

Vor wenigen Tagen bin ich früh aufgestanden, um den einzigen Zug nach Mailand zu nehmen. Und in Mailand bekam ich dann den seltsamen Anruf von Belbo aus Paris und fing diese Geschichte an, die ich noch nicht zu Ende gelebt habe.

Lia hatte recht. Wir hätten früher darüber reden sollen. Aber ich hätte ihr trotzdem nicht geglaubt. Denn ich hatte die Kreation des Großen Plans wie den Moment von Tifereth erlebt, das Herz des Sefiroth‑Leibes, die Eintracht von Regel und Freiheit. Diotallevi hatte mir gesagt, dass Moses Cordovero uns gewarnt hatte:»Wer sich wegen seiner Torah über den Ignoranten erhebt, will sagen über ganze Volk Jahwehs, der bringt Tifereth dazu, sich über Malchuth zu erheben.«Doch was Malchuth ist, das Reich dieser Erde in seiner strahlenden Einfachheit, das begreife ich erst jetzt. Gerade noch rechtzeitig, um die Wahrheit zu erkennen, vielleicht zu spät, um sie zu überleben.

Lia, ich weiß nicht, ob ich dich wiedersehen werde. Wenn es nicht sein soll, ist das letzte Bild, das ich von dir habe, wie du dalagst vor wenigen Tagen, schlaftrunken unter den Decken. Ich küsste dich und bin zögernd hinausgegangen.

 

 

Nezach

 

 

 

 

107

 

 

Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel streifen?... Mir scheint es, dass er magisch leise Schlingen zu künft'gem Band um unsere Füße zieht... Der Kreis wird eng, schon ist er nah!

Faust, I, Vor dem Tor

 

Was während meiner Abwesenheit geschehen war, besonders in den zwei letzten Tagen vor meiner Rückkehr, konnte ich nur aus Belbos files entnehmen. Doch unter denen gab es nur noch einen klaren Text, den letzten vermutlich, den Belbo kurz vor seiner Abfahrt nach Paris geschrieben hatte, damit ich oder jemand anders – zur künftigen Erinnerung – ihn lesen konnte. Die anderen Texte, die er wie üblich wohl nur für sich selbst geschrieben hatte, waren nicht leicht zu verstehen. Nur ich, der ich mittlerweile in die private Welt seiner Bekenntnisse vor Abulafia eingedrungen war, konnte sie einigermaßen entschlüsseln oder wenigstens erraten.

Es war Anfang Juni. Belbo war unruhig. Die Ärzte hatten sich an den Gedanken gewöhnt, dass er und Gudrun die einzigen Angehörigen Diotallevis waren, und hatten sich endlich bereit gefunden, zu reden. Seither antwortete Gudrun auf die Fragen der Hersteller und Korrektoren nur noch, indem sie die Lippen tonlos zu einem kurzen Wort schürzte die Art, wie man die tabuisierte Krankheit benennt.

Gudrun ging Diotallevi jeden Tag besuchen, und ich fürchte, sie störte ihn durch ihre vor Mitleid glänzenden Augen. Er wusste Bescheid, aber er schämte sich bei dem Gedanken, dass die anderen Bescheid wussten. Er konnte nur mühsam sprechen.»Das Gesicht ist ganz Backenknochen«, hatte Belbo geschrieben. Die Haare fielen ihm aus, aber das lag an der Therapie.»Die Hände sind ganz Finger«, hatte Belbo geschrieben.

Ich glaube, bei einem ihrer mühsamen Gespräche muß Diotallevi ihm schon angedeutet haben, was er ihm dann am letzten Tag sagte. Belbo machte sich bereits klar, dass Identifikation mit dem Plan von Übel war, vielleicht das Übel. Doch vielleicht um den Plan zu objektivieren und in seine rein fiktive Dimension zurückzuversetzen, hatte er sich hingesetzt und ihn aufgeschrieben, Wort für Wort, als handle es sich um die Erinnerungen des Oberst Ardenti. Er erzählte den Plan wie ein Initiierter, der sein letztes Geheimnis mitteilt. Ich glaube, für ihn war es eine Kur: Er erstattete der Literatur zurück, so schlecht sie auch sein mochte, was nicht Leben war.

Am 10. Juni muß dann aber etwas passiert sein, was ihn erschüttert hatte. Die Aufzeichnungen darüber sind konfus, ich behelfe mich mit Konjekturen.

Lorenza hatte ihn, scheint es, gebeten, mit ihr im Auto an die Riviera zu fahren, wo sie bei einer Freundin vorbeischauen und etwas abholen musste, was weiß ich, ein Dokument, eine notarielle Urkunde, irgendeine Kleinigkeit, die genauso gut mit der Post hätte geschickt werden können. Belbo hatte sofort zugesagt, beglückt von der Idee, einen Sonntag mit ihr am Meer verbringen zu können.

Sie waren an den betreffenden Ort gefahren, ich habe nicht ganz verstanden, wohin genau, vielleicht in die Nähe von Rapallo. Belbos Sätze schilderten Stimmungslagen, nicht Landschaften wurden aus ihnen deutlich, sondern Erregungen, Spannungen, Niedergeschlagenheiten. Lorenza war ihre Besorgung machen gegangen, Belbo hatte solange in einer Bar gewartet, und dann hatte sie ihm vorgeschlagen, zum Mittagessen in ein Fischrestaurant hoch über dem Meer zu gehen.

Von nun an zerfiel die Geschichte in Stücke, ich deduziere sie aus Dialogfetzen, die Belbo ohne Anführungszeichen aneinandergereiht hatte, hastig, als müsste er eine Serie von Epiphanien mitschreiben, bevor sie verblassten. Sie waren so weit hinaufgefahren, wie es ging, hatten das Auto dann stehen lassen und waren zu Fuß weitergegangen, auf einem von diesen schmalen ligurischen Küstenpfaden zwischen Ginstersträuchern am Steilhang, und schließlich hatten sie das Restaurant gefunden. Aber kaum hatten sie Platz genommen, da sahen sie auf dem Tisch nebenan eine Karte stehen, die ihn für Doktor Agliè reservierte.

Na so ein Zufall, muß Belbo gesagt haben. Ein saudummer Zufall, sagte Lorenza, sie wolle nicht, dass Agliè sie hier sehe, hier mit ihm. Warum sie das nicht wolle, was denn so schlimm daran sei, ob Agliè etwa das Recht habe, eifersüchtig zu sein? Was heißt hier Recht, das ist eine Frage des Takts, er hatte mich zum Essen eingeladen für heute, und ich hab gesagt, ich sei leider beschäftigt, und jetzt möchte ich nicht als Lügnerin dastehen. Du stehst nicht als Lügnerin da, du bist wirklich beschäftigt, mit mir nämlich bist du beschäftigt, ist das vielleicht etwas, wofür du dich schämen musst? Schämen nicht, aber du wirst mir schon noch erlauben, meine eigenen Diskretionsregeln zu haben.

Sie hatten das Restaurant verlassen und sich wieder auf den Weg zum Auto hinunter gemacht. Aber plötzlich war Lorenza stehen geblieben, denn sie hatte Leute heraufkommen sehen, die Belbo nicht kannte, Freunde von Agliè, wie sie sagte, von denen sie nicht gesehen werden wollte. Peinliche Situation: sie an das Brüstungsmäuerchen einer kleinen Brücke gelehnt, hoch über einem Olivenhang, mit einer Zeitung vor dem Gesicht, als stürbe sie vor Neugier, zu erfahren, was in der großen weiten Welt vorging, und er zehn Schritte entfernt von ihr, rauchend, als sei er ganz zufällig gerade da.

Agliès Freunde waren vorbeigegangen, aber Lorenza meinte, wenn sie jetzt den Weg weitergingen, würden sie ihm begegnen, sicher sei er schon unterwegs. Zum Teufel, na wenn schon, hatte Belbo geflucht, und Lorenza hatte erwidert, er habe keine Spur von Feingefühl. Lösung: den Weg verlassen und quer durchs Gestrüpp den Hang hinunter zum Parkplatz. Keuchende Flucht über eine Reihe sonnen‑durchglühter Terrassen, und Belbo verlor einen Absatz. Lorenza sagte, siehst du, ist doch viel schöner so, aber natürlich, wenn du weiter so rauchst, kommst du außer Atem.

Schließlich waren sie zum Auto gelangt, und Belbo meinte, nun könnten sie auch gleich nach Mailand zurückfahren. Nein, widersprach Lorenza, vielleicht hat Agliè sich verspätet und nachher begegnen wir ihm auf der Autobahn, er kennt deinen Wagen, schau doch mal, was für ein schöner Tag heute ist, lass uns durchs Innere fahren, da muß es herrlich sein, dann kommen wir drüben zur Autostrada del Sole und essen am Po bei Pavia.

Wieso denn am Po bei Pavia, was heißt denn durchs Innere fahren, es gibt nur eine Möglichkeit, schau dir doch mal die Karte an, wir müssen hinter Uscio in die Berge rauf und dann quer durch den ganzen Apennin, mit Halt in Bobbio, und von da weiter nach Piacenza, bist du verrückt, das ist ja schlimmer als Hannibal mit den Elefanten! Hach, du hast eben keinen Sinn für Abenteuer, hatte sie geantwortet, und denk doch bloß mal, wie viele schöne Restaurants wir auf diesen Hügeln finden. Vor Uscio kommt Manuelina, das hat zwölf Sterne im Michelin, da gibt's jeden Fisch, den wir wollen.

Manuelina war knallvoll, mit einer Schlange von Wartenden, die jeden Tisch belauerten, an dem der Kaffee serviert wurde. Macht nichts, meinte Lorenza, ein paar Kilometer weiter gibt's hundert bessere Lokale als dieses. Um halb drei fanden sie endlich ein Restaurant in einem Kaff, das, wie Belbo meinte, sogar die Militärkarten sich schämen würden zu registrieren, und aßen zerkochte Nudeln mit Büchsenfleisch. Belbo fragte Lorenza, was hinter der Sache stecke, es sei ja doch wohl kein Zufall, dass sie ihn genau dahin geführt habe, wo Agliè hinkommen musste, offenbar wollte sie jemanden provozieren, ihm sei nur nicht klar, wen von beiden, und sie fragte ihn, ob er paranoisch sei.

Hinter Uscio probierten sie einen Pass, und als sie durch ein Dorf fuhren, das den Eindruck machte, als wäre es Sonntagnachmittag in Sizilien, und zwar zur Zeit der Bourbonen, war plötzlich ein großer schwarzer Hund quer über die Straße getrottet, als hätte er noch nie ein Auto gesehen. Belbo hatte ihn mit der vorderen Stoßstange erwischt, es schien nichts weiter zu sein, aber kaum waren sie ausgestiegen, entdeckten sie, dass sein Bauch rot von Blut war, mit seltsamen rosa Sachen (Schamteilen? Eingeweiden?), die herauskamen, und dass er geifernd jaulte. Schon kamen Dörfler gelaufen, es bildete sich ein kleiner Volksauflauf. Belbo fragte, wem der Hund gehöre, er würde den Schaden bezahlen, aber der Hund war offenbar herrenlos. Er mochte vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung dieses gottverlassenen Kaffs repräsentieren, aber niemand wusste, wohin er gehörte, obwohl ihn alle vom Sehen kannten. Jemand meinte, man sollte den Maresciallo der Carabinieri holen, der würde das arme Vieh mit einem Schuss von seinen Leiden befreien.

Man suchte noch nach dem Maresciallo, da erschien eine Dame, die sich als tierlieb bezeichnete. Ich habe sechs Katzen, sagte sie. Wie schön, sagte Belbo, aber dies hier ist ein Hund, er liegt im Sterben, und ich hab's eilig. Hund oder Katze, haben Sie doch ein bisschen mehr Herz für die Tiere, schalt ihn die Dame. Nix da mit dem Maresciallo, man müsse jemanden vom Tierschutzverein holen gehen, oder jemanden aus der Klinik im nächsten Städtchen, vielleicht sei das Tier noch zu retten.

Die Sonne brannte auf Belbo, auf Lorenza, auf das Auto, auf den Hund und die Umstehenden herab und wollte gar nicht mehr aufhören, auf sie herabzubrennen, Belbo kam sich vor wie in einem bösen Traum, als wäre er in Unterhosen auf die Straße gelaufen, aber es gelang ihm nicht aufzuwachen, die Dame gab nicht nach, der Maresciallo war unauffindbar, der Hund blutete weiter und japste mit leisem Gefiepse. Er winselt, sagte Belbo, und die Dame, na sicher, na sicher winselt er, er leidet, der arme Hund, hätten Sie denn nicht auch besser aufpassen können? Das Dorf erlebte allmählich einen demografischen Boom, Belbo, Lorenza und der Hund waren das Spektakel dieses tristen Sonntagnachmittags. Ein kleines Mädchen mit einem Eis am Stiel trat vor und fragte, ob sie die Leute vom Fernsehen wären, die den Wettbewerb um die Miss Appennino Ligure organisierten, Belbo fauchte sie an, sie solle sich wegscheren, sonst würde er sie so zurichten wie den Hund, und das Mädchen fing an zu heulen. Da kam der Gemeindearzt und sagte, das Mädchen sei seine Tochter, und Belbo fragte ihn ahnungslos, wer denn er sei. Bei einem raschen Austausch von Entschuldigungen und gegenseitigem Vorstellungen kam dann heraus, dass der Arzt ein Tagebuch eines Landarztes in dem berühmten Mailänder Verlag Manuzio veröffentlicht hatte. Belbo ging in die Falle und sagte, er sei Cheflektor bei Manuzio, woraufhin der Doktor nun unbedingt wollte, dass er und Lorenza zum Essen blieben. Lorenza schäumte und stieß Belbo den Ellbogen in die Rippen, Herrgott, nachher kommen wir noch in die Zeitung, das diabolische Liebespaar, konntest du nicht das Maul halten?!

Die Sonne brannte noch immer heiß, als die Kirchenglocken zur Vesper läuteten (wir sind in Ultima Thule, knurrte Belbo, sechs Monate Sonne, von Mitternacht bis Mitternacht, und meine Zigaretten sind alle), der Hund litt nur noch still vor sich hin, und niemand achtete mehr auf ihn, Lorenza meinte, er hätte einen Asthma‑Anfall, und Belbo war jetzt sicher, dass der Kosmos ein Irrtum des Demiurgen sein musste. Schließlich hatte er die Idee, sie beide, er und Lorenza, könnten doch mit dem Wagen rasch ins nächste Städtchen fahren, um Hilfe zu holen. Die tierliebe Dame war einverstanden, jaja, sie sollten losfahren und sich beeilen, zu einem Herrn, der in einem Verlag für Poesie arbeitete, hatte sie Vertrauen, auch sie las so gern die Gedichte von Marino Moretti.

Belbo war losgefahren und hatte zynisch die nächste Ortschaft durchquert, ohne anzuhalten, Lorenza verfluchte alle Tiere, mit denen der Herr die Erde befleckt hätte, vom ersten Schöpfungstag bis zum fünften einschließlich, Belbo war einverstanden, wollte jedoch unbedingt auch das Werk des sechsten Tages kritisieren, und vielleicht auch die Ruhe des siebenten, denn er fand, dies sei der schlimmste Sonntag, den er je erlebt habe.

Sie hatten angefangen, den Apennin zu durchqueren, aber während es auf den Karten problemlos aussah, brauchten sie viele Stunden dafür und mussten auf die Pause in Bobbio verzichten und kamen bei Einbruch der Dunkelheit nach Piacenza. Belbo war müde, er wollte mit Lorenza nun wenigstens schön zu Abend essen und nahm ein Doppelzimmer in dem einzigen noch nicht voll besetzten Hotel, nahe am Bahnhof. Als sie in das Zimmer traten, erklärte Lorenza, an so einem Ort werde sie nicht schlafen. Belbo versprach ihr, gleich etwas anderes zu suchen, sie solle ihm nur die Zeit lassen, an der Bar unten rasch einen Martini zu trinken. An der Bar fand er nur einen italienischen Cognac, und als er wieder ins Zimmer kam, war Lorenza nicht mehr da. Er ging an die Rezeption, um nach ihr zu fragen, und da lag eine Nachricht für ihn:»Liebster, ich habe einen prächtigen Zug nach Mailand gefunden. Ich fahre ab. Wir sehen uns nächste Woche.«

Er war zum Bahnhof gelaufen, aber die Gleise waren schon leer. Wie in einem Western.

Er war dann die Nacht über in Piacenza geblieben. Er hatte einen Kriminalroman gesucht, aber auch der Kiosk am Bahnhof war geschlossen. Im Hotel fand er nur eine Illustrierte des Touring Club Italiano.

Zu seinem Unglück gab es in der Illustrierten eine Fotoreportage über die Apenninenpässe, die er soeben überquert hatte. In seiner Erinnerung – verblasst, als wäre ihm die ganze Geschichte vor langer Zeit passiert – waren sie eine sonnenverbrannte, dürre, staubige Erde, übersät mit Steinsplittern. Auf den Hochglanzseiten der Illustrierten waren sie Traumlandschaften, die man sogar zu Fuß wieder aufsuchen würde, um sie Schritt für Schritt noch einmal zu genießen. Das Samoa von Surabaya‑Jim.

Wie kann einer in sein Verderben laufen, bloß weil er einen Hund überfahren hat? Und doch muß es so gewesen sein. In jener Nacht in Piacenza muß Belbo zu dem Schluss gekommen sein, dass er keine weiteren Niederlagen mehr erleiden würde, wenn er sich erneut aus der Realität in den Großen Plan zurückzog, denn im Großen Plan war er es, der entscheiden konnte, wer, wie und wann.

Und es muß in derselben Nacht gewesen sein, dass er beschloss, sich an Agliè zu rächen, auch wenn er nicht genau wusste, warum und wofür. Er nahm sich vor, Agliè in den Großen Plan einzufügen, ohne dass er es merkte. Im übrigen war es ja typisch für Belbo, sich Revanchen zu suchen, deren einziger Zeuge er selber war. Nicht aus Scham, sondern aus Misstrauen in die Zeugenschaft anderer. Wenn es gelang, Agliè in den Großen Plan hineinzulocken, würde er darin vernichtet werden, sich in Rauch auflösen wie der Docht einer Kerze. Irreal werden wie die Templer von Provins, wie die Rosenkreuzer, wie Belbo selbst.

Es kann nicht so schwierig sein, dachte Belbo: wir haben immerhin Bacon und Napoleon auf unser Maß reduziert, warum also nicht auch Agliè? Wir schicken ihn gleichfalls auf die Suche nach der Karte. Von Ardenti und der Erinnerung an ihn habe ich mich befreit, indem ich ihn in eine Fiktion versetzte, die besser als seine war. So mache ich's jetzt auch mit Agliè.

Ich glaube, er glaubte es wirklich, so viel vermag das enttäuschte Verlangen. Dieser sein file endete, wie es nicht anders sein konnte, mit dem Pflichtzitat aller derer, die vom Leben besiegt worden sind: Bin ich ein Gott?

 

108

 

 

What is the hidden influence behind the press, behind all the subversive movements going around us? Are there several Powers at work? Or is there one Power, one invisible group directing all the rest – the circle of the real Initiales?

(Was ist der verborgene Einfluß hinter der Presse, hinter all den subversiven Bewegungen, die uns umgeben? Sind da mehrere Mächte am Werk? Oder ist es eine einzige Macht, eine einzige unsichtbare Gruppe, die alle anderen lenkt – der Kreis der Wahren Initiierten?)

 

Nesta Webster, Secret Societies and Subversive Movements, London, Boswell, 1924, p. 348

 

Vielleicht hätte er sein Projekt vergessen. Vielleicht hätte es ihm genügt, es niedergeschrieben zu haben. Vielleicht wäre alles noch gut ausgegangen, wenn er Lorenza sofort wiedergesehen hätte. Er wäre erneut von seinem Verlangen gepackt worden, und sein Verlangen hätte ihn gezwungen, sich mit dem Leben auf Kompromisse einzulassen. Statt dessen kam am Montag kein anderer als ausgerechnet Agliè in sein Büro hereinspaziert, lächelnd, nach exotischen Eaux‑de‑Cologne duftend, um ihm einige Manuskripte zurückzubringen, die abgelehnt werden konnten, und ihm zu sagen, er habe sie während eines herrlichen Wochenendes an der Riviera gelesen. Belbo wurde wieder von seinem Groll gepackt. Und so beschloss er, Agliè zu narren und ihm den Eiffelturm zu verkaufen.

Mit Verschwörermiene gab er ihm zu verstehen, dass ihn seit über zehn Jahren ein Initiationsgeheimnis bedrücke. Ein Manuskript, das ihm von einem gewissen Oberst Ardenti anvertraut worden sei, der von sich sagte, er sei im Besitz des Welteroberungsplans der Templer... Der Oberst sei dann entführt oder getötet worden und seine Papiere seien verschwunden, doch er habe den Verlag Garamond mit einem Ködertext in der Tasche verlassen, einem gewollt fehlerhaften, fantastischen, geradezu kindischen Text, der nur dazu diente, durchblicken zu lassen, dass er, der Oberst, das Auge auf die echte Botschaft von Provins und die wahren Aufzeichnungen von Ingolf geworfen hatte, nach denen seine Mörder immer noch suchten. Ein schmaler Ordner jedoch, der nur zehn kleine Seiten enthalten habe, und auf diesen zehn kleinen Seiten den wahren Text, den, der sich wirklich unter Ingolfs Papieren befunden habe, der sei in Belbos Händen verblieben.

Date: 2015-12-13; view: 427; Нарушение авторских прав; Помощь в написании работы --> СЮДА...



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